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26.03.2015 08:41 Alter: 9 yrs
Kategorie: Artikel

Wach und kritisch sein

Was macht Dietrich Bonhoeffer so faszinierend? (Die Kirche Nr. 13 vom 29.03.2015, 3)


Am 9. April vor 70 Jahren wurde Dietrich Bonhoeffer im KZ Flossenbürg ermordet. Aus diesem Anlass finden in Deutschland und weltweit eine Fülle von Veranstaltungen statt, die ihn als „Lichtgestalt des Protestantismus“ preisen. Er wird mit Ehrentiteln überschüttet. Sie heißen zum Beispiel: Der „Märtyrer“, der „Heilige“, „der Prophet“, „die Persönlichkeit“, der „Kämpfer“, der „Held“, der „Kluge“, der „Authentische“ und „Glaubwürdige“, der „große Theologe“.

Dergleichen entnehmen wir nicht nur der Werbung, die für den Vertrieb von Bonhoeffer-Texten gemacht wird. Die Millionen Einträge im Internet weisen die Beteiligung von Menschen aus den verschiedensten Weltecken an der Bonhoeffer-Verehrung aus. Darum stoßen immer neue Bonhoeffer-Biographien auf großes Interesse. Es gibt einen Bonhoeffer-Roman und einen Bonhoeffer-Comic. CDs mit „Dokumentarfilmen“, Kalender, Postkarten, Bilderbücher, Sammlungen von „Sinnsprüchen“, Gebeten und Gedichten „für jeden Tag“ werden aus Anlass seines 70. Todestages verstärkt auf den Markt gebracht. Bonhoeffer-Oratorien erheben seinen Lebensweg ins Ästhetische. Ein Video des Films „Bonhoeffer – letzte Stufe“, der von historischen Verzeichnungen wimmelt, wird als „Denkmal eines großen Mannes“ angepriesen.

Ich verdanke der Beschäftigung mit dem Werk und Leben Dietrich Bonhoeffers viel. Doch diese überschwänglichen Töne bereiten mir ein Unwohlsein. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass meine Erstbegegnung mit Bonhoeffer nichts von der Begegnung mit einem „Helden“ an sich hatte. Als ich 1959 aus dem Zuchthaus entlassen wurde, in das man mich wegen „Hetze und staatsgefährdender Propaganda“ gesperrt hatte, schenkte mir mein Vater die DDR-Ausgabe von „Widerstand und Ergebung“. Noch ganz gefangen im bedrückenden Klima einer Zellenexistenz konnte ich dieses Buch damals gar nicht zu Ende lesen.

Als ich dann an der Kirchlichen Hochschule in Ostberlin (dem „Sprachenkonvikt“) studierte und lehrte, habe ich ein paar Häuserecken vom Dorotheenstädtischen Friedhof entfernt gelebt. Dort liegen Klaus Bonhoeffer, Rüdiger Schleicher, Hans John, Friedrich Justus Perels und Albrecht Haushofer begraben; vielmehr sie wurden dort in einem Bombentrichter verscharrt, nachdem sie von der SS in der Nähe des Lehrter Bahnhofs erschossen worden waren. Ich bin oft zu diesem Platz gegangen, an dem ein großer Stein unter einem Eisenkreuz auch an Dietrich Bonhoeffer erinnert. Von daher kann ich mir die Annäherung an das Leben, den Weg und das Werk Dietrich Bonhoeffers gar nicht anders vorstellen als so, dass ich an einem Grabe stehe, welches mir alle aufgeblasenen Töne austreibt. Wer einmal in dem Bunker vor dem KZ Buchenwald gewesen ist, in dem Bonhoeffer auf dem Wege nach Flossenbürg in eine Zelle eingequetscht wurde, wird es ähnlich empfinden.

Und noch etwas anderes kommt hinzu. Im Laufe der Zeit habe ich ziemlich alles kennen gelernt, was Dietrich Bonhoeffer hinterlassen hat. Es ist für mich – wie gesagt – wichtig geworden, besonders unter den Bedingungen der DDR. Dort hatte unterdessen die Einordnung Bonhoeffers in die Reihe der „antifaschistischen Widerstandskämpfer“ begonnen. An der Humboldt-Universität in Berlin wurde Bonhoeffer als ein Vorkämpfer des dialektischen und historischen Materialismus gefeiert. Ich habe eine Veranstaltung in der Humboldt-Universität erlebt, bei der es mich nicht gewundert hätte, wenn man ihn zum Ehrenoffizier der Nationalen Volksarmee ernannt hätte.

Ein Unwille gegenüber der Funktionalisierung des Werkes, des Lebens und des Todes dieses Christen und Theologen hat mich seitdem nicht verlassen. Ich denke, dass wir ihm Unrecht tun, wenn wir ihn in Dimensionen der Unangreifbarkeit erheben, in denen er als eine Art Papst für alles Mögliche in Anspruch genommen wird. Ich habe als Mitherausgeber des Bandes 16 der „Dietrich Bonhoeffer Werke“ Texte von ihm ediert, die mir – ehrlich gesagt –Kopfschütteln bereiten. Sie werden in den Sammlungen seiner „Sinnsprüche“ füglich verschwiegen. Denn wer ist heute noch empfänglich für ein „recht verstandenes Gottesgnadentum der Obrigkeit“? Wer kann einer Predigt etwas abgewinnen, die den Tod für das Vaterland preist? Wer möchte unterschreiben, dass die Bibel nicht in die Hand der Gemeinde gehört? Welche Frau möchte sich in dem patriarchalischen Tone angesprochen wissen, den Bonhoeffer gegenüber seiner 18-jährigen Braut angeschlagen hat?

Das alles ist auch Dietrich Bonhoeffer. Aber dann ist da noch etwas anderes. Ich habe es einmal so ausgedrückt, dass dieser Theologe mit dem, was er als wahr erkannte, immer aufs Ganze gegangen ist. „Keine halben Sachen“ – das ist ein cantus firmus seines Denkens und Lebens gewesen. So begegnet er uns als Pazifist und als Teilnehmer an einer militärischen Verschwörung zum Tyrannenmord. So begegnet er uns als Protagonist einer Klosterexistenz und als Theoretiker eines „religionslosen“ Christentums. So ist er als ein „Konservativer“ eindrücklich und dann wieder als Einer, der die Grenzen der Gewohnheit überschritten hat. Und beide Male hat er ohne Kompromisse gelebt, was er als wahr erkannte.

Vielleicht ist es gerade das, was Menschen heute an ihm fasziniert. Da steht jemand zu seinem Glauben, auch wenn sein Leben in Gefahr gerät. Da ist einer „authentisch“, während es unserer Zeit an Wahrheiten gebricht, für man sein Leben aufs Spiel setzen würde. Im Pluralismus gilt: Alles könnte auch nicht wahr sein. „Ein Stück weit“ ist deshalb ein weit verbreitetes Wort auf unseren Kanzeln. Aber wenn man Bonhoeffer zitiert (und er wird viel zitiert!), dann kommt die Sache zum Stehen. Da haben wir, was uns fehlt, nämlich einen Menschen, dem der Glaube so wertvoll ist, dass er für ihn mit seinem Leben einsteht. An Bonhoeffer fasziniert in unserer pluralistischen Gesellschaft offenkundig viele Menschen gerade das, was sie selbst in einer Zeit, in der die Grundgewissheiten für das Leben zerfasern, nicht sind.

Mir ist angesichts dessen zwiespältig zumute. Denn einerseits freue ich mich, dass eines der Ziele der „Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft“ realisiert wird. Dietrich Bonhoeffer ist heute der weltweit bekannteste deutsche evangelische Theologe der jüngeren Zeit. Ich habe auch nichts dagegen, dass viele Vereinigungen seinen Namen für Bonhoeffer-Häuser, Bonhoeffer-Gymnasien, Bonhoeffer-Kindergärten, Bonhoeffer-Krankenhäuser, Bonhoeffer-Straßen- und Plätze in Anspruch nehmen. Wenn das zum Anstoß wird, sich mit dem „wirklichen“ Bonhoeffer  zu beschäftigen, geht das in Ordnung.

Auf der anderen Seite müssen wir aber auch nüchtern bleiben. Werbegestützte „Bonhoeffer-Faszination“ als Ventil für den Druck der Probleme des religiösen Pluralismus entfernt sich von diesem Theologen, Pfarrer und Christen. Sie droht ihn zu einem Mythos zu machen. „Faszinieren“ heißt im lateinischen Wortsinn „behexen“. Das Kennzeichen des „Behexens“ aber ist, dass es nichts mit Wahrheit, dafür umso mehr mit Herz und Sinne betäubenden Emotionen zu tun hat. Dergleichen sollte nicht auf einen Menschen projiziert werden, der alles in das kritische und Leben spendende Licht der Wahrheit Gottes gestellt hat.

Die Möglichkeit, welche in der breiten Veröffentlichung von Bonhoeffer-Texten schlummert, besteht demgegenüber darin, Menschen zu ermutigen, an der Erkenntnis der Wahrheit mit zu arbeiten, die für Bonhoeffer durchweg den Namen „Jesus Christus“ trug: Gott konkret mitten unter uns Menschen! Das kann hart werden. So leicht, wie Bonhoeffer es dem frommen Gemüt in seinen aus dem Zusammenhang seines Denkens gerissenen „Sinnsprüchen“ zu machen scheint, macht er es uns nirgends. Mit Christus wach und kritisch bleiben – das ist ein Imperativ, den wir aus allen theologischen Arbeiten von Bonhoeffer, aus seinen Predigten, aus seinen Briefen und aus seinem Leben vernehmen können.

Sich mit dem Denken und Wollen dieses Christen und Theologen zu beschäftigen, bedeutet allerdings, sich anspruchsvollen Texten auszusetzen. Sie mogeln nicht im Namen irgendeines religiösen oder politischen Interesses um die Sache des christlichen Glaubens herum. Sie konzentrieren sich darauf, worum es im Zentrum dieses Glaubens geht. Selbst wenn sie zum Widerspruch reizen, ist das so. Ich hoffe, dass nicht Wenige, denen die laufende Bonhoeffer-Werbung im Zeichen des religiösen Allerlei seine Texte ins Haus spült, das auch bemerken. Sie wären dann nicht „fasziniert“, sondern vom Geist der christlichen Wahrheit inspiriert. Solche Menschen braucht unsere Kirche heute. Dietrich Bonhoeffer ging es gerade um sie.