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Opium des Volkes. Was haben Christinnen und Christen Karl Marx zu verdanken?
"Die Kirche" Nr. 18 vom 06. Mai 2018, 5
Im Jahre 1844 schrieb Karl Marx über die die Religion:
„Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. […] Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt. […] Sie ist das Opium des Volks“.
Er folgerte daraus:
„Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.
„Können Christinnen und Christen Marxisten sein“? In der Zeit des „real existierenden Sozialismus“ hat diese Frage viele Menschen in der Kirche bewegt – in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland freilich auf unterschiedliche Weise. In der DDR hieß das: Können wir so Marxisten sein, wie der Marxismus-Leninismus Marx verstand? In der Bundesrepublik aber hieß das im Windschatten der Studentenbewegung von 1968: Wie befördern wir die Weltrevolution, welche die „bürgerliche Gesellschaft“ in eine menschenwürdige „sozialistische Gesellschaft“ verwandelt?
Beide Fragen sind nach 1989 schnell verstummt. Die erste hat sich mit dem Ende des DDR-Sozialismus von selbst erledigt. Die zweite wurde still und leise eingestellt. Ob Christinnen und Christen Marxisten sein können, ist heute keine Frage mehr, welche in der Kirche eine Rolle spielt. Kann der 200. Geburtstag von Karl Marx Anlass sein, sie neu zu stellen?
Immerhin sind die Gründe noch vorhanden, die diese Fragen motivierten. Da ist die weltweite Armut und das Elend von Menschen, das Marx auf die kapitalistische Wirtschaftsweise zurückgeführt hat. Der ihr innewohnende Zwang, ohne Rücksicht auf die Menschen und die Recourcen der Erde immer mehr zu produzieren, besteht fort. Wie dem „Fetisch“ der Ware und des Geldes das Leben von Menschen geopfert wird, kann man bei Marx ebenso lesen wie es uns die Medien heute vor Augen führen.
Marx hat „der Religion“ angelastet, dieses Elend zu verschleiern und zu rechtfertigen. Er hat ihr zwar zugebilligt, dass ihre „phantastischen“ Vorstellungen von einem künftigen Gottesreich des Friedens eine Art Protest gegen die Erniedrigung von Menschen durch Menschen sind. Die wahren Gründe dafür aber vermag die Religion nicht zu erkennen. Diese Gründe haben wirtschaftliche Ursachen.
Marx war nämlich der Überzeugung, dass die Menschheit im Bewirtschaften, das heißt im Bearbeiten der „Natur“ ihr „wahres Wesen“ verwirklicht. Er hat darum eine Weltgeschichte des Arbeitens konstruiert, die erklären sollte, wie es zum „Kapitalismus“ kam, in dem die ganze Gesellschaft – und besonders das „Proletariat“ – diesem wahren Wesen entfremdet wird. Er verstand eine derartige Konstruktion als „historischen Materialismus“, welcher nicht mit dem „dialektischen Materialismus“ zu verwechseln ist. Mit dem begründete der Marxismus-Leninismus den Atheismus, indem er alles Wirkliche auf die Entwicklung der „Materie“ zurückführte. Das Buch „Weltall, Erde, Mensch“, das im Geiste dieses Materialismus in der DDR bei der Jugendweihe verteilt wurde, diente der atheistischen Erziehung.
Marx ging es dagegen um die materielle, von der Arbeit geprägte Gesellschaft, wie sie seit der von ihm erfundenen „Urgesellschaft“ entstanden ist. In ihr hatten alle den gleichen Besitz und verrichteten alle die gleichen Arbeiten. Durch die Arbeitsteilung aber wurden einzelne Produkte zur von den Produzierenden unabhängigen Ware in den Händen der Besitzer der Produktionsmittel. Es entstand die Klasse der Besitzer und der Nichtbesitzenden. Im kommunistischen Manifest von 1848 wird darum die ganze Menschheitsgeschichte als eine Geschichte von Klassenkämpfen zwischen Unterdrückern und Unterdrückten dargestellt, die sich in fünf Phasen vollzog: Die Urgesellschaft, die Sklavenhaltergesellschaft, der Feudalismus, der Kapitalismus und der Kommunismus. In dieser letzten Phase bricht dann für alle ein „Reich der Freiheit“ an. In ihm gehören alle Produktionsmittel allen gemeinsam und alle können ungehindert die Früchte ihrer Arbeit genießen.
In den „Pariser Manuskripten“ von 1844 heißt es: Kein Mensch muss dann mehr „Zwangsarbeit“ zu tun. Er vermag, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu betreiben, nach dem Essen zu kritisieren“, wie jeder „gerade Lust“ hat. So ist der Kommunismus das „aufgelöste Rätsel der Geschichte“, um das sich die Religion vergeblich bemüht.
Die Marx-Forschung ist sich heute einig, dass dies phantasievoller Unfug ist. „Neo-Marxisten“ wie Ernst Bloch und auch Theologen haben dem freilich die Kraft einer gesellschaftsverändernden Utopie zugebilligt. Marx selbst aber wollte kein Utopist sein. Er hat seine Schaffenskraft darauf konzentriert, das „aufgelöste Rätsel der Geschichte“ wirtschaftswissenschaftlich zu begründen.
Seine Idee war, dass der Kapitalismus die Verelendung des Proletariats so weit treiben muss, dass diese Klasse genötigt ist, ihre Ketten durch eine Revolution abzuwerfen. Sie enteignet die Besitzenden und setzt die weltweite Bestimmung der Menschheit zur freien Betätigung ihrer Wesenskräfte in Gang. Mit dem Aufruf „Proletarier aller Länder vereinigt euch“, endet deshalb das „Kommunistische Manifest“ von 1848. Dass die Verwirklichung des Kommunismus in nur einem Land stattfinden könne, wie es dann in der Sowjetunion und in den anderen Ländern des Ostblocks geschah, hatte mit diesem Manifest nichts zu tun. Das Problem einstmals und heute war und ist nur, dass Marx selbst keinen gangbaren Weg gewiesen hat, wie das Weltelend zu überwinden ist und wie die Gesellschaft nach der „Weltrevolution“ realistisch zu organisieren ist.
Er hat sich zwar in seinem fragmentarischen Hauptwerk „Das Kapital“, redlich darum bemüht, zu beweisen, dass der Kapitalismus mit Notwendigkeit scheitern muss. Bewahrheitet hat sich das nicht. Das von ihm aufgestellte, schwer nachvollziehbare Gesetz, dass die Profitrate beim kapitalistischen Wirtschaften tendenziell sinken muss, gilt in der Wirtschaftswissenschaft als abseitig. Es beruht auf der falschen Voraussetzung, dass der Tauschwert einer Ware und damit der Profit der Kapitalisten – solange bis es nicht mehr geht – auf der Ausbeutung der Arbeitszeit der Proletarier beruhe und nicht auf seinem Markterfolg. Im Unterschied dazu hat das kapitalistische Wirtschaften gerade im 19. Jahrhundert beispiellos geboomt. Die riesigen Fabrikanlagen, die am Ende des 19. Jahrhunderts z.B. in Berlin entstanden, führen uns das ja noch heute ebenso vor Augen wie das Aufblühen dieser Stadt, in der auf Grund der Industrialisierung um 1900 vier Millionen Menschen zusammen strömten – mehr also, als heute.
Die Elendsquartiere der Fabrikarbeiter in den Mietskasernen gehörten allerdings fundamental auch dazu. Darum blieb das Anliegen von Karl Marx stark, einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung den Weg zu bereiten. Das war damals wie heute aber nicht anders zu verfolgen als so, dass eine demokratische, auf den Menschenrechten beruhende Gesellschaft der Marktwirtschaft Grenzen setzt; mehr noch, sie nötigt, das Wohl der Menschen zum wesentlichen Faktor von Marktstrategien werden zu lassen.
Die ineffiziente und wenig innovative Planwirtschaft der sozialistischen Staaten, die – angeblich im Sinne von Marx – das Privateigentum in Staatseigentum überführte, hat sich demgegenüber selbst das Grab geschaufelt und ging 1989 pleite. Zur Überwindung des durch die Wirtschaft verursachten Weltelends hat sie so gut wie nichts beigetragen.
Christinnen und Christen in Ost und West haben Marx dennoch die Leidenschaft zu verdanken, sich mit der Erniedrigung von Menschen nicht abzufinden, welche die Marktwirtschaft immer wieder mit sich bringt und die im Zeitalter der Digitalisierung vor ganz neue Herausforderungen stellt. Den ganzen Ballast von unbeweisbaren geschichtsphilosophischen Konstruktionen und irrtümlichen Wirtschaftsanalysen werden sie sich dabei sicherlich nicht auf den Hals laden wollen. Auch die „Weltrevolution“, die heute nur in blutigen Bürgerkriegen bestehen würde, werden sie bestimmt nicht anstreben. Aber die Kritik, „Opium des Volks“ zu sein, werden sie sich zu Herzen nehmen und der Verschränkung des Lebens von Menschen mit der Arbeitswelt für den Sinn ihres Lebens realistisch Rechnung tragen.
Marx selbst hat zwar überhaupt keinen Wert darauf gelegt, Applaus von christlicher Seite zu bekommen. Er war Atheist vom Scheitel bis zur Sohle. Trotzdem hat seine Religionskritik bei vielen Menschen in unserer Kirche Wirkung gezeitigt. Er hat sie darauf gestoßen, die wirtschaftlichen Ursachen für das Weltelend ernst zu nehmen und mit Wort und Tat auf der Seite derer zu stehen, die unter ihnen zu leiden haben.
Beim „Materialdienst“ der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) 4/2018 kann die Langfassung dieses Artikels unter dem Titel „Was bleibt vom Marxismus“? bestellt werden: Auguststraße 80, 10117 Berlin, info(at)ezw-berlin.de.