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03.04.2014 11:10 Alter: 10 yrs
Kategorie: Artikel

Freiheit und Verantwortung der Kirche in der DDR-Zeit

Ein Rückblick 25 Jahre nach dem Mauerfall


 

„Kirche der Freiheit“ hat die Evangelische Kirche in Deutschland ihr Impulspapier aus dem Jahre 2006 genannt, das die Kirche auf die Zukunft hin orientieren wollte. Kann man sie aber auch „Kirche der Freiheit“ nennen, wenn man auf ihre Vergangenheit blickt; zumal auf ihre Vergangenheit in der DDR-Zeit? Wen die „Enthüllungen“ zum Beginn der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts über die Verstrickung von kirchenleitenden und manchen anderen Christinnen und in Christen in das System der Machtausübung der DDR nachhaltig beeindruckt haben, wird vielleicht geneigt sein, diese Frage zu verneinen. „Der Weg in die Anpassung“ hieß eines der Bücher, welches die Kirche in der DDR-Zeit als eine unter dem Druck des atheistischen Weltanschauungsstaates immer unfreier werdende Kirche dargestellt hat. Für diejenigen, die in dieser Kirche 40 Jahre lang für die christliche Botschaft eingetreten sind, stellt sich das trotz der nicht zu bestreitenden und vielfach auch schmerzlichen Phänomene der „Anpassung“ jedoch ziemlich anders dar. Für sie war und blieb die Kirche in der DDR-Zeit ein Ort der Freiheit, an welchem Menschen, auch wenn sie sich wohl oder übel mit dem Machtgebaren einer Diktatur ins Benehmen zu setzen hatten, dem Zugriff dieser Diktatur auf ihr Leben immer schon voraus waren und blieben.

Dieses „Voraus“ zieht sich im Grunde durch alle Etappen des Weges der Kirchen in der DDR-Zeit, die wechselnden Wellen des Druckes durch eine sich allmächtig dünkende Staatspartei ausgesetzt war. Mal war es der unverhüllte, brutale Druck, der Anfang der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts überhaupt auf das Verschwinden der Kirche in der sozialistischen Gesellschaft zielte. Dann wieder war es der schmeichelhaft eingehüllte Druck, welcher bei unverminderter Drangsalierung der Christinnen und Christen der Kirche einzureden versuchte, dass ihre „humanistischen“ Anliegen in der sozialistischen Gesellschaft am besten aufgehoben seien. Mit der im Parteimilieu erfundenen Formel von der „Kirche im Sozialismus“, zu der sich auch der Bund der Evangelischen Kirchen im Jahre 1969 mit der Einschränkung bekannte, sie sei Kirche nicht „gegen oder neben, sondern im Sozialismus“, schien dieses Bestreben ans Ziel gekommen zu sein.

Albrecht Schönherr, der erste Vorsitzende jenes Kirchenbundes, hat es in seiner Biographie im Nachhinein als einen „Fehler“ bezeichnet, dass sich die Kirchen in der DDR auf ihrer institutionellen Ebene auf diese Formel eingelassen haben. Denn im Sinne der Kirche konnte diese Formel nur meinen, dass die Kirche für die Menschen da sein wollte, die in der sozialistischen Gesellschaft leben. Die SED aber strebte ein kritikloses kirchliches Hinnehmen nicht bloß ihres mächtigen Muskelspiels, sondern auch ihrer Ideologie an. Da aber traf sie auf einen höchst unzuverlässigen Kanditen für den angestrebten Frieden von Unterdrückern und Unterdrückten in der sozialistischen Gesellschaft. Denn für die Kirche, die in der Bibel ihre Wurzeln hat, ist die Freiheit ihrer Existenz von den „gottlosen Bindungen dieser Welt“ (Barmen II), zu denen der Zugriff auf eine dem realsozialistischen Gesellschaftsmodell botmäßige Kirche wohl zu rechnen war, das höchste Gut.

„Freiheit“ war denn auch das Grundwort, auf das die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR im Jahre 1963 in den „Zehn Artikeln über Freiheit und Dienst der Kirche“ ihr Selbstverständnis zuspitzte. Nach menschlichem Ermessen war die Kirche nach dem Mauerbau im Jahre 1961 auf unabsehbare Zeit einem von der gewaltigen Militärmacht der Sowjetunion gestützten Machtstaat ausgeliefert. Sie hat angesichts dessen geltend gemacht, dass die Freiheit, zu der Christus befreit, ihr Lebenselexier ist. Sie hat in dieser Freiheit ihre Verantwortung vor Gott als den erstlich und letztlich geltenden Grundsatz aller ihrer Wege und Werke bekannt. Sie hat darum ungeschminkt angesprochen, dass ihre Verantwortung vor Gott sie für ein menschenwürdiges Leben aller Menschen in der sozialistischen Gesellschaft verantwortlich macht und dass sie deshalb nicht schweigen wird, wo der sozialistische Staat dagegen verstößt.

Karl Barth, welcher der Bekennenden Kirche in der Nazizeit mit theologischer Klarheit zur Seite stand, hat diese „Zehn Artikel“ sehr gelobt, aber doch zu bedenken gegeben, dass sie vielleicht etwas „hoffnungsvoller und darum beteiligter“ im Blick auf die Situation der Kirche in der DDR hätten ausfallen sollen. Dem verdankt sich ein Gegenentwurf des Weißenseer Arbeitskreises, einer „kirchlichen Bruderschaft“, zu den „Zehn Artikeln“ aus dem gleichen Jahre. Dieser Gegenentwurf hieß:

„Von der Freiheit der Kirche zum Dienen“. Er gilt nicht erst seit heute als Meilenstein für die Öffnung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR für Rezeption der Formel von der „Kirche im Sozialismus“. Nicht wovon die Kirche frei ist, sondern wozu sie frei ist, ist hier der Grundtenor, wobei eine fragwürdige Inanspruchnahme Dietrich Bonhoeffers eine Rolle spielte. Es wurde nämlich davon ausgegangen, die sozialistische Gesellschaftsordnung sei die „mündige Welt“, die Bonhoeffer in seinen Gefängnisbriefen vor Augen hatte.

Wir wissen heute, dass der Staatssicherheitsdienst der DDR bei der Abfassung der „Sieben Sätze“ des „Weißenseer Arbeitskreises“ seine Hände im Spiel hatte. Viele um die Kirche in dieser Gesellschaft ehrlich besorgte Brüder und Schwestern, die in jenem „Arbeitskreis“ engagiert waren, wurden so genasführt und bemerkten nicht das Staatsinteresse, das hinter der Engführung des christlichen Freiheitsverständnisses stand. Denn „Freiheit“ im biblisch-christlichen Sinne bedeutet niemals nur „Freiheit zu etwas“, sondern an erster Stelle „Freiheit von etwas“, nämlich Freiheit von der Sünde, in der Menschen über Menschen absolut und total bestimmen wollen. „Christus befreit – darum Kirche für andere“, hat Heino Falcke dieses Gefälle des christlichen Freiheitsverständnisses auf der Bundessynode von Dresden im Jahre 1976 eindeutig zum Ausdruck gebracht. Sein Referat durfte in der DDR bis zu ihrem Ende nicht veröffentlicht werden. Denn es atmete gerade die Freiheit, aus der heraus es die Kirche nicht lassen konnte, für einen „verbesserlichen Sozialismus“ einzutreten, der die Menschenwürde und die Menschenrechte seiner Bürgerinnen und Bürger achtet. Dass die Kirche in Freiheit mitreden wollte, wie der Sozialismus zu gestalten sei, war aber das Letzte, was sich die Partei unter der „Kirche im Sozialismus“ vorstellte. Wie alle Diktaturen wollte sie von denen, die sie beherrschte, vor allen Dingen gelobt werden. Ein Witzbold hat die DDR deshalb das Land der „Lobetrotter“ genannt. Dem hat die „Kirche im Sozialismus“ auf der Linie des eng geführten Freiheitsverständnisses des „Weißenseer Arbeitskreises“ leider auch einigen Tribut gezollt. Es gilt allerdings Augenmaß zu behalten, wenn man das heute kritisiert.

Einerseits war nämlich die Existenz einer „Kirche im Sozialismus“ im Sinne der marxistisch-leninistischen Theorie ein Unding. Denn nach dieser Theorie war die „Religion“ durch die sozialistische Gesellschaftsgestaltung zum „Absterben“ verurteilt. Sie starb aber nicht ab, obgleich sich der sozialistische Staat alle Mühe gab, diesem Absterben nachzuhelfen und damit auch den Erfolg hatte, die Mitgliederzahl der Kirchen drastisch zu dezimieren. Aber dann stieß er auf eine Grenze, an der er sich wohl oder übel entgegen seiner Ideologie mit der Existenz der Kirche abfinden musste. Sein Versuch, die Kirche in seine Machtausübung zu integrieren, war im Sinne seiner Ideologie deshalb ein Widerspruch in sich selbst, eine uneingestandene Falsifizierung dieser Ideologie, die dann 1989 auch geschichtliche Dynamik gewann.

Andererseits konnten die Kirchenleitungen den Gliedern der Gemeinde nicht zumuten, sich mit der unabsehbaren Herrschaft des sozialistischen Weltsystems in einen Dauerkampf zu begeben, der ein halbwegs normales Leben eigentlich unmöglich gemacht hätte. Der Berliner Bischof Otto Dibelius hatte wohl so etwas im Sinne, als er zu Beginn der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die DDR-Regierung und die Kirche in Ost und West mit der Behauptung in wilde Aufregung versetzte, Christen seien einem Machtstaat wie der DDR in ihrem Gewissen nicht zum Gehorsam verpflichtet. Der „Obrigkeitsstreit“, den er damit auslöste, verdiente aus heutiger Sicht wohl einer kritischen Aufarbeitung ohne alle polemischen Zuspitzungen, die damals die Auseinandersetzungen bestimmten. Die Situation war so verquer, dass ein Bischof, der als erzkonservativ galt, im Namen der Bibel für einen demokratischen Rechtsstaat eintrat, während Theologen, deren Staatsverständnis in der Schule Karl Barths auf diesen Rechtsstaat hinaus lief, sich für die DDR als „Obrigkeit“ stark machten, dessen wie auch immer ausgeübter Macht sich Christinnen und Christen zu fügen hätten.

Der faktische Weg der Evangelischen Kirche in der DDR-Zeit verlief dann in der Mitte zwischen beiden Extremen. Dass der DDR-Staat auch „Obrigkeit von Gott“ sei, ist wieder und wieder versichert worden; nicht bloß auf kirchenleitender Ebene. Jede Dorfgemeinde hatte sich mit der allgegenwärtigen Staatsgewalt zu verständigen und zu beteuern, dass das Gemeindeleben nicht im Dienste des „Klassenfeindes“ oder des „Imperialismus“ stehe. Auf der anderen Seite konnte sie nicht schweigen, wenn Menschen innerhalb und außerhalb der Gemeinde Unrecht wiederfuhr. Denn sie war mehr und mehr auch eine Anlaufstelle, bei der Menschen ihre Nöte klagten, in die sie in dieser Gesellschaft geraten waren. Dass eine Pfarrerin oder ein Pfarrer Menschen sind, denen man vertrauen konnte, war ein Bonus, der diesem schwierigen Beruf in der sozialistischen Gesellschaft einen Vorsprung an menschlicher Vertrauenswürdigkeit gab.

Vielleicht macht man sich überhaupt das zutreffendste Bild davon, was „Freiheit und Verantwortung“ in der DDR bedeutete, wenn man auf die Basis der Kirche, nämlich auf das Leben der Gemeinden und ihrer Glieder in der Alltäglichkeit blickt. Natürlich war man da auf das Wohlwollen der örtlichen Staatsmacht angewiesen, wenn gebaut werden musste und „Kontingente“ dafür zu beantragen waren. Mit den Funktionären war auszuhandeln, wie weit die Gemeinde – z.B. bei Gemeindefesten – in die Öffentlichkeit hinein wirken darf. An sie waren die Sorgen heranzutragen, welche die sozialistische Mangelwirtschaft mit sich brachte und unter denen auch die Gemeinden zu seufzen hatten. Das alles und vieles andere mehr setzte aber ein einigermaßen erträgliches Verhältnis zu den Funktionären des Staates voraus. Da es kein Staatskirchenrecht gab, mit dem die Rechtmäßigkeit des Wirkens der Gemeinde eingeklagt werden konnte, war an den guten Willen der Funktionäre zu appellieren, wobei im Lobe ihrer guten sozialistischen Absichten auch manchmal über das Ziel hinaus geschossen wurde.

Aus einem Weltanschauungsstaat wie der DDR kommt am Ende kein noch so freier Mensch als ein ganz weißes Schaf heraus. Wir hatten ja auch überhaupt nicht damit gerechnet, dass wir aus der Zwangsjacke des real existierenden Sozialismus jemals heraus kommen würden. Niemand braucht sich aber zu schämen, der versucht hat, dem Sozialismus das Beste abzugewinnen und es seinen Ideologen auch so zu sagen, dass sie es irgendwie in ihren von der Partei verordneten Sprechblasen unterbringen konnten. Es ist darum übrigens auch den „Bürgerrechtlern“ und anderen für die Gesellschaft in den Gemeinden engagierten Menschen nicht zu verdenken, dass sie nach so viel Kampf für einen besseren, freiheitlichen Sozialismus von seiner Grundidee der sozialen Gerechtigkeit für die Menschheit angesichts des Unheils, das ein ungezügelter „Kapitalismus“ weltweit schafft, nicht lassen wollten, als die DDR zusammen brach. Das wirtschaftliche Desaster, das die Planwirtschaft des DDR-Sozialismus bis zur Pleite des Staates angerichtet hat, hat solche Utopien freilich sehr schnell ersterben lassen. Die DDR aber hat zur Beseitigung des Weltelends ansonsten so gut wie nichts beigetragen. Jede Gemeinde, die irgendein Projekt zur Linderung dieses Elends in der Welt unterstützt hat, tat mehr.

Was aber über den weltgeschichtlich einzigartigen Umbruch von 1989 hinaus bleibt, ist die Erfahrung, dass sich die christlichen Gemeinden in der sozialistischen Gesellschaft je länger je mehr als Orte unverstellten Wahrnehmens der Wirklichkeit dargestellt haben. Nach der atheistisch-marxistischen Theorie besteht das Wesen der „Religion“ darin, sich Illusionen über die Wirklichkeit zu machen und damit die Menschen über das gesellschaftliche Elend hinweg zu trösten. In der DDR war es genau umgekehrt. Die „Religion“ in Gestalt der Gemeinden war Anwalt der unverstellten Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität. Die atheistische Weltanschauung, welche die beste aller möglichen Welten versprach, aber war eine Quelle von Illusionen, welche eine ganze Gesellschaft veranlasst hat, sich im Hinweglügen der Realität einzurichten. In den Gemeinden hatte dieses Hinweglügen keinen Nährboden. Hier wurde ausgesprochen, wie es um die real-sozialistische Gesellschaft in Wirklichkeit stand. Das macht es erklärlich, warum ganz kirchenferne Menschen den Raum dieser Gemeinden suchten, als es galt, dem Protest gegen ein Regime, das auf so viel Illusionen und Lügen angewiesen war, Ausdruck zu verleihen.

Dabei hat sicherlich eine wichtige Rolle gespielt, dass die Gemeinden glaubwürdige Anwälte der demokratischen Umwandlung der Gesellschaft waren. Sie wären niemals zum Konzentrationsort der „friedlichen Revolution“ geworden, wenn sie – „Kirche im Sozialismus“ hin und her – im Rufe gestanden hätten, der sozialistischen Machtausübung hörig sein. Ihnen wurde deshalb auch zugetraut, dass ihre Freiheit mit der Bereitschaft verbunden ist, Verantwortung für den friedlichen Wandel dieser Gesellschaft übernehmen. Sie haben das getan, indem sie die Logistik der Kirche als der einzigen freien, im ganzen Land präsenten Institution an den „Runden Tischen“ und bei vielen politischen Initiativen im Machtvakuum von 1989/90 den Menschen, die auf Veränderung drängten, zur Verfügung gestellt haben.

Heute wird vielfach gefragt, warum der Kirche selbst ihr Einsatz für die Menschen in jenen Umbruchszeiten eigentlich so wenig zugute gekommen ist. Als der friedliche Umbruch der Gesellschaft und erst recht die deutsche Vereinigung vollzogen waren, leerten sich die Kirchen wieder. Im Grunde ist das nicht verwunderlich. Denn die Beteiligung von Menschen, denen der Glaube an Gott fremd ist, an der gesellschaftlichen Verantwortung, welche die Gemeinden wahrnehmen, macht noch keinen Christenmenschen. Dazu bedarf es intensiverer Begegnungen mit den Quellen des christlichen Glaubens, als sie in unruhigen Umbruchszeiten möglich sind, in denen es um die Konsequenzen dieses Glaubens im Leben der Gesellschaft geht. Nur als Funktion eines gesellschaftlichen Anliegens, auch wenn es noch so wichtig ist, fehlt der Kirche und ihren Gemeinden in der Wahrnehmung von „religionslosen“ Menschen die Triebkraft des Geistes Gottes, der den Glauben an ihn zur dauerhaften Orientierung eines menschenwürdigen, freien Lebens von Menschen werden lässt. Menschen zur Öffnung für das Wirkens dieses Geistes einzuladen, bleibt darum die Aufgabe der Kirche, die trotz aller Wunden, die ihr in DDR-Zeit geschlagen wurden, als „Kirche der Freiheit“ in der demokratischen, pluralistischen Gesellschaft ihren Weg sucht.