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Das Vaterunser neu übersetzen?
"Die Kirche" Nr. 51 vom 17. Dezember 2017
Das Vaterunser ist das bekannteste Gebet der Christenheit. Es geht sicherlich auf Jesus selbst zurück. In seiner sechsten Bitte wird Gott, der Vater, gebeten: „Und führe uns nicht in Versuchung.“ Doch warum sollte Gott uns Menschen in Versuchung führen? So fragen schon länger kritische Stimmen. Jüngst hat im italienischen Fernsehen auch Papst Franziskus Kritik an dieser Formulierung geäußert. Er hat vorgeschlagen, sie zu ändern. Die Evangelische Kirche in Deutschland dagegen schrieb vergangene Woche Freitag auf Facebook, sie halte an dem gewohnten Text fest.
Die Aufregung über Papst Franziskus ist groß. Selbst der säkulare Blätterwelt rauscht: „Der Papst will Vaterunser ändern“ titelte kürzlich die Bildzeitung. Doch das will er mitnichten. Er kritisiert vielmehr nur die „schlechte Übersetzung“ der 6. Bitte des Vaterunsers, die im Deutschen lautet: „Und führe uns nicht in Versuchung.“ Schlecht sei diese Übersetzung, weil Gott, der Vater, an den sich dieses Gebet richtet, „so etwas nicht tut“.
Das meint: Er stiftet Menschen nicht an, sich vom Bösen verführen zu lassen. Er hilft uns vielmehr, „sofort wieder aufzustehen“, wenn der „Satan“ uns in die Versuchung führt, uns dem Bösen der Gottes- und Menschenverachtung in Gedanken, Worten und Werken hinzugeben. Deshalb sollen wir dem Beschluss der französischen katholischen Bischöfe folgen und fortan beten: „Lass uns nicht in Versuchung geraten.“ Wir bitten mit dieser Formulierung also, dass Gott der Vater uns vor aller Versuchung durch das Böse bewahren möchte.
In Grunde spricht Franziskus damit vielen Christinnen und Christen nicht erst in unserer Zeit aus dem Herzen. In der Bibel ist zwar durchaus davon die Rede, dass Gott Menschen versucht, um ihren Glauben zu prüfen. Der „fromme Hiob“, der alle schlimmen Prüfungen besteht, die Gott ihm auferlegt, ist dafür das bekannteste Beispiel. Doch mit dem Glauben an den Gott Jesu Christi reimt es sich schwer, dass er uns Menschen Fallen stellt, so dass wir ihn bitten müssen, damit doch aufzuhören.
Franziskus spricht sogar ganz besonders der evangelischen Christenheit aus dem Herzen, wenn er sagt: Gott, „der Vater tut so etwas nicht“. Wir haben uns beim Reformationsjubiläum ja gerade darauf verständigt, dass die Orientierung an der Liebe Gottes der eigentliche Kern der Reformation ist. Liebe aber richtet andere auf und verdunkelt ihr Leben nicht mit Verführungen zum Bösen.
Mehr noch: Franziskus macht sich hier regelrecht einen Grundsatz des reformatorischen Ver-ständnisses der Bibel zu Eigen. Dieser Grundsatz lautet: Verbindlich ist für uns in der Bibel das, was „Christus treibt“, das heißt, was zur Geltung bringt, dass Gott seine Liebe uns Menschen ohne alle Bedingungen erweist. Luther hat sich darum nicht gescheut, das auch in seiner Übersetzung des Neuen Testaments zum Ausdruck zu bringen Am Berühmtesten ist die Einfügung des „Allein“ der Rechtfertigung aus Glauben in Römer 3,28. „Der Mensch wird gerecht durch den Glauben“, steht im Text. „Allein durch den Glauben“ übersetzt Luther. Papst Franziskus wandelt also offensichtlich in Luthers Spuren, wenn er die 6. Bitte des Vaterunser konform mit dem, „was Christus treibt“, formuliert sehen will.
In der Sache stimmt er damit sogar mit Martin Luthers Auslegung der 6. Bitte des Vaterunsers überein. Denn in seiner Erklärung dieser Bitte im Kleinen Katechismus sagt Luther in Aufnahme von Jakobus 1,13 wie Franziskus als Erstes: „Gott versucht zwar niemand“. Dem hat er hinzugefügt: „aber wir bitten in diesem Gebet, dass uns Gott behüte und erhalte, damit uns die Welt, der Teufel und unser Fleisch nicht betrüge und verführe in Missglauben Verzweiflung und andere große Schande und Laster …“ Kurz: Wir bitten in diesem Gebet, dass Gott uns „nicht in solche Versuchungen geraten“ lässt.
Warum also sollen wir den katholischen Bischöfen von Frankreich und dem Papst nicht folgen und die 6. Bitte des Vaterunsers in diesem Sinne umformulieren? Doch die Evangelische Kirche Deutschland (EKD) hat ohne Argumente kurz und knapp erklärt, bei der Formulierung „und führe uns nicht in Versuchung“ bleiben zu wollen. So steht es denn auch in der gerade neu revidierten Lutherbibel (Matthäus 6,9; Lukas 11,4). Diese Übersetzung aber hat eine starke Anwältin. Sie hat die exegetische Wissenschaft auf ihrer Seite.
Denn wiewohl alles Übersetzen ein Interpretieren ist, sollte es dem Wortsinn eines Textes verpflichtet bleiben. Davon entfernt sich die von Franziskus vorgeschlagene Übersetzung der 6. Bitte jedoch. Im griechischen Text ist eindeutig davon die Rede, dass Gott uns nicht in Versuchung „führen“ möchte. Dem Wortsinn würde aber auch die Übersetzung entsprechen: „nicht führe uns hinein in Versuchung“.
Es bleibt bei genauem Hinsehen auf den griechischen Text also dabei, dass bei dieser Bitte die Erfahrung im Hintergrund steht, dass Gott uns durchaus in Versuchungen hinein führen kann. Doch wir dürfen diese Erfahrung nicht abstrakt verstehen. Wir müssen vielmehr konkret fragen, inwiefern auch sie „Christus treibt“. Das heißt in diesem Falle, wie hier die Stimme Jesu Christi im Vaterunser vernehmbar ist. Es ist die Stimme dessen, der sich von Gott gesandt wusste, das Reich Gottes anzusagen und mit seinem Handeln und Verhalten darzustellen. Dass gerade er in Versuchungen geführt wurde, duldet aber nach der Darstellung der Evangelien überhaupt keinen Zweifel.
Davon erzählt nicht nur die Versuchungsgeschichte, nach welcher der Geist (Gottes!) Jesus in die Wüste sandte, wo er vom „Teufel“ versucht wurde (Matthäus 4,1–11). Das prägt vor allem Jesu Beten in Gethsemane ein. „Mein Vater“, hat er dort angesichts seines bevor stehenden Leidens gebetet, „ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; aber doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst“ (Matthäus 26,39). Er hat den Weg in das Leiden, in den ihn Gottes Wille führte, also bejaht. „Wachet und betet, dass ihr nicht in Versuchung (Luther: „Anfechtung“) fallt, Gottes Willen auszuweichen, hat er darum seine schlafenden Jünger ermahnt (Matthäus 26, 41). Betet: „Führe uns nicht in Versuchung“, sagt dasselbe.
Es ist ganz offenkundig: In dieser Bitte spiegelt sich die Erfahrung Jesu, dass der Weg der Ausbreitung des Reiches der Liebe, auf den Gott ihn geführt hat, auch für die Jünger, die er in seine Nachfolge berufen hat, in Versuchungen führt. Das gilt für alle auch heute, die den „Fußspuren Jesu nachfolgen“ (1. Petrus, 2,21). Sie sind gesendet, mit ihren Worten und ihrem Handeln den Gott Jesu Christi zu bezeugen. Dabei werden sie in eine Welt voller Unglauben, Aberglauben, Menschenhass und leider auch voller religiösem Fanatismus geführt. Zweifel, Verzagtheit, Traurigkeit und auch Leiden stellen sich ein. Religiöse Arthrose hemmt die Schritte. Zu „beharren“, zu bestehen, in seinen Versuchungen, hat Jesus angesichts dessen regelrecht als Kennzeichen eines wahren Jüngers verstanden (Lukas 22,28).
In der Nachfolge Jesu können Christinnen und Christen Versuchungen also nicht ausweichen, die sie von ihrem Weg abbringen wollen. Denn ihr Lebensweg bedeutet auch: „Teilhaben an den Versuchungen Jesu“, hat Dietrich Bonhoeffer in einer tiefsinnigen Auslegung der 6. Bitte gesagt (Dietrich Bonhoeffer-Werke Band 15,Seite 384). Dieses Teilhaben aber ist zugleich der Grund, Gott zu bitten, uns nicht in Situationen hinein zu führen, denen wir nicht standhalten können. Denn der, welcher standhielt, wusste um unsere Versuchlichkeit, als er uns die Bitte „führe uns nicht in Versuchung“ als Rückgrat für unser christlichen Leben mit auf den Weg gab.
Papst Franziskus hatte in einem Interview sicherlich keine rechte Gelegenheit, Jesu Rede vom „Führen Gottes“ in der 6. Bitte hinreichend auszuloten. Unsere Kirche sollte deshalb nicht bloß abrupt deklarieren: Wir bleiben bei Luthers Übersetzung. Sie sollte, indem sie dabei bleibt, das Gespräch darüber suchen, was das „Teilhaben an den Versuchungen Jesu“ für den Weg der ganzen Christenheit in unserer Zeit und damit auch für das Verständnis des Wortlauts der 6. Bitte bedeutet.