Kategorie: Vorträge
Das christliche Verständnis der Freiheit. Seine Bedeutung im Streit um die Willensfreiheit des Menschen
Vortrag am Theologischen Abend zum Reformationsfest in der St. Stephanskirche zu Würzburg am 31.10.2013
1. Die Grundfrage: Wovon und wozu sind wir frei?
Freiheit ist ein Grundwort des christlichen Glaubens. Ohne von Freiheit zu reden, kann sich schon im Neuen Testament dieser Glaube gar nicht verständlich zu machen. „Die Wahrheit wird euch frei machen“, ist die zentrale Botschaft Jesu im Johannesevangelium (Joh 8, 32). „Zur Freiheit hat euch Christus befreit“, lautet einer der Spitzensätze der Verkündigung des Apostels Paulus (Gal 5, 1). Sie stimmt mit seiner Begeisterung über die „herrliche Freiheit der Kinder Gottes“ (Röm 8, 21) zusammen. Die sogenannte „alte Kirche“, die noch heute als Modell einer wahren Kirche gilt, hat in Breite in die apostolische Begeisterung über die Freiheit, zu der Christus befreit, eingestimmt. Sie bejubelte die Befreiung vom Kult und von der Knechtung der römischen Götter, die keine sind.
Auf die Befreiung zur Freiheit haben sich alle kirchlichen Reformbewegungen des Mittelalters bezogen, welche die Abhängigkeit der Kirche von den Mächten der „Welt“ in Politik, Wirtschaft und den Geistern der Zeiten überwinden wollten. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ ist die Schrift der lutherischen Reformation, welche Befreiungsprozesse nicht nur in der Kirche, sondern auch in der europäischen Geschichte in Gang gesetzt hat. Freiheit war das Stichwort, das es der protestantischen Kirche und Theologie nach einigen Fehlwegen ermöglichte, das Freiheitsanliegen der Aufklärung in Wissenschaft und Ethik als ihre ureigenste Angelegenheit zu begreifen. „Frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt“ hat die Bekennende Kirche in der Zeit der Naziherrschaft dem Zugriff dieser Herrschaft auf die Kirche in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 (These 2) entgegen gehalten. „Kirche der Freiheit“ heißt (allerdings etwas zu bombastisch) das Perspektivpapier der Evangelischen Kirche in Deutschland von 2006, mit dem sie sich auf die Herausforderungen unserer Zeit zu rüsten versucht.
Wie großmaschig zusammen gesammelt diese stichwortartigen Erinnerungen an einzelne Etappen der Kirchengeschichte nun auf den ersten Blick auch erscheinen mögen: Freiheit, die im Glauben an Gott in Jesus Christus verankert ist, durchzieht als Quellborn christlicher Identität diese Geschichte wie ein roter Faden. Eine Kirche, in der das Wort „Freiheit“ zum Fremdwort würde, hätte ihr Wesen verraten, d.h. sie würde aufhören, Kirche Jesu Christi zu sein.
Doch mit dem bloßen Gebrauch des Wortes „Freiheit“ ist ja eigentlich noch gar nichts Substanzielles gesagt. Wer Freiheit sagt, muss angeben, wovon er frei ist. „Freiheit von nichts“ ist ein sinnloser Gebrauch dieses Wortes. Andererseits: Wer Freiheit sagt, muss auch angeben, wozu er frei ist. Denn „Freiheit für nichts“ ist ebenso sinnlos. Ein solches leeres Verständnis der Freiheit ist eine Abstraktion, die sich allerdings im Laufe der Geschichte auch in das christliche Freiheitsverständnis eingeschlichen hat. Diese Abstraktion heißt: „freier Wille“. Sie hat im Mittelalter und in der Reformationszeit eine große Rolle gespielt. Es ging dabei um die Frage, auf die wir noch zurück kommen müssen, ob Menschen frei sind, Gott entweder zu bejahen oder zu verneinen. Doch das Festmachen dieser Frage am Willen war ein Fehlgriff. Denn ein Wille, der zunächst einmal nichts will, ist überhaupt kein Wille. Sofern er will, will er etwas. Einen sogenannten „willensschwachen“ oder gar „willenlosen Menschen“ nehmen wir darum durchaus nicht als einen freien Menschen wahr. „Wer nicht weiß, was er will“, ist vielmehr ein von lauter Abhängigkeiten hin und her geschüttelter Mensch.
Nach Paulus jedoch ist ein durch Christus zur Freiheit befreiter Mensch durchaus einer, der weiß, was er will bzw. nicht will. Denn er fährt nämlich in Galater 5 folgendermaßen fort: „Aber seht zu, dass ihr durch die Freiheit nicht dem Fleisch Raum gebt, sondern durch die Liebe diene einer dem Anderen“. Das ruft ohne Zweifel auch den Willen von Menschen auf. Aber das ist kein Wille, der unbeeindruckt von der Erfahrung Jesu Christi über allen möglichen Alternativen der Lebensführung haltlos herumflattert. Er wird vielmehr durch den freimachenden Geist Christi, wie Paulus an einer anderen Stelle sagt (vgl. II Kor 3, 17) willentlich begeistert, sich nicht dem „Fleisch“ auszuliefern.
„Fleisch“ ist in der Vorstellungswelt des Paulus alles das, was uns an unsere Konstitution als Naturwesen fesselt und uns so für die Gottesbeziehung verschließt. „Fleisch“ ist auch das Denken, das unter Verwendung von manchmal viel intellektueller Anstrengung dieser gänzlichen Abhängigkeit die Argumente liefert. Zwar schärft uns das biblische Menschenverständnis in großen Realismus ein, dass wir Wesen aus „Staub“ (vgl. Psalm 103, 14) sind. Physik und Chemie – aus dem Horizont der Gegenwart gesprochen – haben also durchaus das Recht und die Pflicht, uns als solchen belebten Staub zu analysieren und zu verstehen. Sie können uns darüber aufklären, dass „Freiheit“ von Wesen, die an ihre biologische Natur gebunden sind, in der Realität niemals absolute Freiheit sein kann.
Aber dass unsere Naturverhaftung unser Bewusstsein fesselt und unser Denken, Fühlen und Handeln überschwemmt, gilt in der Bibel als eine schlimme Reduzierung des Menschseins, wie es Gott gemeint hat. Es gilt als Sünde, als Verfehlung der Menschlichkeit, zu der Gott Menschen werden ließ. Sünde wirft Menschen hinter die großartigen Möglichkeiten unseres mit Bewusstsein begabten Daseins zurück. Denn diese Möglichkeiten gründen alle darin, dass wir mit unserem Bewusstsein alles Naturhafte in der irdischen, raum-zeitlichen Welt zu transzendieren, zu übersteigen vermögen.
Geschieht das in die Leere hinein, ins Nichts, in die Sinnlosigkeit ohne Zusammenhang mit Irgendetwas? So trauen sich heute nicht wenige ins Philosophische hinüber wechselnde Naturwissenschaftler zu sagen, welche unsere Fähigkeit zur Transzendieren bloß als eine Marotte der Evolution betrachten. Sie befeuern einen Atheismus, der unsere Nichtigkeit zum Grundzug unseres Selbstverständnisses erhebt. Wir sollten uns als „affenartige Lebensform, die sich zufällig auf diesem Staubpartikel entwickelt“ hat, nicht einbilden, „etwas Besonderes“ zu sein, hat Michael Schmidt-Salomon einen derartigen Nihilismus auf den Punkt gebracht (Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind, München/Zürich 42010, 306f.).
„Gebt nicht dem ‚Fleisch’ Raum“ – das ist demgegenüber die Einweisung in eine Freiheit, die von Gottes Achtung jedes Menschen als eines sehr wohl besonderen Lebewesens getragen ist. Diese Besonderheit besteht darin, dass jeder Mensch sich gegenüber zu treten und sich in ein Verhältnis zu sich selbst zu setzen vermag. Auf Grund dessen kann er seine Natur gestalten und ist nicht Sklave eines Instinktes oder blinden Geschicks. Diese Besonderheit besteht weiterhin darin, dass Menschen Verhältniswesen sind, die in der Beziehung auf andere Menschen eine besondere Geschichte haben dürfen und sollen, für die sie selbst in Freiheit Verantwortung tragen. Die Ideologie des Marxismus-Leninismus, dass die Geschichte der Menschheit als Geschichte von Klassenkämpfen so funktioniere wie die Naturgesetzlichkeit, war eine unheilvolle Schnapsidee. Sie hat auf der ganzen Linie zur Unterdrückung von Freiheit geführt. Wer keine „Einsicht in die Notwendigkeit“ zeigte – so verstand man „Freiheit“ – wurde drangsaliert, um von Schlimmerem zu schweigen.
Demgegenüber hat Paulus die Praxis der Freiheit jedes Menschen als Beförderung und Einsatz für die Freiheit der Anderen verstanden. „Durch die Liebe diene einer dem Anderen“ – das bedeutet: Menschen können und sollen frei sein, die Selbstentfaltung der Anderen zu ihrem eigenen Lebensanliegen zu machen. Freiheit, welche die Beziehungen von Menschen zu anderen Menschen zugrunde richtet, vollzieht – wie jener alte Mythos vom sog. Sündenfall aus 2. Mose 3 ganz richtig und wahr fabuliert – den Abmarsch von Menschen in die Unfreiheit. Adam und Eva verstecken sich nach ihrem abenteuerlichen Versuch, sein zu wollen wie Gott, hinter den Bäumen. Ihr Selbstverhältnis ist so gestört, dass sie sich nicht mehr sehen lassen können. Aber nicht nur das. Adam schiebt die Schuld daran auf Eva. Die Beziehung zum anderen Menschen zerbricht. Eva schiebt die Schuld auf die Natur in Gestalt der Schlange, die jetzt nur noch das Böse ist, dem sie erliegt. Beide Repräsentanten der Menschheit sind nun eingekurvt (incurvatus in se auf lateinisch; M. Luther) in die Macht der Unfreiheit. Freiheit gedeiht nur in der Liebe, dem Inbegriff aller guten menschlichen Beziehungen, will der Apostel Paulus dagegen sagen. In seinen Spuren wandelte Martin Luther, als er 1520 seiner berühmten Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ die beiden scheinbar widersprüchlichen Sätze voran stellte:
„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan“ und:
„Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“.
Diese Sätze müssen wir uns etwas näher anschauen, um die christliche Freiheit zu verstehen.
2. Frei und „Knecht“: Die Freiheit eines Christenmenschen
Auf den ersten Blick scheint der erste Satz von Luthers Freiheitsschrift maßlos zu übertreiben. Denn auch Christinnen und Christen können ihre Freiheit genauso wie alle anderen Menschen doch nur relativ, in Abhängigkeit von den naturhaften und gesellschaftlichen Bedingungen ihres Lebens verwirklichen! So wie Luther die Freiheit eines Christenmenschen beschreibt, besteht sie aber in der völligen Unabhängigkeit von „allen Dingen“, das heißt von allem, was unsere Lebenswelt ausmacht. „So etwas gibt es doch in der Realität unseres Lebens überhaupt nicht“, sind wir geneigt zu sagen. „Da habt ihr recht“ würde Luther antworten. „In der Realität eures Lebens sieht es so aus, dass ihr von den Mächten dieser Welt geknechtet und getrieben seid. In der Realität dieses Lebens habt ihr zwar eine gewisse Wahlfreiheit, dieses zu tun und jenes zu lassen. Aber von einem „freien Willen“ als dem cantus firmus eures Lebens vor allem in der Beziehung zu Gott kann keine Rede sein“. Luther hat darum der gesamten, bis ins 5. Jahrhundert zurück reichenden Tradition widersprochen, dass Menschen natürlicherweise einen „freien Willen“ besitzen. Sein Buch, in dem er sich 1525 mit dem Humanisten Erasmus von Rotterdam angelegt hat, trägt den Titel „Vom unfreien Willen“ („de servo arbitrio“). Menschen gleichen Lasttieren, hat er da gesagt, welche entweder der Teufel oder Gott reite. Wenn Gott Menschen begegne, treffe er immer vom Bösen gerittene, dem „Fleisch“ verhaftete Menschen an. Die Behauptung eines freien Willens verschleiert das und muss darum selbst als Einfall der Sünde verstanden werden. So singen wird es ja bis heute mit dem Lutherlied: „Nun freut euch, liebe Christengmein“: „Der frei’ Will hasste Gott’s Gericht/ Er war zum Gut’n erstorben“ (EG 341,3).
Luther war also noch viel radikaler als wir es sind, wenn wir seinen ersten Satz vom freien Herrn über alle Dinge sozusagen erden wollen. Doch dieser Satz beschreibt nicht, wie Christinnen und Christen von ihrer Freiheit alltäglich Gebrauch machen. Er beschreibt, was mit uns geschieht, wenn Gott uns durch sein Wort begegnet. Er beschreibt die freie Verfassung von Menschen im Glauben an Gott, der aufgrund dieser Begegnung geweckt wird. Dieser Glaube holt uns aus den Zwängen des „Fleisches“ heraus. Denn im Glauben ist ein Christenmensch außer sich. Luther sagt: Er „fährt über sich hinaus in Gott“ und erlebt dabei, wie Christus ihm alles abnimmt, womit er Gott Schande gemacht und seine Schöpfung ruiniert hat. Im Glauben wird er darum frei, neu zu beginnen.
Das berührt sich mit Immanuel Kants berühmter Definition der Freiheit. Er nannte sie in der „Kritik der reinen Vernunft“ das „Vermögen“ von Menschen, „einen Zustand von selbst anzufangen“. Damit steht es aber stand es nach Meinung des „Philosophen der Aufklärung“ unter Menschen, die immer ihrer Sinnlichkeit und damit dem „Eigennutz“ verhaftet bleiben, trotz aller Fortschritte der wissenschaftlichen Erkenntnis schlecht. Je mehr sie wissen, umso größer wird die „Hölle von Übeln“ sein, die sie sich gefesselt von der Macht der „Fleisches“ bereiten. Kants Meinung war darum: Man kann in dieser Sinnenwelt zur Freiheit „nicht reifen, wenn man nicht zuvor in Freiheit gesetzt worden ist, [...] man muss frei sein (!), um sich“ der „Kräfte der Freiheit [...] bedienen zu können“ („Die Religion innerhalb“). Nach Kants Meinung schafft die Vernunft diese Voraussetzung, indem sie die Freiheit als Voraussetzung allen Handelns postuliert.
Hier liegt der Unterschied zur Freiheit des Glaubens. Glaubende verstehen sie als ein Geschenk von Gott, das wir uns nicht selber machen können. Sie ist nicht eine postulierte und darum abstrakte Freiheit. Sie ist erlebte Freiheit von den Zwängen, denen wir in der Natur und in der Gesellschaft ausgesetzt sind. Wer durch den Glauben in Freiheit gesetzt ist – und zwar jeden „Morgen frisch und neu“ (!) – der wird nicht müde, mit dem Leben neu anzufangen, das den alten Trott der Unfreiheiten dieser Welt unterbricht.
Worin diese Unterbrechung besteht, sagt der zweite Satz von Luthers Freiheitsschrift. Er hebt den ersten Satz nicht auf, sondern wendet ihn konkret an. Der in jeder Hinsicht im Glauben freie Mensch kann zum Knechtwerden, sich zum Knecht machen. Das meint genau das, was Paulus in Galater 5 gesagt hat. In der Liebe für den Nächsten, für den Anderen, für den Mitmenschen können Glaubende in Freiheit auf menschlicher Ebene so aktiv sein wie Gott in Christus in der Solidarität mit uns aktiv ist. Sie tun das nicht, um sich selbst wichtig zu machen. Denn sie wissen, sagt Luther: „Gute fromme Werke machen nimmermehr einen guten frommen Mann, sondern ein guter, frommer Mann macht gute, fromme Werke“. Diese Werke von Christinnen und Christen aber sind Werke der Liebe. Insofern besteht die Freiheit des Christenmenschen in dieser Hinsicht in der Verantwortlichkeit für die Mitmenschen und ihr Wohlergehen. Während der Mensch im Glauben über sich hinaus geführt wird, ist er in der Liebe inmitten der Welt für ein bejahbares Leben von Gottes Geschöpfen auf dieser Erde werktätig.
Heute ist für uns das weltverändernde Freiheitspotential, das in dieser doppelt akzentuierten, spezifisch christlichen Begründung von Freiheit steckte, auf den ersten Blick gar nicht mehr so leicht erkennbar. Im 16. Jahrhundert – einer Zeit der Verquickung von kirchlicher und politischer Macht sowie von religiöser Durchdringung des Weltverständnisses und der Weltdeutung – aber war das anders. Es ist darum durchaus heilsam, uns an jenes Freiheitspotential zu erinnern und es dann auf unsere Zeit und ihre Probleme mit der Freiheit zu beziehen.
3. Die Freiheit des Einzelnen und die Freiheit zur Weltverantwortung
Luthers Profilierung christlicher Freiheit war im 16. Jahrhundert nicht nur ein geistlich-kirchliches Ereignis. Der Glaube daran, dass Gott jeden Menschen von den Mächten, die ihn und damit seinen Willen in der Welt beherrschen, frei macht, wurde von Anfang an auch weltlich und politisch verstanden. Er nahm den religiösen und anderen Autoritäten, die im gesellschaftlichen Leben das Dasein und die Lebensführung von Menschen bestimmten, ihre Autorität und Letztgültigkeit. Das hat mindestens zwei einschneidende Konsequenzen gehabt:
1) Letztgültig ist ihm Leben jedes Menschen der Glaube, der ihn gegenüber der Welt frei macht, aber auch die Vernunft, die dieser Freiheit assistiert. Glauben jedoch kann nur jeder Mensch einzeln, weil er vor Gott unvertretbar ist. Die Bindung des Gewissens an den frei machenden Gott gewann darum in der Reformationszeit ein größeres Gewicht als die religiösen und anderen Autoritäten, denen sich ein Mensch im Mittelalter zu fügen hatte. Luther hatte die Verweigerung des Widerrufs seiner Schriften 1521 auf dem Reichstag zu Worms mit den berühmten Worten begründet, dass es in Anerkennung des Zeugnisses der Bibel und der Vernunft (!) „weder sicher noch geraten ist, etwas gegen das Gewissen zu tun“.
Die Gewissenfreiheit des Einzelnen wurde damit zu einer Instanz, die zu respektieren von den religiösen und weltlichen Autoritäten gefordert wurde. In dieser Forderung aber ist die Nötigung enthalten, die Unverfügbarkeit jedes Menschen für andere Menschen anzuerkennen. Mensch sein heißt, über jeden Zweck, über jeden „Preis“ erhaben sein, den andere Menschen ihm im gesellschaftlichen und politischen Leben zuweisen, hat wiederum I. Kant im Windschatten der Proklamation der Freiheit eines Christenmenschen gesagt (vgl. I. Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Werke 6/1,68). Es lange gedauert, bis die Kirchen erkannten, dass damit die Geburtsstunde des neuzeitlichen Verständnisses der Menschenwürde und aus ihr folgender Menschenrechte geschlagen hatte. Darum verkürzt man den reformatorischen Glauben auch unzulässig, wenn man ihn – wie das immer wieder geschieht – nur eine „Gewissensreligion“ nennt. Das provoziert das Missverständnis, dieser Glaube bestehe im Rückzug auf eine innerliche Freiheit, die für das gesellschaftliche und politische Leben ohne Bedeutung sei. Dieses Missverständnis kappt die andere Seite des biblischen und reformatorischen Freiheitsverständnisses, nämlich das Tätigsein in der Liebe, das wir heute als brennendes Engagement für die Menschenwürde und damit die Freiheitsrechte jedes Menschen in allen Beziehungen seines sozialen und gesellschaftlichen Lebens verstehen müssen.
Sich heute des Themas der Freiheit zu bemächtigen und dabei die Frage der Menschenwürde wie eine Nebensache zu behandeln, geht darum eigentlich nicht. Auf diesem Hintergrund haben alle, die von christlicher Freiheit etwas verstehen, spitze Ohren, wenn eine Ideologie oder eine Weltanschauung, die sich auf naturwissenschaftliche Fakten beruft, die Voraussetzung der Freiheit Menschen und ihrer Würde nicht mehr zubilligt. Er wird im Namen des Glaubens und der Vernunft dagegen Einspruch erheben.
2) Luthers Verständnis der Freiheit eines Christenmenschen als „freier Herr über alle Dinge“ sprach Menschen die Freiheit zu, in „weltlichen Sachen“ selbst urteilsfähig zu sein. Die Welt, das heißt die Natur, die Gesellschaft und das alltägliche Leben sind nichts als Welt. Gott hat sie uns Menschen zum Gestalten und darum auch zum Erforschen frei gegeben. Wir sind die „Ersten frei Gelassenen der Schöpfung“, hat Herder gesagt. Wir sind damit aber zugleich für sie verantwortlich gemacht, indem wir in ihr leben. Die Rühmung des sog. weltlichen Berufes durch Luther, der das Dienstmägdlein in seiner alltäglichen Verrichtung weit über das Klosterleben mit seinem Bemühen um eine besondere Heiligkeit gestellt hat, weist das exemplarisch aus. Weltverantwortung, Eintreten für diese Schöpfung ist gegenüber einem exklusiv religiösen Leben keine Sache minderen Wertes. Es gefällt gemäß christlicher Freiheitserfahrung Gott vielmehr wohl, wenn Menschen entsprechend seinen Geboten mit redlicher Arbeit in der Gesellschaft Verantwortung übernehmen.
Dabei ist es selbstverständlich, dass Menschen sich bei der Übernahme dieser Verantwortung der Möglichkeiten ihres Verstandes bedienen, um die Welt zu verstehen, in die hinein Gott sie geschaffen hat. Der Schöpfungsglaube Israels und des Neuen Testaments, der die Welt – wie man sagt – entgegen der polytheistischen Vorstellung der Durchwaltung der Welt von Göttern und göttlichen Kräften „entgöttert“ hat, erfuhr durch die Reformation einen neuen Schub. Zwar hat Luther selbst von der wissenschaftlichen Forschung seiner Zeit bedauerlich wenig verstanden. Doch entsprechend seinem Einsatz für die Freiheit der Wissenschaften konnte das kopernikanische Weltbild – trotz seiner Mängel – in Wittenberg ungehindert gelehrt werden. Johannes Keppler, dem wir ein Jahrhundert später den eigentlichen Durchbruch zum Weltbild von heute verdanken, war ein lutherischer Theologe.
Dass sich die Kirche der Reformation im 17. und 18. Jahrhunderts in die Ecke der Wissenschaftsfeindlichkeit drängen ließ, ist eine Geschichte für sich. Ihr hat der bedeutendste evangelische Theologe des 19.Jahrhunderts, Friedrich Schleiermacher, die Aufgabe entgegen gesetzt, es gelte die Reformation zu vollenden und „einen ewigen Vertrag zu stiften zwischen dem lebendigen christlichen Glauben und der nach allen Seiten freigelassenen [...] wissenschaftlichen Forschung, so dass jener diese nicht hindert und diese jenen nicht ausschließt“( 2. Sendschreiben an Lücke, 149). Das ist in der Tat Geist vom reformatorischen Freiheitsgeiste. Allerdings ist die vorsichtige Formulierung dieses „Vertrages“ offenkundig von der Vorstellung geleitet, Naturwissenschaft und Glaube (bzw. „Religion“) würden sich auf so verschiedene Wirklichkeitsdimensionen beziehen, dass sie gar nicht miteinander in Konflikt kommen können. Doch diese Vorstellung war zu harmlos. Denn von der Erforschung der naturhaften Bedingungen unseres Daseins gehen nicht nur Anfragen, sondern auch Infragestellungen des christlichen Freiheitsverständnisses aus. Eine dieser Infragestellungen ergibt sich heute aus der Diskussion, welche die Hirnforschung über den „freien Willen“ ausgelöst hat.
4. Der umstrittene „freie Wille“ und der offene Horizont der Freiheit
Wie oben schon angedeutet wurde, hat die reformatorische Theologie aus der Verneinung des freien Willens von Menschen in der Gottesbeziehung nicht die Schlussfolgerung gezogen, dass Menschen als Gottes Geschöpfe überhaupt keinen freien Willen hätten. In sogenannten „natürlichen“, äußeren Dingen haben sie natürlich die Wahl zwischen Alternativen. Diese Anschauung wurde sogar in den lutherischen Bekenntnissen verankert. In der Augsburgischen Konfession von 1530 heißt es in Artikel 18: Alle Menschen hätten einen angeborenen Verstand und Vernunft, der sie befähige, in Freiheit „Gutes oder Böses zu wählen“. Unter „Gutem“ ist dabei verstanden, „was die Natur vermag“: z.B. „auf dem Acker zu arbeiten oder nicht, zu essen, zu trinken, zu einem Freunde zu gehen oder nicht, ein Kleid an- oder auszutun, zu bauen, ein Weib zu nehmen, ein Handwerk zu treiben und dergleichen etwas Nutzlichs und Guts zu tun“ (BSLK 74,11ff).
Sehr glücklich ist das Anerkennen solcher Wahlfreiheit in „äußerlichen“ Weltangelegenheiten unter der problematischen Leitvorstellung des „freien Willens“ allerdings nicht. Denn einerseits stehen die hier aufgezählten Verrichtungen entweder auch unter dem Einfluss des in Bezug auf Gott natürlicherweise unfreien Willens oder unter dem des zur Liebe und zur Weltverantwortung befreiten Willens. Andererseits kann, wie wir eingangs schon gesagt haben, der hier beschriebene Wille in den Verhältnissen menschlichen Daseins ein absolut freier Wille auch nicht sein. Was Luther und die Augsburgische Konfession sagen wollten, war, dass sich menschliches Leben in der Wahl zwischen Alternativen vollzieht: einer Wahl, die zu den Möglichkeiten der Geschöpfe Gottes im Überschreiten der Natur gehört. Darum ist das Anliegen der Behauptung eines freien Willens in diesem Sinne auch ein Anliegen der protestantischen Kirche und Theologie geblieben.
Auf diesem schmalen Sektor des christlichen Freiheitsverständnisses, der an die Weiten und Tiefen erlebter Freiheit in der Gottesbeziehung nicht heran reicht, bewegt sich nun heute die von der Hirnforschung veranlasste Diskussion um die „Willensfreiheit“ von Menschen. Sie dreht sich um die Erkenntnis, dass willentlichen Entscheidungen zwischen Alternativen chemische Prozesse im Gehirn bestimmend voran gehen. Dadurch werde die Annahme, dass Menschen einen „freien Willen“ in dem geschilderten banalen Sinne der Wahlfreiheit besitzen, fragwürdig. Doch nicht nur das. Einige Vertreter der Hirnforschung haben daraus den Schluss gezogen, das Dirigieren des Willens durch Prozesse im Gehirn entlaste Menschen von der Verantwortlichkeit für ihr Handeln. Das heißt, sie sind nicht schuldfähig. Ein besonderes Exerzierfeld dieser These ist deshalb das Strafrecht geworden. Denn es beruht bekanntlich auf dem Verantwortlichkeits- und Schuldprinzip. Strafen werden nach dem Maß persönlich zu verantwortender Schuld zugemessen. Das wäre nicht zu rechtfertigen, wenn Menschen gar nichts dafür können, dass sie so handeln, wie es chemische Prozesse in ihrem Gehirn programmieren.
Aber die Schlussfolgerung, Willensfreiheit sei prinzipiell nur eine Illusion, reicht noch weiter. Sie hat grundsätzliche Bedeutung für das Menschenverständnis. Nicht nur unsere körperlichen Handlungen und Bewegungen, sondern auch unser ethisches Wollen, Werten und Urteilen sind dann von einem uns selbst gewissermaßen fremden Vorgang in uns bestimmt. Niemand kann dann anders handeln, als er es tatsächlich tut; der Massenmörder Eichmann nicht, Hitler und Stalin nicht und so auch der Muslim nicht, der seine Tochter prügelt, hat jener oben schon zitierte „Chefatheist“ von Deutschland Michael Schmidt-Salomon behauptet (Jenseits, 147-156). Er nimmt das „Manifest der Hirnforscher“, die aufgrund ihrer Forschungen eine „Veränderung unseres Menschenbildes“ in Aussicht stellen, zum Anlass, ein solches Menschenbild zu zimmern.
Danach sind Gut und Böse, Schuld und Sühne keine das menschliche Leben tragenden Vorstellungen. Sie sind wie alle Moral oder alles Ethos vielmehr „substanzlos und leer“ (Jenseits, 103), weil sie Menschen durch die Erfindung von Normen und Werten bei der Verantwortlichkeit für ihr Tun behaften wollen. Das sei abseitig, wird erklärt. Denn alles Wollen und Handeln von Menschen sei nicht von ihrer freien Entscheidung abhängig, sondern vom limbischen System des Gehirns begrenzt und dirigiert. Die Behauptung einer vollständigen Begrenzung und Bestimmung unseres Wollens und Handelns würde uns allerdings bloß als Marionetten von chemischen Vorgängen verstehen. Das sind wir aber offenkundig nicht, indem wir z.B. Perspektiven und Alternativen für unser Handeln entwerfen. Darum wird nach einem Lebensprinzip gesucht, das der Steuerung unseres Handelns durch unsere Gene am Besten entspricht. Das ist das Natur- und Lebensprinzip des „Eigennutzes“. Es sei der beste Anwalt auch des Altruismus – des Eintretens für das Wohlergehen Anderer – weil das, was den Anderen nutzt, erstlich und letztlich auch mir selbst nutzt (Jenseits, 175).
Diese Nützlichkeits-Ethik „ohne Moral“ kommt jedoch auch nicht umhin, uns wenigstens Handlungsfreiheit zuzugestehen, bei der wir uns frei fühlen, „wenn wir weder durch innere noch äußere Zwänge daran gehindert werden, das zu tun, was wir wollen“. Die „Chimäre“ der Freiheit leistet uns also doch einen ganz nützlichen Dienst, nämlich uns ein Freiheitgefühl zu vermitteln. Die Frage, woher das denn kommt – dieses Freiheitsgefühl – aber wird nicht gestellt. Mit dem Nachweis der Abhängigkeit aller unserer ethischen Urteile von chemischen Vorgängen und Steuerung durch Gene ist es aber auch sonst nicht weit her. Zum Beispiel wird behauptet: Menschen hätten eine „natürliche Veranlagung zur Bestialität“ (Jenseits, 300). Ihr gelte es entgegen zu wirken. Wenn uns unser Gehirn oder unsere Gene aber beides nahelegen, woher kommt dann unsere Fähigkeit zu entscheiden, wie wir uns verhalten sollen? Eine solche Entscheidung muss offenkundig selbst die Freiheit in Anspruch nehmen. Schmidt-Salomon hat diesen Selbstwiderspruch sogar im Untertitel seines Buches untergebracht, der für sein wirres Menschenverständnis charakteristisch ist. „Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind“, lautet dieser Titel. Besser ist eine Steigerung von „gut“! – von einer Kategorie unseres ethischen Urteilens und Verhaltens also, von deren Sinnlosigkeit uns das ganze Buch zu überzeugen versucht.
Sicherlich ist der Gebrauch, der hier von den Ergebnissen der Hirnforschung gemacht wird, extrem einseitig und extrem naturalistisch. Es ist darum m.E. nicht gut, dass dazu einige Wissenschaftler selbst den Anstoß gegeben haben. Denn die Ansicht, dass wir für unsere Taten und unsere ethischen Orientierungen nicht verantwortlich seien, geht weit über das hinaus, was diese Forschung, die noch in den Kinderschuhen steckt, über unsere Freiheit oder Unfreiheit zu sagen erlaubt. Dass mein Gehirn mit chemischen Impulsen bei der Entscheidung mitwirkt, ob ich eine Tasse Tee oder eine Tasse Kaffee trinken möchte, ist doch etwas völlig anderes als die in Freiheit und mit Vernunft durchdachte Entscheidung über Gut und Böse oder über Werte wie zum Beispiel die Werte Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit. Dafür, dass solche Werte, die unser Leben orientieren, aus chemischen und physikalischen Sachverhalten abgelesen werden können, gibt es überhaupt keinen Nachweis.
Das christliche und das vernunftgeleitete Verständnis der Freiheit, das zur Entscheidung für solche Werte und Wahrheiten führt, ist da besser dran. Es kann Einflüssen unserer biologischen Natur auf unser Handeln, aber auch kulturellen Prägungen unseres Bewusstseins beim Handeln nüchtern Rechnung tragen. Es vermag aber zugleich, jedes Handeln und jede ethische Entscheidung immer noch einmal und wieder und wieder auf den Prüfstand zu stellen. Denn es versteht unser Leben nicht als eine Sackgasse der Unfreiheit, sondern als einen Spielraum der Freiheit. In diesem Spielraum können und sollen wir in Anerkennung der Grenzen unseres Lebens in Freiheit Fortschritte machen, die der Menschenwürde und einem menschenwürdigen Leben von Gottes geliebten Geschöpfen zugutekommen.
Denn in der Freiheit des Glaubens an Gott gewinnt unser Leben einen offenen Horizont, den selbst der Tod nicht zustellen und verdunkeln kann. Dass Martin Luther gesagt haben soll, er würde heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen, auch wenn morgen die Welt unterginge, ist zwar eine Legende. Aber es ist eine im Geiste der Freiheit des Christenmenschen gut erfundene Legende. Auf unserer Erde gibt es so viel Unfreiheit, die einen Todesschatten auf das Leben viel zu vieler Menschen wirft. Angesichts dessen legen viel zu viele Menschen im privaten und öffentlichen Leben resigniert die Hände in den Schoß. Die Freiheit des Glaubens resigniert nicht. Denn Menschen, die vom Geist dieser Freiheit erfüllt sind, können es nicht lassen, Neues zu beginnen, in dem sich Gottes nimmer müdes Neuanfangen mit seinen geliebten Geschöpfen spiegelt.