Kategorie: Vorträge
80 Jahre Barmen - Anstoß zur Verantwortung des Auftrags der Gemeinden in einer pluralistischen Gesellschaft"
Vortrag auf dem Konvent des Kirchenkreises Nord-Ost Berlin am 04.12.2013
1. Probleme mit „Gottes Wort“ in Kirche und Theologie
„Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben“.
So lautet die erste These der Theologischen Erklärung, die von der Synode der Bekennenden Kirche, die vom 29.-31.Mai in Barmen-Gemarke, einem Stadtteil von Wuppertal, tagte, beschlossen wurde. Sie ist der Lebensnerv der fünf folgenden Thesen. Mit ihrem Großmachen des „solus Christus“ der Rechtfertigungslehre, mit ihren Anklängen an Martin Luthers Auslegung des 1. Gebots („Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen“) und an die erste Frage des Heidelberger Katechismus („Was ist Dein einziger Trost im Leben und Sterben“?) klingt sie ur-reformatorisch. Die Barmer Erklärung gehört darum zu den Bekenntnisgrundlagen unserer Kirche. Die Pfarrerinnen und Pfarrer werden auf sie ordiniert. Den Gemeinden begegnet sie im Evangelischen Gesangbuch (diesmal mit dem richtigen Text!). So ruht sie mit einer gewissen Selbstverständlichkeit im Schoße unserer Kirche. Aber dass sie für die institutionalisierte Kirche, für die Gemeinden und dann auch für die Theologie praktisch-faktisch einen Anstoß darstellt, sich der Verantwortung des Auftrags der Gemeinden in unserer religiös und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft zu stellen, kann man eigentlich nicht ernstlich behaupten.
Ein Blick in das Zukunftspapier der EKD „Kirche der Freiheit“ und in das EKBO-Pendant „Salz der Erde“ und dessen Nachfolger „Welche Kirche morgen“ genügt, um sich davon überzeugen. In letzterem Papier wird die 6. These, dass die Kirche ihre Botschaft an „alles Volk“ auszurichten habe, gleich im Vorwort als Ermutigung zur „Volkskirche“ hervor- gehoben. Ein paar Seiten weiter erfahren wir, dass das beileibe nicht bedeutet, „an Christi Statt durch Wort und Sakrament“ die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten, sondern dass hier eine „Volkskirche“ gemeint sei, „die eine Vielfalt unterschiedlicher Traditionen kennt und fördert“ und Menschen erreichen möchte, „die ihren individuellen Weg der Spiritualität suchen“. Das ist so ungefähr das Gegenteil von dem, was Barmen wollte und das wird auch nicht dadurch wesentlich gebessert, dass Barmen ein „verbindliches Bekenntnis“ unserer Kirche genannt wird. Dieses Papier steuert vielmehr ziemlich eindeutig darauf zu, die Kirche in ein Charakteristikum der pluralistischen Gesellschaft einzutakten. Das ist die Individualisierung und Privatisierung der Religion. Menschen picken sich aus den Angeboten der Kirchen, aber auch anderer Religionen und aus allerhand Esoterik das heraus, was ihnen für ihr Wohlbefinden als nützlich erscheint. „Bastelreligiosität“ hat der Soziologe Ulrich Beck diese Religiosität genannt. Wenn unser EKBO-Papier auf die derzeit vielbesprochene „Wiederkehr der Religion“ einige Hoffnung setzt, dann muss es notwendig zum Anwalt solcher Bastelreligiosität werden und vergessen, dass die 6. These von Barmen „eigenmächtig gewählte Wünsche, Zwecke und Pläne“ nur gerade nicht anstrebt.
Kurz und gut: Durch die „evangelischen Wahrheiten“ (wie die sechs Thesen in Barmen genannt werden) fühlen sich die Kirchen und Gemeinden trotz der jahrzehntelangen Arbeit des Theologischen Ausschusses der EKU und der UEK an ihren einzelnen Thesen nicht ernstlich angestoßen, in die Zukunft zu gehen. Ihre trotzdem unangefochtene Stellung in der Reihe der Bekenntnisse unserer Kirche verdankt die Barmer Erklärung vielmehr der weitgehenden Einigkeit darüber, dass sie damals – 1934 – das richtige, das nötige Wort war. Die deutschen Kirchen waren in eine Situation geraten, in der – wie Karl Barth das einmal formuliert hat – ihr „gar nichts anderes übrig blieb, als das eine Wort, das Jesus Christus heißt“. Insbesondere die Verwerfungen, die jeder These beigefügt sind, werden von allen Seiten akzeptiert. Aber schon bei den Begründungen dieser Verwerfungen in den Thesen hapert es. Die lutherischen Kirchen haben sie nicht als tragbar für ein Bekenntnis der evangelischen Kirche akzeptiert und die Barmer Erklärung deshalb nicht in ihre Grundordnungen aufgenommen. Einzig der neue Zusammenschluss der Ev.-lutherischen Kirche von Norddeutschland hat sie jetzt bemerkenswerterweise zu ihren Bekenntnisgrundlagen gestellt.
Ansonsten haben die Lutheraner nach wie vor Probleme mit dieser Erklärung und da treffen sie nicht zufällig mit dem Hinneigen unserer Kirche und erst recht der Theologie zum religiös- individuellen Subjektivismus zusammen. Denn beide haben mit der durchgehendchristologischen Konzentration und Ausrichtung der Barmer Erklärung ihre Schwierigkeiten. Sie befähige uns nicht, uns auf die religiöse Situation der Gesellschaft und der Menschen von heute einzulassen, wird gesagt. Barmen sei zwar seinerzeit nötig gewesen. Heute sei dieser Text kontraproduktiv. Dieser Einwand gehört in der Universitätstheologie von heute in eine ziemlich breite Wendung gegen die sog. „Theologie des Wortes Gottes“ hinein, deren ziemlich starke Spuren wir auch in der Kirche und den Gemeinden wahrnehmen können. Nicht ein den Menschen „von oben“ oder von „außen“ vorgesetztes Wort Gottes, sondern die bei Menschen schon immer anzutreffende „Religion“ sei unter Berücksichtigung der christlichen Tradition zu explizieren, wenn die Kirche die „Lebenswelt“ von Menschen erreichen und betreffen will.
Die für die Ausbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern, Religionslehrerinnen und Religionslehrern so wichtige Praktische Theologie ist Vorreiterin dieser Lahmsetzung von Barmen. „Programmatisch spielt die Kategorie W[ort] G[ottes] (anders als die der „Rel[igion]“ für die gegenwärtige Praktische Theol[ogie]) keine Rolle“, hat Michael Mayer-Blank im Artikel „Wort Gottes“ der neuen RGG4 im Jahre 2005 gesagt (1707). Der Artikel „Praktische Theologie“ verschweigt sie dementsprechend ganz. Im Impulspapier „Kirche der Freiheit“ macht sich diese Tendenz neben vielem anderen dadurch bemerkbar, dass nach dem Modell von Dietrich Rößler in Zukunft ein kirchliches Christentum in den Gemeinden, die „Gottes Wort“ hören, nur noch als eine Dimension der Kirche neben einem öffentlichen Christentum in „kulturellen Zusammenhängen“ und einem „individualisierten Christentum“ in unterschiedlichster „privater Frömmigkeit“ befördert bzw. gepflegt werden soll.
Dazu stößt uns Barmen, welches die Kirche eindeutig als Gemeinde (These 3), sprich: als „kirchliches Christentum“ versteht, ganz gewiss nicht an. Diese Erklärung stößt uns vielmehr heute darauf, uns mit dem Zerrbild des Verständnisses des Wortes Gottes als einer abstrakten religiösen Ideologie ebenso wenig abzufinden wie mit der Marginalisierung der Gemeinde für das Verständnis der Kirche und ihres Auftrages. Das Vergegenwärtigen dieser Erklärung wehrt zudem der Geschichtslosigkeit, in der eine theologische Denkweise, welche die deutschen Kirchen in der NS-Zeit einmal an den Rand ihrer Zerstörung getrieben hat, gereinigt von ihren „braunen“ Inhalten, zur Basis der Zukunft der Kirche als „Religion in der Gesellschaft“ gemacht werden soll. Es ist keine quantite negligable, dass Emmanuel Hirsch, einer der schlimmsten Nazis unter den Theologen, heute an deutschen Universitäten als bedeutendster Theologe des 20. Jahrhunderts gefeiert und die Herausgabe seiner gesammelten Werke in 48 Bänden ein von allen möglichen Seiten gefördertes Großprojekt ist. Es ist auch noch nicht vergessen, dass sich das Kultur- und Privatchristentum in der DDR im Eiltempo verflüchtigte, als es nur ein wenig unter Druck geriet. Und es ist auch nicht vergessen, dass Barmen in dieser Zeit eine Instanz war, die gegen das Segeln von Kirche und Theologie im realsozialistischen Winde in Anspruch zu nehmen war.
Aber in unserer schnellen Zeit wird schnell vergessen. Ehe wir uns anstoßen lassen, den uns geltenden Herausforderungen von Barmen stellen, ist es deshalb doch geraten, dass wir uns in aller Kürze die Situation vergegenwärtigen, in die Barmen 1934 hinein geredet hat.
2. Das deutsch-christliche Theologiemodell
Nach der Machtergreifung Hitlers im Jahre 1933 gewannen die sog. „Deutschen Christen“ im Juli 1933 die Kirchenwahlen und hatten in den meisten Landeskirchen die Mehrheit. Sie besetzten alle kirchlichen Ämter und versammelten sich im September 1933 zu einer Nationalsynode in Wittenberg. Dort wählten sie den Königsberger Kreiswehrpfarrer Ludwig Müller zum Reichsbischof. Dagegen begann sich gegen Ende des Jahres 1933 eine Opposition zu formieren, die durch den von Martin Niemöller gegründeten „Pfarrernotbund“ starken Zulauf bekam. Ähnliche Zusammenschlüsse in den anderen Landeskirchen, einzelne Bekenntnisgemeinden und die sog. intakten Landeskirchen, wo die Deutschen Christen nicht gesiegt hatten, trafen sich nach etlichen Vorverhandlungen zur Barmer Bekenntnissynode, auf der sich die „Bekennende Kirche“ eine theologische Grundlage geben wollte.
Zu diesem Zwecke lagen eine ganze Reihe von theologischen Grundsatzerklärungen vor, mit welchen den „Deutschen Christen“ entgegen getreten werden sollte. Darum wurden die beiden lutherischen Theologen Thomas Breit aus Bayern und Hans Asmussen aus Hamburg-Altona zusammen mit dem reformierten Theologieprofessor Karl Barth aus Bonn beauftragt, aus dem Allem eine Vorlage für eine Bekenntnissynode zu erarbeiten. Sie trafen sich am 16.Mai 1934 im Hotel „Baseler Hof“ in Frankfurt am Main. Im Unterschied zu den beiden Lutheranern aber hatte Karl Barth schon einen eigenen Entwurf für solche Erklärung mitgebracht, der am Vormittag diskutiert wurde. Karl Barth hat den Fortgang der Dinge dann folgendermaßen geschildert: Während sich die beiden Lutheraner einem realen „dreistündigen Mittagschlaf“ hingaben, habe „ich, mit einem starken Kaffee und 1-2 Brasil-Cigarren versehen, den Text der 6 Sätze redigiert“. Man müsse darum sagen, hat er launig bemerkt, „Die lutherische Kirche hat geschlafen und die reformierte Kirche hat gewacht“ (Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf, München 1975, 258).
Doch wie dem auch sei: Die Folge dessen war, dass die Barmer Theologische Erklärung tatsächlich die Handschrift von Karl Barth trägt. Das hat sich in der Folgezeit als nicht unproblematisch erwiesen, sofern es dann nicht an Versuchen gemangelt hat, diese Erklärung auf die nur spezielle Meinung eines Theologen zusammen zu schrumpfen. Tatsache ist aber, dass die Barmer Synode nach der Verabschiedung dieser Erklärung wie ein Mann – inclusive der einen Frau von Mackensen – aufgesprungen ist und „Nun danket alle Gott“ angestimmt hat.
Die theologische Position der „Deutschen Christen“, gegen welche die Synode sich positionierte, ist nicht zu verwechseln mit der Ideologie der sog. deutsch-gläubigen Bewegung, wie sie etwa in der Confessio Germanica bzw. dem Deutschapostolikum zum Ausdruck kam. Es heißt dort:
„Ich glaube an den Gott der Deutschreligion, der in der Natur, im hohen Menschengeist und in der Kraft seines Volkes wirkt. Und an den Nothelfer Krist (mit K!), der um die Edelkeit der Menschenseele kämpft. Und an Deutschland, das Bildungsland der neuen Menschheit“ (vgl. Kurt Dietrich Schmidt, Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage des Jahres 1933, Göttingen 1934, 131).
Dieser „Deutsch-Religion“ näherte sich der Gymnasiallehrer Krause aus Pankow-Niederschönhausen am 13. November 1933 bei einer Massenveranstaltung der „Deutschen Christen“ des „Gaues Berlin“ im Berliner Sportpalast an. In der Entschließung dieser Kundgebung wird gesagt:
„Wir fordern, dass eine deutsche Volkskirche Ernst macht mit der Verkündigung der von aller orientalischen Entstellung gereinigten schlichten Frohbotschaft und einer heldischen Jesus-Gestalt als Grundlage eines artgemäßen Christentums [...]. Wir bekennen, dass der einzige wirkliche Gottesdienst für uns der Dienst an unseren Volksgenossen ist“ (vgl. a.a.O., 134).
Dass dies nicht mehr Ausdruck des christlichen Glaubens war, konnte im Grunde jeder Konfirmand erkennen. Auch viele Anhänger der „Deutschen Christen“ waren entsetzt. Die Sportpalastkundgebung hatte darum eine Austrittswelle aus dieser „Glaubensbewegung“ zur Folge. Den „Deutschen Christen“ ging es vielmehr darum, den Glauben an Jesus Christus mit Hilfe einer spezifisch deutschen Gotteserfahrung für die Gemeinden neu verbindlich zu machen. Sie wollten eine „kontextuelle“ Theologie und traten richtiggehend als volksmissionarische Bewegung auf. Zu diesem Zwecke bedienten sie sich einer theologischen Denkfigur, die in den reformatorischen Kirchen eine lange Tradition hatte. Nach dieser Tradition geht Gott uns sündige Menschen auf zweierlei Weise an. Er begegnet uns im Evangelium von Jesus Christus, der uns aus Gnaden Sünden vergibt und uns Glauben schenkt. Da aber nicht alle Menschen diesen Glauben annehmen, regiert er die Welt außerdem mit dem Gesetz. Das bedeutet: Er gibt der Welt bestimmte Ordnungen, in denen er Menschen zwingt, sich seinem Willen zu unterwerfen. Solche Ordnung ist z.B. die Familie, in welcher der Familienvater, der zugleich Wirtschaftsboss ist, als „Stellvertreter Gottes“ den Willen Gottes durchsetzt. Es ist aber vor allem die „Obrigkeit“, welche mit der Macht des Schwertes im Namen Gottes für Frieden und recht in dieser sündigen Welt zu sorgen hat.
Das alles sind mittelalterliche Vorstellungen. Familie und Staat sind für uns heute von Menschen verantwortete Institutionen und nicht gleichsam vom Himmel über uns gesenkte göttliche Strukturen. Schon im 19. Jahrhundert unterlag darum die Vorstellung von den Ordnungen Gottes für uns Menschen der Kritik. Anstelle dessen wurde die Vorstellung entwickelt, dass Gott uns durch geschichtliche Erfahrungen schon immer sein Gesetz spüren lässt. An diesem Punkt takteten sich die „Deutschen Christen“ ein. Sie vertraten die Ansicht, dass wir spezifisch in der Geschichte des deutschen Volkes die gesetzgebende Stimme des Schöpfergottes zu vernehmen hätten, ohne die wir das Evangelium von der Gnade Gottes gar nicht zu vernehmen vermögen. Bei den sächsischen „Deutschen Christen“ klingt das so:
Wir sind durch Gottes Schöpfung hineingestellt in die Blut- und Schicksalsgemeinschaft des deutschen Volkes [...] Wie jedem Volk, so hat auch unserem Volk der ewige Gott ein arteigenes Gesetz eingeschaffen. Es gewann Gestalt in dem Führer Adolf Hitler und in dem von uns geformten nationalsozialistischen Staat“ (a.a.O., 102).
Ganz auf dieser Linie heißt es im sog. „Ansbacher Ratschlag“: Der Wille Gottes ist das Gesetz, das uns an die „natürlichen Ordnungen [...] wie Familie, Volk, Rasse (d.h. Blutzusammenhang)“ und an einen „bestimmten Moment“ der Geschichte bindet (vgl. Kurt Dietrich Schmidt, Die Bekenntnisse 1934, 102ff.). Gott kommt uns nahe, sagte Emmanuel Hirsch, in der „heiligen Bindung von Blut und Boden, von Rasse und Vererbung, von Ehre und Gemeinschaft, von wahrem Sozialismus, von Opfer und Pflicht“ (Der Weg der Theologie, Stuttgart 1937, 13). Er löst echten „religiösen Idealismus“ aus, der seine „Mitte im Erlebnis der heilig verpflichtenden Gewalt des Volkstums“ hat. Nehmen Menschen daran kämpfend teil, dann erst lässt die Offenbarung des Evangeliums „Gottes Wunderkind“ in uns geboren werden, nämlich den Glauben, „dass Gottes Liebe uns gegenwärtig ist“ (Der Offenbarungsglaube, in: Hammer und Nagel. Theologische Lehrschriften, Heft 2, Bordesholm 1934, 38).
Damit das geschehen kann, hat Hirsch die „Ursprünglichkeit und Rücksichtslosigkeit“ begrüßt, mit der sich der „Selbsterhaltungswille“ des deutschen Volkes Raum brach. Er hat die Ariergesetzgebung bejaht. Die Aufgabe der Kirche sei es, „das Geheimnis der mit dem Blute empfangenen Kraft und Art heilig zu halten“. Sie darf „Mischheiraten“ und dem „Überwuchern der Minderwertigen“ nicht tatenlos zusehen. Darum dürfen keine „Halbdeutschen“ die kirchlichen Ämter überschwemmen. Von der Kirche wird gefordert, dass sie „echte wagende Führung“ brauche, „die auch durchgreift“ und den Pastoren „innere Straffheit“ beibringt und an ihnen „meißelt“. In der Kirche muss es zugehen, wie in einem „unter Führung und Befehl stehenden Offizierskorps“ und dafür biete der Kreiswehrpfarrer Müller als Reichsbischof die beste Gewähr (vgl. Das kirchliche Wollen der deutschen Christen, Berlin 1933, 15f.)
Aus diesen Positionen der Deutschen Christen ergeben sich im Grunde die Themen der 6 Barmer Thesen von alleine und wir müssen fragen, ob sie sich auch für uns in unserer Situation ergeben. Es musste geklärt werden, was mit Recht Gottes Offenbarung (These 1), was Gottes Gesetz (These 2), was die Kirche (These 3 und 4), was der Staat (These 5) und was kirchlicher Auftrag (These 6) heißt. Es fällt aber auch sofort auf, was fehlt, nämlich eine Stellungnahme zur Ariergesetzgebung und damit zum Verhältnis von Kirche und Israel. Das ist ein schlimmes Versäumnis, ja – wie Karl Barth gesagt hat – eine Schuld, welche sich auch im Fehlen alttestamentlicher Zitate bei den Schriftworten zeigt, die jeder These voran gestellt sind, um die Thesen als Ergebnis des Hörens auf die Schrift zu charakterisieren.
3. Die Orientierung an der Wahrheit und der religiöse Pluralismus
Ein Problem fast aller Barmer Thesen ist, dass die, die ihr 1934 zugestimmten, nicht ganz das Gleiche unter dem verstanden haben, was dort gesagt wurde. Das gilt insbesondere für die erste These. Die Tendenz ist zwar klar: Es soll unter Berufung auf das eine Wort Gottes ausgeschlossen werden, dass andere „Gestalten, Mächte und Wahrheiten“ – sprich: das Volkstum oder Adolf Hitler – von der Kirche als Offenbarung Gottes in Anspruch genommen werden. Im Sinne Karl Barths ist deshalb die erste These so zu hören: Jesus Christus ist die einzige Offenbarung Gottes. Die meisten „lutherischen“ Teilnehmer von Barmen aber haben die erste These so gehört: Jesus Christus ist das entscheidende Wort, so dass daneben durchaus auch noch mit anderen Offenbarungen Gottes gerechnet werden kann, wobei zugegeben wird, dass – gemessen am christlichen Verständnis von Offenbarung – Adolf Hitler schwerlich eine solche Offenbarung war.
Wer die Verwerfung genau liest, wird bemerken, dass für die Ansicht, es könne andere Offenbarungen geben, aber auch eine Türe offen bleibt. Es wird nicht verworfen, dass es andere Offenbarungen Gottes geben könne, sondern nur, dass sie zur Quelle der Verkündigung der Kirche gemacht werden. In diesem Sinne hat auch Karl Barth gesagt: „Gott kann durch den russischen Kommunismus, durch ein Flötenkonzert, durch einen blühenden Strauch oder durch einen toten Hund zu uns reden“ (Die Kirchliche Dogmatik I/1, München 1932, 56). Wir sind aber nicht beauftragt, das zur Grundlage der Verkündigung der Kirche zu machen
Warum eigentlich nicht? wird demgegenüber damals und verstärkt heute gefragt. Müssen wir uns nicht auf die Erfahrungen beziehen, die Menschen in ihrem Leben schon immer mit Gott machen? Verengt die Rede von dem einzigen Wort Jesus Christus die Weite des Wirkens Gottes unter den Menschen nicht unzulässig? Äußert sich hier nicht ein christlicher Hochmut, ein „Absolutheitsanspruch“, der meint, alleine der christliche Glaube und damit die Kirche sei im Besitz der offenbaren Wahrheit? Das wird heute besonders im Blick auf andere Religionen geltend gemacht, die wir in unserer pluralistischen Gesellschaft viel hautnäher erfahren als in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Muss man ihnen nicht zubilligen, dass auch sie wahre Offenbarungen Gottes erfahren haben und letztlich denselben Gott verehren wie die Christenhei
In Beantwortung dieser Frage hat mein ehemaliger Kollege in der Praktischen Theologie Klaus-Peter Jörns in seinem Buch „Notwendige Abschiede“ im gemischten Chor mit vielen anderen behauptet: „Überall da, wo Gott in irgendeiner Gestalt geglaubt wird,“ wird „immer wirklich Gott bezeugt“ (Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh 22004, 357). Das ist in Bezug z.B. auf die „Deutschreligion“ oder auf den Konstantinismus des Christentums gestern und den Islamismus heute zwar ein manifest falscher Satz. Er bildet aber die Grundlage für die Behauptung, auch die christliche Religion sei nur eine relative „Wahrnehmungsgestalt“ Gottes unter anderen in der „universalen Wahrnehmungsgeschichte“ Gottes (a.a.O., 119f u.ö.). Der „Anspruch der Christen, die Bibel sei einzige Offenbarungsquelle, ja, das alleinige Wort Gottes“, wird darum bestritten (ebd.). Vom Verständnis der Bibel als Kanon soll „Abschied“ genommen werden (a.a.O., 179). Damit fällt auch die Orientierung des christlichen Glaubens an der Wahrheit. Das „Kriterium“ von Gottesbegegnungen ist Glaubwürdigkeit, „Authentizität und nicht Wahrheit“ (a.a.O., 181), d.h. subjektiv- individuelle Überzeugungskraft , in der Menschen ihre religiösen Erfahrungen vertreten. Nicht zufällig spielt das Ich der Predigerinnen und Prediger auf Kanzeln und bei Andachten auf dieser Linie eine immer größere Rolle. Nach Jörns soll das so sein. Er will deshalb verschiedene nach Kriterien der subjektiv-religiösen „Authentizität“ ausgewählte Typen von „Wahrnehmungsgestalten“ Gottes aus der Bibel, dem Koran, dem Buddhismus und Hinduismus zum Grundtext der kirchlichen Verkündigung machen. Eine Beerdigungsliturgie für ein Haustier, welche die Erde als „neuen Mutterschoß“ für sein Leben reklamiert (vgl. a.a.O., 265), gibt zudem eine Offenheit für das Anliegen der Naturreligionen zu erkennen.
Jörns, der hier nur als Beispiel für vielfache, ähnlich geartete Tendenzen in Kirche und Theologie steht, erhebt aufgrund von Umfragen den Anspruch, damit die Meinung eines großen Teils der Berlin-Brandenburgischen Pfarrerschaft zu vertreten. Ob das stimmt, kann ich nicht beurteilen. Unzweifelhaft aber wird mit der skizzierten Relativierung des Wahrheitsbezugs des Verkündigungsauftrags der Kirche auf ein heute viel diskutiertes Problem reagiert. Die Beanspruchung religiöser Wahrheit steht nicht erst seit dem 11. September 2001 in Verdacht, sich zwangsläufig mit Intoleranz und Gewalt gegenüber Andersglaubenden zu verbünden. Nach Jan Assmann gehört das zum Wesen des Monotheismus (Die mosaische Entscheidung und der Preis des Monotheismus, München 2003) und nach den „neuen Atheisten“ sogar zum Wesen jeder Religion. Doch angesichts solcher Behauptungen ist es nicht geraten, vor der Wahrheitsfrage zu kapitulieren und die christliche Verkündigung auf das Maß subjektiv religiöser Beliebigkeit oder „eigenmächtig gewählter Wünsche, Ziele und Zwecke“ (Barmen 6) zurück zu schrauben. Zuerst ist es vielmehr nötig, Verständigung darüber zu erzielen, was Wahrheit heißt und dafür ist die „evangelische Wahrheit“ von Barmen I sehr hilfreich.
Das „eine Wort Gottes“ ist nämlich überhaupt nicht zu verwechseln mit irgendeiner Form kirchlichen Wahrheitsbesitzes. Es ist ja, wie These 6 präzisiert, „Gottes eigenes Wort“, die Offenbarung seines Logos, der Jesus Christus heißt. Es ist das Ereignis der Anrede Gottes an uns, die uns in ihrem Geheimnis immer unverfügbar bleibt. Ihrer kann man nur im Glauben, der sich wesenhaft auf Unverfügbares – also auf das, was wir niemals mit unserer religiösen Subjektivität einholen – richtet, gewiss werden. Kein weltlicher Mechanismus und erst recht keine Gewalt kann erzwingen, dass solcher Glaube sich einstellt. Die christliche Verkündigung kann im Dienste dieses Wortes nur auf den Ort in der Welt hinweisen, an dem es zu hören ist, damit der Glaube aus dem Hören geweckt wird.
Insofern ist die Behauptung der wesensmäßigen Verbindung dieses Glaubens mit Intoleranz und Gewalt abseitig. Wo es zu dieser Verbindung kam und kommt, hat er sich mit der Unwahrheit verbündet und aufgehört, Glaube an die Wahrheit zu sein. Da dies in der „Welt der Sünde“, in der auch die Kirche existiert (These 3), immer wieder geschieht, gehört das kritische Prüfen der Verbindungen, welche Glaube und Verkündigung in der Welt eingehen, zum Wesen einer christlichen Kirche. Wir können auch sagen, ohne Selbstkritik am Maßstab des unverfügbaren Wortes Gottes ist die Kirche als „Christi Eigentum“ im strengen Sinne (These 3) gar nicht existenzfähig.
Was aber die Frage nach der Wahrheit in anderen Religionen, aber auch in allerhand Religiosität und sogar in der für den Osten Deutschlands so typischen Gottesvergessenheit betrifft, so hält uns Barmen 1 dazu an, dafür offen zu sein, dass das eine unverfügbare Ereignis des Wortes Gottes nicht an Kirchengrenzen gebunden ist. Wenn nicht in Frage gestellt wird, dass es Offenbarungen Gottes außerhalb der Kirche geben kann, dann geht es um Offenbarungen gerade dieses einen Logos, um Christus in der Welt der Religionen, des Religiösen, aber auch im Milieu der atheistischen Konfessionslosigkeit. Eigentlich müsste diese Einsicht in einer zeitgemäßen Trinitätslehre expliziert werden. Das können wir nicht machen. Aber dass wir für Spiegelungen der Wahrheit des einen Wortes – für „wahre Worte außerhalb der Kirche“, wie Karl Barth das genannt hat – auch in den Religionen, auch bei religiösen und gottesvergessenen Menschen offen sein können und in dieser Offenheit den Dialog mit ihnen suchen sollen, ist von Barmen 1 her selbstverständlich.
Wovor wir dagegen gewarnt werden, ist, uns aus solchen Spiegelungen selbst ein religiöses Gemisch zusammen zu brauen und es zur Grundlage unserer Verkündigung zu machen. Was uns nicht erspart bleibt, ist außerdem das Prüfen aller Gotteserfahrung bei uns selber, in den Religionen und aller möglichen Religiosität in der Gesellschaft. Darauf können wir angesichts der Ungeheuerlichkeiten, für die Menschen „Gott“ immer wieder in Anspruch zu nehmen, niemals verzichten. Wo Menschenhass und Gewalt befördert werden, kann der christliche Glaube Gott nicht am Werke erkennen, weder in der Christenheit noch außerhalb ihrer selbst. Ohne einen Maßstab, was Wahrheit in Sachen des Glaubens zu heißen verdient, würde sich die christliche Kirche auch als ernstliche Teilnehmerin im Dialog der Religionen verabschieden.
4. Der Anspruch Christi und die Weltverantwortung
Die zweite These von Barmen ist vielleicht noch mehr umstritten, als die Erste. Denn sie behauptet, dass das Gebot, der „Anspruch“ Jesu Christi, in allen Bereichen unseres Lebens gilt. Dagegen wird nicht nur mit einem christusunabhängigen Verständnis des Gesetzes Gottes, sondern auch mit dem Gewicht von Erfahrungen auf die Bremse getreten. Mit dem Evangelium kann man keine Gesellschaftspolitik machen, keine Wirtschaft voranbringen, keine Wissenschaft befördern, heben Vertreterinnen und Vertreter der sog. „Zwei-Reiche-Lehre“ hervor. Alle Bereiche der Welt, hieß es schon in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, haben eine „Eigengesetzlichkeit“ (Max Weber). Versucht man, sie dem Gesetz Christi zu unterwerfen, dann macht man sich des Versuchs schuldig, der Gesellschaft ein christliches Gesetz aufzuzwingen. Man vergesetzlicht zudem das Evangelium, so dass nur noch ein bestimmtes Verständnis der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Wissenschaft als das allein christliche gilt. Wer nicht so denkt und handelt, wie einige das Gebot Christi verstehen, wäre dann im Grunde keine Christin und kein Christ mehr.
Wir hatten z.B. in der DDR eine Diskussion auf dieser Linie, als in der Kirche die Möglichkeit, waffenloser „Bausoldat“ zu werden, weithin als das eigentliche christliche Handeln (als das „eindeutigere“ Zeugnis wurde vorsichtshalber gesagt) angesehen wurde. Waren die, die zur NVA gingen, dann keine rechten Christen mehr? In der alten Bundesrepublik hat das Moderamen des reformierten Bundes mit seinem „Nein ohne jedes Ja“ zur Atomrüstung eine ähnliche Diskussion ausgelöst. Mit dem Bekenntnis zu Jesus Christus sei eine Bejahung dieser Rüstung unvereinbar. Wäre dann die Existenz der Kirche in einem Staat, der einem mit Atomwaffen gerüsteten Bündnis angehört, nicht eigentlich eine Verleugnung Jesu Christi?
Vergleichbare Fragen stellen sich, wenn heute bestimmte Konzepte zur Steuerung der wirtschaftlichen Globalisierung, zur Bankenregulierung oder Positionen zur Stammzellenforschung als die allein christlichen ausgegeben werden. Zeigt das alles aber nicht, dass der Anspruch des Sünden vergebenden Jesus Christus auf alle Bereiche unseres Lebens doch begrenzt ist? Ist Dietrich Bonhoeffer, der konsequenteste und rabiateste Barmen-Ausleger in der Bekennenden Kirche, auf den sich heute viele berufen, ohne seine Theologie zu kennen, nicht viel zu weit gegangen, als er im Ethik-Fragment „Christus, die Wirklichkeit und das Gute“ behauptet hat, die Welt sei als der eine Raum der „Christuswirklichkeit“, der Gestaltwerdung Christi, zu verstehen (vgl. DBW 6, 70)?
Antwort auf solche Fragen kann uns der zweite Satz der zweiten These, den Hans Asmussen (merkwürdigerweise zum Missmut von Karl Barth) beigesteuert hat, geben. Er lautet: Durch den Anspruch (!) Christi „widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbaren Dienst an seinen Geschöpfen“. Auffällig ist hier der hervorgehobene Gebrauch des Wortes Freiheit. Es widerfährt uns „frohe Befreiung“ zu „freiem Dienst“. Die Befreiung besteht darin, dass wir von den „gottlosen Bindungen“ dieser Welt loskommen, d.h. von dem, was uns in der Welt und aus der Welt heraus mit dem „Anspruch göttlicher Bindung“, also mit einem Absolutheitsanspruch gleich welcher Art begegnet. Nichts jedoch hat nach Barmen II in der Welt die Qualität, uns wie ein Gott binden zu dürfen, weder die religiöse Subjektivität noch der Atheismus. Unter dem frei machenden Anspruch Jesu Christi wird uns die Welt vielmehr zum relativen, Bonhoeffer sagt: echt weltlichen Ort unseres Daseins. Sie sind als Vorletztes in ihrer Weltlichkeit ernst nehmen. Alles Absolutsetzen von Dimensionen dieses Vorletzten im Namen der Wirtschaft, der Politik oder der Wissenschaft scheidet damit aus.
Positiv aber können Menschen unter dem Anspruch Christi als freie, selbstständige, verantwortliche Subjekte ihren relativen Beitrag zur göttlichen Bejahung und Bewahrung der Geschöpfe und der Welt leisten. Barmen II prägt ein, dass diese Weltverantwortung „mit gleichem Ernst“ zum Kirche- und Christsein gehört, wie der Glaube. Rückzug auf das bloße Kirchesein abseits der Welt, wie die Devise „Die Kirche muss Kirche bleiben“ manchmal verstanden wurde, scheidet damit aus.
Leider aber sind die Linien, die von dorther zur christlichen Bejahung und Mitverantwortung eines demokratischen Staatswesens führen, in der 5. These so gut wie nicht mehr zu erkennen. Wir finden sie deutlich nur in Barths ursprünglichem Entwurf dieser These, wo von dem in der Bindung an seinen Auftrag „freien Staat“ die Rede ist. Das war auf der Barmer Synode, die mehrheitlich der Vorstellung des Obrigkeitsstaates anhing, nicht durchzusetzen. Barth hat diese These darum in Barmen umformuliert. Sie redet jetzt von der Verantwortung der „Regierenden und Regierten“ und setzt ein nur für Kundige erkennbare Zeichen, dass die 5. These auf die erste und zweite bezogen werden will. In Bezug auf den Staat vertraut und gehorcht die Kirche „der Kraft des Wortes Gottes, durch das Gott alle Dinge trägt“ (Hbr. 1,3). Der freie Dienst an Gottes Geschöpfen besteht dann nicht nur darin, dass man sich als Regierter gegenüber der Obrigkeit wohl verhält, sondern dass man den Staat und die Politik, die er macht, als Sache der eigenen Verantwortung, der Verantwortung aller begreift. Insofern haben wir es hier in einem Bekenntnistext der Kirche im deutschen Raum zum ersten Mal mit einer – wenn auch etwas versteckten – Tendenz zur theologischen Begründung eines demokratischen Staatswesens zu tun.
5. Die Kirche als Gemeinde
Drei Barmer Thesen, die 3., 4. und 6., handeln von der Kirche. Charakteristisch für alle drei ist, dass sie die Kirche – gemäß der reformatorischen Tradition (CA VII) – von der Versammlung der Glaubenden, also von der Gemeinde und ihrem Auftrag – Wort und Sakrament – her verstehen. Übel stößt uns freilich auf, dass diese Gemeinde nur als eine Gemeinde von „Brüdern“ bezeichnet wird. Ein bisschen könnte diese die Frauen ignorierende Formulierung vielleicht dadurch gerechtfertigt sein, als „Bruderschaft“ damals der Begriff war, unter dem sich die Bekennende Kirche gegen den Ausschluss von „Nichtariern“ aus kirchlichen Ämtern gewehrt hat. Aber auch das kommt dann hier nur auf ziemlich versteckte Art und Weise zum Ausdruck. In beiden Hinsichten muss über diesen Text hinausgegangen werden.
Für uns heute provozierend aber bleibt die Aussage, dass die Gemeinde nicht nur mit ihrer Botschaft (Wort und Sakrament), mit ihrem Glauben und mit ihrem Handeln (Gehorsam), sondern auch mit ihrer Ordnung zu bezeugen hat, dass sie „Christi Eigentum“ ist. Der Ordnung der Kirche, also ihrer institutionellen Gestalt wird also Zeugnischarakter zugesprochen. An ihr soll erkennbar werden, dass es die Institutionalisierung des Dienstes der Menschen ist, die zu Jesus Christus gehören. Damit wiederholt sich hier strukturell eine Problematik, auf die wir schon in der 2. These gestoßen waren.
Ist die Institution nicht ein rein „weltlich Ding“ mit einer „Eigengesetzlichkeit“? Überfordern wir unsere geschichtlich ererbten und neu geschaffenen Strukturen, unsere Verwaltung, unser Finanzgebaren, unsere Personalpolitik usw., usw. nicht maßlos, wenn wir auch mit ihnen unsere Botschaft zum Ausdruck bringen wollen? Worauf Barmen zielt, lässt sich nüchtern gesehen, allenfalls für eine Kleingruppe realisieren, aber schwerlich doch für eine Großinstitution, die sich für ihre Organisation unausweichlich weltlicher Verfahrensweisen bedienen muss. Die zaghaften Bestrebungen nach 1945, in den Landeskirchen ein Nächsten- und Bruderschaftsrecht für eine in Christus füreinander eintretende solidarische Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern zu installieren, sind alle in Ansätzen stecken geblieben.
Auf der anderen Seite ist aber auch unbestreitbar, dass die institutionelle Ordnung der Kirche zur Behinderung, wenn nicht zur faktischen Gegenpredigt gegen die christliche Botschaft zu werden vermag. Wenn diese Ordnung der Gesellschaft nichts weiter vor Augen führt als dies, dass es in der Kirche auch nicht besser zugeht als in irgendwelchen weltlichen Institutionen, dann dürfte etwas nicht in Ordnung sein. Die mit aller Institutionalisierung von Verantwortungsbereichen gegebene Gefahr des Bürokratismus, der Personen nicht mehr wahrnimmt und für sie eintritt, ist ein anschauliches Beispiel dafür, was in der Kirche nicht sein soll. Das bedeutet aber: Was sich jenseits und abseits der Gemeinde, in der die Personen leben, als Kirche einrichtet, ist von Barmen her kritisch unter die Lupe zu nehmen. Barmen provoziert – kurz gesagt – unsere Kirche mit der Zumutung, alle ihre Ordnung auf den Zeugnischarakter und das brüderliche und schwesterliche Leben der ganzen Gemeinde hin durchsichtig zu machen.
Das Stichwort „ganze Gemeinde“ verschärft diese theologische Provokation noch. Die 4. These sagt (in einer grammatisch leider schiefen Gestalt), die verschiedenen Ämter seien die Ausübung des „der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes“; mehr noch, sie behauptet, in der Kirche dürfe es keine Herrschaft der einen über die anderen geben. Jede Auffassung kirchlicher Ämter, die das Entstehen einer Ämterhierarchie begünstigt, die notwendig zu Herrschaftsstrukturen führt, wird darum kritisiert. „In der christlichen Gemeinde sind entweder Alle Amtsträger oder Keiner – wenn aber Alle, dann alle als Dienstleute“, hat wiederum K. Barth in Interpretation dieser Auffassung gesagt (KD IV/2, 787). Wie klingt das angesichts der fortwährenden Spaltung der Gemeinde in „Amtsträger“ und „Laien“? Die hat ja zur Folge, dass selbst die, welche zur Gemeinde gehören, von der Kirche, nämlich von der „Amtskirche“ reden, als seien sie das nicht selbst.
Die 4. These macht demgegenüber – in Abgrenzung gegen das „Führerprinzip“ – das sog. Priestertum aller Gläubigen, also die Verantwortlichkeit Aller für das Zeugnis von Jesus Christus zum Zentrum der kirchlichen Wirklichkeit. Leider hat es sich heute eingebürgert, diese Verantwortlichkeit mit dem sog. „Ehrenamt“ in einen Topf zu werfen und sich dabei zu beruhigen. Doch das ist eine Kategorie aus dem Vereinswesen, die dem internen Florieren des Vereins gilt. Das Priestertum alle Gläubigen aber meint, dass jeder, der an Jesus Christus glaubt, in der Lage sein sollte, in seiner Lebenswelt in Beruf und Familie, in der Freizeit und im gesellschaftlichem Leben selbst vom Glauben der christlichen Gemeinde reden zu können. Was bedeutet das angesichts der Beförderung des dazu notorisch unwilligen Kultur- und Privatchristentums durch die kirchliche Großorganisation, aber doch auch durch die Gemeinden? Ist das ein Wolkenkuckucksheim, weil das Bedürfnis der Mitglieder der Volkskirche, ab und zu religiös versorgt zu werden, als ein soziologisch stabileres Element für die Existenz der Kirche gilt als die Fähigkeit der Glaubenden, in ihrer Lebenswelt selbst für die „Botschaft von der freien Gnade Gottes“ einzutreten
Wir werden durch Barmen 4 jedenfalls dazu angestoßen, uns nicht damit abzufinden, dass das Selbstverständnis der meisten Glieder unserer Landeskirche das von sporadischen stummen Nutznießern eines religiösen Angebots ist. „Ich glaube, darum rede ich“, sagt der Apostel (2 Kor 4,13). Diese Maxime einer apostolischen Kirche kann nicht alleine an Ämter und Ehrenämter delegiert werden, auch nicht aufgrund der Sorge, die rechte Verkündigung des Evangeliums würde damit an das unqualifizierte Urteil von „Laien“ ausgeliefert. Dass die Bekennende Kirche, z.B. in der Person Dietrich Bonhoeffers, am Ende bei einer strammen Amtstheologie gelandet ist, hängt mit dieser Sorge zusammen. Hier wirkte das Trauma nach, dass die Deutschen Christen durch Wahlen der Gemeinde einen solchen Einfluss in der Kirche gewinnen konnten. Doch das war ja nur eine Konsequenz derjenigen Verkündigung und Gemeindearbeit, welche die Gemeinden unfähig machte, der Verführung durch eine christuswidrige religiöse Ideologie zu widerstehen.
Heute stürmen in der religiös und weltanschaulichen Situation unserer Gesellschaft eine Fülle von religiösen und weltanschaulichen Strömungen auf einen Christenmenschen ein. Soll er da nicht hilflos und sprachlos hin und her geschüttelt und schließlich aus der Gemeinschaft der Glaubenden heraus geweht werden, wird es nötig sein, der Befähigung zu einem redenden Christsein, das sich selbst für die der ganzen Gemeinde aufgetragene Botschaft mit verantwortlich weiß, eine viel größere Aufmerksamkeit zu schenken. Die „Verantwortung des Auftrags der Gemeinde in einer pluralistischen Gesellschaft“ muss auf viele Schultern verteilt werden. Die Barmer Theologische Erklärung gibt dazu die nötigen Anstöße.