Kategorie: Vorträge
Glauben in religionsloser Gesellschaft. Gesprächsimpulse
Vortrag auf dem Kirchentag in Dresden am 03.06.2011
Dietrich Bonhoeffer hat 1944 in seinen Briefen aus dem Gefängnis die Zukunftsprognose gewagt: „Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen. Die Menschen können, so wie sie nun einmal sind, einfach nicht mehr religiös sein“.
Diese Prognose wird in Kirche, Theologie und Religionswissenschaft heute im Allgemeinen als falsch beurteilt. In Europa und Deutschland wird vielmehr ein neues Interesse an der Religion beobachtet. Man bezeichnet es mit Schlagworten wie „Wiederkehr der Götter“ oder „Respiritualisierung der Gesellschaft“. Dementsprechend heißt es im „Impulspapier“ der EKD „Kirche der Freiheit“ von 2006: „Es wird neu nach Gott gefragt. Religiöse Themen ziehen hohe Aufmerksamkeit auf sich. [...] Eine in den zurückliegenden Jahrzehnten verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber“ dem „christlichen Glauben [...] weicht (!) einem neuen Interesse für tragfähige Grundeinstellungen und verlässliche Orientierungen“.
Eine derartige Feststellung jedoch trifft auf den Osten Deutschlands definitiv nicht zu. Auch mehr als zwanzig Jahre nach dem Ende des „real existierenden Sozialismus“ gehören über drei Viertel der Bevölkerung der neuen Bundesländer keiner Religion an. Die Evangelische Kirche kommt im „Mutterlande der Reformation“, in Sachsen-Anhalt, z.B. gerade mal auf 14, 8 %. In Ost-Berlin sind es um die 10 %, in manchen Stadtteilen sogar noch weniger. Die katholische Kirche steuert noch so um die 3 % Christenmenschen dazu. Der Anteil der Muslime ist dagegen verschwindend gering. Man hat den Eindruck, sie meiden mit ihrem Anteil um die 4 % der Gesamtbevölkerung in Deutschland den Osten.
Nun könnte man allerdings meinen, solche Zahlen sagen noch gar nichts darüber aus, wie „religiös“ Menschen in Wahrheit sind. Unter den sog. „Konfessionslosen“ im Westen Deutschlands geben viele an, sie träten aus den Kirchen aus, um in eigener, intensiverer Weise religiös zu sein können, als in den verfassten Kirchen. Aber auch das bestätigen Umfragen unter den ostdeutschen „Konfessionslosen“ nicht. Die Konfessionslosigkeit hier ist eindeutig und überwiegend atheistisch grundiert. Hier wird alles abgelehnt, was mit Gott oder mit dem Glauben an jenseitige Mächte zu tun hat. Selbst Sekten fassen keinen Fuß. Der Osten Deutschlands ist also ein religiös dürres Land geworden. Wir haben es hier mit einem gesellschaftlichen Milieu zu tun, in dem das Leben ohne die Religion, ohne die Kirche und ohne den Glauben an Gott zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Der größte Teil der Bevölkerung hat sich an das Leben ohne den Glauben an Gott einfach gewöhnt. Die Christenheit als gesellschaftliche Minderheit lebt hier also in der Tat in einer von über drei Vierteln der Bevölkerung geprägten „Welt ohne Gott“.
Ist das schlimm für uns? Sind wir umgeben von lauter Menschen, die darauf zielen, dem Glauben an Gott in unserem Lande endgültig zum Verschwinden zu bringen? So fragen, heißt schon antworten. Zwar gibt es im atheistischen Milieu um uns her einige verbiesterte Atheisten, welche die Kirche am Liebsten abschaffen möchten. Aber charakteristisch für den ostdeutschen Atheismus, den man als erfolgreichste Hinterlassenschaft von 40 Jahren real-sozialistischer Herrschaft bezeichnen kann, ist das nicht.
Vom kämpferischen Pathos des europäischen Atheismus ist der Gewohnheitsatheismus, von dem wir hier reden, nämlich ziemlich weit entfernt. Dergleichen treffen wir heute eher weiter westlich an, wie z.B. bei den sogenannten „neuen Atheisten“, welche über die Verderblichkeit von Religion und Gottesglaube aufklären wollen. Die atheistische Konfessionslosigkeit im Osten Deutschlands aber hat in Breite keine Aufklärungsinteressen. Sie zeichnet sich vielmehr durch eine gänzliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Gottesglauben aus. Die Menschen machen sich nicht mehr die Mühe, an die Frage der Widerlegung des Gottesglaubens oder an die Begründung des Atheismus noch irgendwelchen Schweiß zu verschwenden. Für sie ist der Glaube an Gott unter die Schwelle der Konfliktfähigkeit gesunken. Charakteristisch ist die Äußerung von Jugendlichen bei einer Befragung auf dem Leipziger Hauptbahnhof. Auf die Frage, ob sie sich „eher christlich oder eher atheistisch“ verstehen, haben sie geantwortet: „Weder noch, normal halt“. Nur, was ist „normal“?
Diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten. Denn wo eine große religiöse oder atheistische Perspektive fehlt, da basteln sich Menschen auf Grund ihrer Erlebnisse und Kenntnisse lauter kleine, individuelle Perspektiven für ihr Leben zusammen, die vielfältig und diffus sind. Trotzdem können wir vielleicht drei Merkmale der „Welt ohne Gott“ benennen, in denen noch die Herkunft des ostdeutschen Gewohnheitsatheismus aus der marxistisch-leninistischen Weltanschauung durchschimmert.
Das „Normale“, von dem unsere Jugendlichen in Leipzig geredet haben, ist erstens nicht durch die gänzliche Verneinung aller überkommenen Werte, durch den Nihilismus, bestimmt. Zwar gibt es im konfessionslosen Milieu vor allem bei jungen Menschen einige Besorgnis erregende Phänomene von ethischer Verwahrlosung, die sich der Erfahrung der Sinnleere des eigenen Lebens verdanken. Vereinzelte Regungen von Rechtsextremismus im Osten Deutschlands gehören hierher. Aber wir können sicher sein, dass die überwiegend konfessionslose Bevölkerung damit nichts zu tun haben möchte, weil „Antifaschismus“ für sie zur sozialistischen Sozialisation gehörte. Die atheistische Konfessionslosigkeit ist darüber hinaus weitaus überwiegend von so etwas wie vom Geist einer verträglichen Menschlichkeit gekennzeichnet, der alle Extreme zuwider sind.
Das ist zweitens darin begründet, dass der Sozialismus, wie er in der DDR herrschte, bei den Menschen, die sich ihm anpassten, vor allem zur Verinnerlichung von Werten der Gemeinschaftspflege geführt hat. Dazu gehören Hilfsbereitschaft und Solidarität, die Hochschätzung des Wertes der Geborgenheit in der Gesellschaft, aber auch ein Sinn für Gerechtigkeit, so dass das konfessionslos-atheistische Milieu durchaus den gesellschaftlichen Frieden stabilisiert. Woran es diesem Milieu dagegen nach wie vor mangelt, ist das Schätzen der Möglichkeiten gesellschaftlicher Freiheit in einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft. Das eigene, freie Engagement für Ziele, die mit ganzheitlichen Perspektiven den eigenen Lebensumkreis überschreiten, wird eher nicht geschätzt. Da schwingt auch über 20 Jahre nach dem Ende des Sozialismus noch der Frust mit, einer totalitären Weltanschauung vertraut zu haben, die nicht gehalten hat, was sie versprach. Institutionen, die weltanschauliche Überzeugungen vertreten, haben es darum schwer, Mitglieder zu finden. Die Parteien und Gewerkschaften leiden darunter in vergleichbarer Weise wie die Kirchen. Aber auch eine programmatisch atheistische Vereinigung wie der „humanistische Verband“ hat zahlenmäßig nur die Größe einer Splittergruppe, obwohl dieser Verband den Anspruch erhebt, die ganze konfessionslose Bevölkerung zu vertreten.
Eines aber eint drittens die atheistische Konfessionslosigkeit im Osten Deutschlands: Gott oder die institutionalisierte Religion werden zur Bewältigung der Fundamentalprobleme des Menschseins nicht gebraucht. Religion gilt ausgesprochen oder unausgesprochen als „unwissenschaftlich“ und als Ansammlung absurder Vorstellungen von der Welt und vom Menschen. Von der Religion – ob es sich nun um das Christentum, den Islam oder sonst eine Religion handelt – versprechen sich die Menschen keine Impulse für ihre Lebensführung. Ein Ausweis dessen ist nach wie vor die massenhafte Beteiligung an der Jugendweihe. Dieser Passageritus aus der DDR-Zeit ist bei den verschiedenen Anbietern zwar unterdessen ideologisch entrümpelt und verflacht. Er zielt aber ohne Zweifel auf Menschen, die sich in der „Welt ohne Gott“ eingerichtet haben. Wer seine Kinder zur Jugendweihe schickt, gibt zu erkennen, dass er mit „Religion“ nichts zu tun haben will.
Dieser a-religiöse Weiheritus ist offenbar unterdessen in ganz Deutschland gesellschaftlich akzeptiert. Die westdeutschen Verwandten, die der Volkskirche angehören, haben sichtlich kein Problem damit, ein solches den Gewohnheitsatheismus in der jungen Generation befestigendes Ereignis mitzufeiern. Auch die Parteien beginnen in diesem Pool zu fischen. Renate Künast ist z.B. am 7.Mai bei einer Jugendweihefeier des „Humanistischen Verbandes“ im Berliner Friedrichstadtpalast aufgetreten. Im September sind nämlich in Berlin Wahlen, für welche das atheistisch-konfessionslose Milieu im Osten der Stadt eine ziemliche Bedeutung hat.
Aber uns geht es jetzt nicht um die Frage, in welcher Weise die Politik dieses Milieu bedient. Unsere Frage ist, was bedeutet Glaube, was bedeutet Kirchesein in einem vom Atheismus der geschilderten Art geprägten Umfeld? Dazu gibt es so viel zu sagen, dass ich mich jetzt auf fünf Gesichtspunkte beschränken muss, die für das Selbstverständnis und das Leben der Christenheit in der beschriebenen „Welt ohne Gott“ m.E. wesentlich sind:
Erstens: Unsere Generation und die unserer Kinder werden sich darauf einzustellen haben, dass es auf eine nicht absehbare Zeit bei der atheistischen Konfessionslosigkeit der Menschen rings um uns her bleiben wird. Weil es sich bei dieser „Welt ohne Gott“ um ein stabiles Milieu handelt, wird es – wie die Erfahrung der letzten 20 Jahre zeigt – hier keine massenweise Hinwendung zum Glauben und zur Kirche geben. Ich habe es einmal so ausgedrückt: „Die Menschen sind unserer Kirche zwar massenhaft verloren gegangen, sie werden aber nur alle einzeln wieder gewonnen“. Das geht langsam und braucht Zeit in vielen persönlichen Begegnungen und Gesprächen. Wir sind in unserem Lande nicht die triumphierende Anhängerschaft einer sog. Weltreligion. Wir sind eine Minderheit, die jeden Menschen einzeln einlädt, mit der Lebenskraft des Glaubens an Gott selbst Erfahrungen zu machen.
Zweitens: Mit unserem Glauben ist ein geschichtliches Erbe verbunden. Das ist das Erbe einer über das ganze Land verbreiteten Institution. Unsere Kirche ist von daher ein Flächenkirche. D.h. die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde wird nicht durch die Entscheidung für eine Gemeinschaft von Personen begründet, zu der man gehören möchte. Sie wird durch den Ort entschieden, an dem man wohnt. Man ist, indem man Christin oder Christ ist, Glied der Gemeinde von Berlin-Nordend, von Grüneberg, Kreuzberg, Meißen usw. Jede diese Gemeinden hat eine Kirche, weitere Gebäude und einen mehr oder minder großen Verwaltungsapparat. Alles dies ist unter der Voraussetzung eingerichtet, dass alle Bewohnerinnen und Bewohner des betreffenden Ortes Glieder der Kirche seien. Das sind sie aber heute mitnichten. Folglich kann die Minderheit der Christinnen und Christen die Lasten nicht mehr tragen, die ihr ihre Gebäude und ihre Verwaltung aufbürden. Das hat in allen ostdeutschen Landeskichen im Großen und im Kleinen zu endlosen Strukturdebatten geführt, die leider den Eindruck hinterlassen, dass unsere Kirchen vor allem mit sich selbst beschäftigt sind. „Für Andere dasein“ ist – wiederum mit einem Wort von Dietrich Bonhoeffers gesagt – aber doch eigentlich ihr Auftrag.
Drittens: Wer Christin oder Christ im konfessionslos-atheistischen Milieu ist, muss leider die Erfahrung machen, dass er sich in einem Felde von vielen Vorurteilen über den christlichen Glauben und von ziemlicher Unkenntnis über seine kulturellen Folgen bewegt. Das Leben ohne Gott hat im geistigen Haushalt der Menschen nämlich zu einem tief greifenden Traditionsabbruch geführt. Christliche Überlieferungen, Lebensorientierungen und kulturelle Prägungen der Gesellschaft durch das Christentum sind weithin unbekannt. Christliche Frömmigkeit kommt in den Familien nicht mehr vor. Schon die Großeltern, vielleicht sogar die Urgroßeltern, waren nicht in der Kirche. Die Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen sind es auch nicht. So ist ein richtiges religiöses Vakuum entstanden, in dem Menschen, die an Gott glauben, wie Fremdlinge wirken. Diese Situation bietet andererseits aber auch eine große Chance. Wo Weniges oder nichts mehr vom christlichen Glauben bekannt ist, da kommt es auf uns an, welche Vorstellungen und Eindrücke Menschen vom christlichen Glauben gewinnen. Wir können sie durch unser Leben und Reden abschrecken. Wir können sie aber auch reizen, die Bedeutung des christlichen Glaubens für ein wahrhaft menschliches Leben neu zu entdecken.
Viertens: Damit im atheistischen Milieu eine neue Aufmerksamkeit auf den Glauben an Gott entsteht, ist es nötig, dass dieser Glaube durch die Glaubenden an den Orten des Lebensvollzuges der kirchenfernen Menschen – in ihrer Berufs-, Freizeit- und Privatwelt – Ausdruck findet. Alleine die Institution der Kirche und die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden das nicht leisten können. Behämmerung von außen prallt an diesem Milieu ab. Es braucht viele persönliche Begegnungen, bei denen deutlich wir, wie man lebt, wenn man glaubt. Alle, die Glieder der Kirche sind, sollten sich deshalb dafür verantwortlich wissen, mit ihrem Leben und Reden im Alltag darzustellen, was Glauben bedeutet. Die lässig-passiven Nutznießer eines religiösen Angebots der Kirche bewegen nichts im atheistischen Milieu. Die Gemeinden sollten deshalb im Sinne der reformatorischen Überzeugung vom „Priestertum aller Glaubenden“ ein Verständnis des Christseins zu befördern, zu dem das Eintreten für den Glauben außerhalb des kirchlichen Raums fundamental hinzu gehört. Schon bei der Taufe, im Konfirmandenunterricht und möglichst auch im Religionsunterricht sollte zu diesem aktiven Verständnis des Christseins ermutigt und befähigt werden.
Fünftens: Gegenüber der atheistischen Verneinung aller Religion befinden sich alle christlichen Konfessionen, ja alle Religionen im gleichen Boot. Wir merken das negativ daran, dass uns Evangelischen angelastet wird, was die katholische Kirche verbrockt und umgekehrt. Wir merken das auch daran, dass wir als Religion für Lebensäußerungen der Muslime haftbar gemacht werden. Der Atheismus wirft das Alles in einen Topf. Deshalb sind wir aber gerade hier besonders heraus gefordert, uns nicht in Zwist, Hader und Abgrenzung gegeneinander zu präsentieren. Es ist, wenn man schon jemand für den christlichen Glauben gewinnt, kaum einleuchtend zu machen, warum man dann entweder katholisch oder evangelisch werden muss. Es ist auch nicht einleuchtend zu machen, warum man sich dann in einen Kampf der Religionen untereinander verwickeln lassen muss. Die „Welt ohne Gott“ fordert uns heraus, zur „Welt mit Gott“ als einer Welt der Versöhnung und nicht des religiösen Fanatismus einzuladen.