Kategorie: Vorträge
Die Bibel als Kulturgut. Zur geistigen, ethischen und ästhetischen Bedeutung der Bibel
Vortrag bei der Fachtagung der Deutschen Bibelgesellschaft in Görlitz am 03.11.2009
1. Das Wesen und die Dimensionen von menschlicher „Kultur“
Man kann unser Thema mit unterschiedlichen Ohren hören. Vernimmt es jemand, für den die Bibel Glaubens- und Lebenselexier, ja sogar „Gottes Wort“ ist, dann wird ihm die Rede von der Bibel als „Kulturgut“ wie eine gezielte Abwertung des eigentlichen Sinnes dieser Sammlung von Schriften, die zum Glauben an Gott hinführen wollen, erscheinen. Denn „Kultur“, wie hoch wir sie auch immer schätzen, ist ein Werk von Menschen, zugegebenermaßen vielleicht sogar das wichtigste Werk von Menschen. Wir müssen ein wenig weiter ausholen, um die Tragweite dieser Einsicht würdigen zu können. „Kultur“ ist für uns Menschen nötig, weil wir nicht instinkthaft wie die Tiere in die Natur eingepasst sind. Wir brauchen ein System von Orientierungen, das uns hilft, uns in der Natur zurecht zu finden. Mehr noch: Wir müssen auch unsere Beziehungen zu den anderen menschlichen Wesen regeln, denen keine Gene vorschreiben, wie wir uns konkret zueinander verhalten sollen. Selbst wenn unsere biologische Natur uns bestimmte Verhaltensmuster mit auf den Weg eines menschlichen Miteinanders gegeben haben sollte – die anthropologischen Wissenschaften streiten darüber, ob und inwieweit das der Fall ist – bleibt es unsere Entscheidung, welche Regeln und Normen im Zusammenleben von uns Menschen gelten sollen.
Die mit Bewusstsein begabte, aber instinktarme Menschheit musste sich, um überlebensfähig und entwicklungsfähig zu sein, also eine zweite Natur schaffen, die es ihr einerseits ermöglichte, sich von der Umklammerung durch die Natur in gewissem Maße frei zu machen. Andererseits stand sie vor der Aufgabe, selbst Regeln zu entwickeln, nach denen die „ersten Freigelassenen der Schöpfung“ (Herder) miteinander auskommen können. Hätte die Menschheit sich eine solche „zweite Natur“ nicht geschaffen, wäre sie sicherlich auf dieser Erde gar nicht entwicklungsfähig gewesen. Das Erschaffen einer „Kultur“ ist demnach eine conditio humana, eine Voraussetzung oder Bedingung von lebensfähigem menschlichen Leben.
Versteht man die Bibel als ein „Kulturgut“, dann zählt man sie also zu den Bausteinen oder Elementen, die ihren Teil dazu beigetragen haben und beitragen, dass die Menschheit – oder in kleinerem Rahmen auch unsere Gesellschaft – sich gegenwärtig auf einem bestimmten Niveau ihrer Entwicklung befinden. Heutzutage gebrauchen alle möglichen Vereinigungen, die sich um die Pflege des Erbes der Vergangenheit bemühen, die Redeweise von der Bibel als „Kulturgut“. Doch die Erhaltung bemerkenswerter Bibel-Museumsstücke, um die es solchen Vereinigungen zumeist geht, erreicht nicht annäherungsweise das Gewicht des Verständnisses der Bibel als „Kulturgut“. So kann die Bibel nur ernstlich heißen, wenn sie etwas Wertvolles, etwas Gewichtiges zur „Kultur“ als einer conditio humana nicht nur in der Historie, sondern heute beizutragen hat. Ein solcher Beitrag aber müsste sich auf vier Bereiche erstrecken, die nach Einsicht der Kulturwissenschaften das Wesen von menschlicher Kultur ausmachen.
Zu menschlicher Kultur gehört erstens das Wissen, das wir uns durch die Erforschung der Natur und durch geschichtliche Erfahrungen des Umgangs von Menschen, Gesellschaften und Völkern untereinander erwerben. Dieses Wissen lehrt uns, auf die Gesetzmäßigkeiten zu achten, die in der Natur, auch in der biologischen Natur, von uns Menschen herrschen. Es ist einerseits die Voraussetzung der Weltgestaltung durch die Menschheit und andererseits eine Funktion ihres Überlebenswillens angesichts der Gefährdungen unserer biologischen Natur durch Krankheiten, Naturgewalten, bösartige Geschöpfe usw.
Zur Kultur gehört zweitens ein Ethos, d.h. ein Normensystem menschlichen Verhaltens, das teils aufgrund von Erfahrungen des Verhaltens von Menschen miteinander, teils aufgrund emotionaler Einstellungen, teils aufgrund vernünftiger Reflexion zu jeder Gesellschaft und zu jeder individuellen Lebensführung gehört. Solches Ethos liegt sozialen Gruppierungen und Gesellschaften in den unterschiedlichsten Ausprägungen zugrunde. Institutionen in der Gesellschaft sorgen dafür, das es im gesellschaftlichen und individuellen Leben geachtet wird.
Drittens ist Kultur immer mit Darstellungen verbunden, welche die spezifisch menschliche Wirklichkeitserfahrung auf der ästhetischen Ebene der Sinneswahrnehmung und der Empfindung zum Ausdruck bringen. Die Kunst ist nicht nur ein Schnörkel der Kulturentwicklung von Menschen, sondern eine ihrer fundamentalsten Lebensäußerungen. Sowohl die bildende Kunst, wie die Musik und die Kunst des Wortes verdichten menschliche Erfahrungen und Wahrnehmungen der Wirklichkeit zu einer besonderen Form, in der unsere irdische Wirklichkeit neu und sogar gesteigert unvergleichbar intensiver erlebt wird, als das Objketivierbare, Ausrechenbare und Abzählbare.
Viertens schließlich hat die Kultur eine Transzendenzdimension, deren Wahrnahme und Pflege wir Religion nennen. Religion vergewissert Menschen im Ganzen eines nur im Überschreiten alles Vorhandenen und Gegebenen wahrnehmbaren Sinnzusammenhanges. Sie gibt Antwort auf die Fragen, die Menschen nach ihrem Woher und Wohin stellen. Sie schafft im Unverfügbaren und Geheimnisvollen, von dem wir umgeben sind, Halt. Dabei ist es aus Sicht der Kulturtheorien und der Soziologie unwesentlich, ob in der konkreter Religion der Glaube an Gott oder Götter ein Rolle spielt. Auch Weltanschauungen ohne Gott oder die Erhebungen von Irdischem zu lebensbestimmenden Größen nehmen die kulturelle Funktion von Religion wahr.
2. Der Widerstand gegen die Bibel als „Kulturgut“
Versteht man die Bibel als „Kulturgut“, dann wird auf dem Hintergrund dessen, was unter „Kultur“ zu verstehen ist, also offenkundig gesagt: Sie ist ein Gut (ein bonum, ein agathon), das wichtig für unser Wissen, für unser Ethos, für die Kunst und nicht zuletzt für die Religion von heute ist. Am Nächsten scheint die Bibel in diesem kulturellen Sinne dem christlichen Verständnis der Bibel als Glaubens- und Lebenselexier, ja als Gottes Wort, zweifellos in der vierten Hinsicht zu kommen. Denn die christliche Religion nimmt die kulturelle Funktion von Religion eben so wahr, dass sie die Bibel als „Gottes Wort“ versteht. Ob sie mit ihrer biblischen Verhaftung damit allerdings auch schon ein kulturell tragfähiges Wissen, ein zukunftsweisendes Ethos und eine unserem modernen Wirklichkeitsempfinden angemessene Ästhetik befördert, ist in der religiös und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft alles andere als selbstverständlich. Wir bemerken das, wenn wir es denn nicht schon selbst wahrgenommen haben sollten, spätestens an den großen christlichen Feiertagen, zu denen gewisse Magazine und Zeitschriften regelmäßig knallige Infragestellungen des wissenschaftlichen, historischen und ethischen Wertes der Bibel beizusteuern und sie mit bildlichen Darstellungen christlicher Kunst vergangener Zeiten ins Absurde zu ziehen pflegen. Wenn es ganz schlimm wird, dann machen sich auch Atheisten, wie die gerade aus der anglo-amerikanischen Welt zu uns herüber dröhnenden Gottesleugner über die Bibel her. Für sie ist die Bibel nicht nur marginal, sondern schädlich für die menschliche Kulturentwicklung und für eine humane Kultur heute. Sie lasten der Bibel an, dass sie mit ihren wissenschaftlich unhaltbaren Vorstellungen vom Entstehen der Welt und des Menschen und mit abenteuerlichen Geschichtserklärungen Unwissenheit und Dummheit unter den Menschen von heute züchte. Sie machen ihr vor allem zum Vorwurf, dass sie mit ihrem Glauben an den einen Gott Intoleranz und blutrünstigen Hass auf Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen motiviere. Sie geben sich darum alle Mühe, die Bibel als ein minderwertiges Produkt von Menschen, die nicht ganz richtig im Kopfe sind, darzustellen. Die Bibel – das ist nach Richard Dawkins Buch der „Gotteswahn“ eine „chaotisch zusammengestoppelte Anthologie zusammenhangsloser Schriften, die von hunderten anonymer Autoren, Herausgebern und Kopisten verfasst, umgearbeitet, verfälscht und ‚verbessert’ wurden“ (327). Der Gott des Alten Testaments, den sie bezeugt, ist ein „psychotisches“ „grausames Ungeheuer“ und ein „Monster“. Jesus – das ist aufgrund des Erwählungsgedankens der Vertreter einer jüdischen „Gruppenmoral“, die „Anweisungen zum Völkermord“ (358) gibt. Christliches Leben – das ist eine „ethische Katastrophe“. Kirche, die sich auf die Bibel gründet, praktiziert Kindesmissbrauch, d.h. das Verderben des Geistes von Kindern mit „Unsinn“ (453).
Atheistische Organisationen, wie der humanistische Verband, die für sich in Anspruch nehmen, die ganze atheistisch-konfessionslose Bevölkerung Deutschlands zu repräsentieren, verbreiten dergleichen bis in die Kindergärten und Schulen hinein. Sie päppeln damit die Ressentiments, die spezifisch in der ostdeutschen Bevölkerung gegen die Religion und damit gegen die Bibel brüten. Ein Selbstläufer ist das Bemühen, dieser Bevölkerung die Bibel als „Kulturgut“ ans Herz zu legen, also in keinem Fall. Das ist sie aber auch nicht bei religiös musikalischer gestimmten Zeitgenossen, die vor allem in der westlichen West viele Anzeichen einer „Wiederkehr der Religion“ wahrnehmen, die sie bezeichnenderweise „Wiederkehr der Götter“ nennen. Die neue Religiosität oder Spiritualität, die inmitten der verunsichernden Modernisierungsprozesse der Weltgesellschaft, Halt in einer individualisierten und privatisierten Religiosität sucht, ist nach Ulrich Becks Buch „Der eigene Gott“ als Wiederkehr des Polytheismus zu verstehen, der dem biblischen Monotheismus abhold ist. Wie die „Neuen Atheisten“ lastet Beck in den Spuren von Jan Assmann der Bibel die Orientierung an nur einem Gott die wesensmäßige Neigung zur Ausgrenzung, Gewalt und Intoleranz an. Nicht „Wahrheit“, wie das Neue und das Alte Testament sagen, sondern der Frieden der Verträglichkeit vieler Götter im Glauben ihrer Anhänger soll das Prinzip der Religion der Zukunft sein. „Kulturgut“ kann die Bibel im Rahmen solcher Religion dann allerdings nur noch im Museum sein.
3. Kultur in der Bibel als Zukunftsoption
Der von der Bibel entzündete christliche Glaube an Gott hat ein eigentümliches Interesse daran, die Begründung des Lebens in Gott zugleich als Quellort des Reichtums menschlicher Möglichkeiten zu verstehen. Der Grund dafür ist die Glaubenserfahrung, dass dort, wo Gott Menschen mit seinem Geist prägt, auch alles Irdisch-Menschliche sich entfalten und aufblühen kann. Die Vereinigung Gottes mit einem wahren Menschen verankert diese Erfahrung im Herzen des christlichen Glaubens. Sie motiviert Christinnen und Christen zu einer wahrhaft menschlich zu nennenden Kultur. Eine solche Kultur liegt in der Bibel aber nicht so zu Tage wie in den Progandatönen einer Ideologie oder gar eines Parteiprogramms. Die Bibel ist ein Geschichtsbuch, ja ein Geschichtenbuch. In ihren Berichten, Erzählungen und Zeugnissen schält sich das wahrhaft Menschliche und Kulturprägende in vielen Etappen heraus, in denen Altes veraltet und Neues aufscheint. Als „Kulturgut“ lehrt sie, dass „Kultur“ eine Geschichte hat und immer Geschichte bleiben wird, in der Menschen sich in ihre wahrhaft menschlichen Möglichkeiten einüben müssen. Es sind die Möglichkeiten, die Gott ihnen eröffnete, als er sie schuf, mit seinem Geist begleitete und schließlich in Gestalt eines wahren Menschen ganz auf ihre Seite trat. Dass der Widerstand, den Menschen dagegen unsinnigerweise leisten, in der Bibel nicht verschwiegen, sondern ziemlich drastisch dargestellt wird, gibt ihr in der Vielfalt und auch Widersprüchlichkeit ihrer Gottes- und Menschenzeugnisse ein realistisches Profil. Was Menschen anrichten können, darüber machen sich die, welche die Bibel schon von ihrem 3. Kapitel her kennen, keine Illusionen mehr. Indem sie sich aber von der Zukunftsdynamik mitnehmen lassen, die der Geist Gottes diesen menschlichen Gottes- und Menschenzeugnissen verliehen hat, werden sie nicht wie die neuen und alten Atheisten auf die Idee verfallen, in der Bibel überwundene Vergangenheiten wie z.B. den „Heiligen Krieg“ zu Imperativen für die Kultur von heute und morgen zu stilisieren. Sie werden sich vielmehr an dem orientieren und das als „Kulturgut“ groß machen, was in der Bibel bis heute einer wahrhaft menschlichen Kultur zugute kommt. Wir gehen deshalb unter diesem Gesichtspunkt die vier Dimensionen menschlicher Kultur noch einmal durch. Wie bei aller Kultur können wir sie nicht schnittgenau voneinander scheiden. Sie greifen vielfach ineinander und sind doch Dimensionen von je eigenem Gewicht.
4. Der kulturelle Wert der Bibel
4.1. Das Wissen
Dieser erste Gesichtspunkt ist im Grunde simpel. Wir wüssten so gut wie nichts über die Geschichte des Volkes Israel und über die Geschichte der Entstehung des Christentums, wenn es die Bibel nicht gäbe. Mehr noch, wir, die wir heute leben, ständen ohne die biblischen geschichtlichen Zeugnisse irgendwo beziehungslos und verständnislos im Raum der Geschichte, wenn uns die Ursprünge dieser Geschichte verschlossen wären. Bei aller Einkleidung der historischen Nachrichten in überschwängliche Glaubenszeugnisse bleibt die Bibel ein Dokument historischen Wissens allererster Güte, das der historischen Forschung mit ihrer Frage, wie es wirklich gewesen ist, überreiches Material gibt.
Wir müssen sogar noch weiter gehen. Mit der Bibel ist überhaupt erst so etwas wie eine echte Geschichtsschreibung in die Kultur der Menschheit gekommen. Unter „echter Geschichtsschreibung“ ist die Schilderung rein irdischer Anläufe zu verstehen, wie wir sie z.B. in den Josephsgeschichten, in den Thronnachfolgegeschichten und natürlich in den Geschichtsbüchern finden. Die Bedingung dafür waren zwei gar nicht zu unterschätzende Erfahrungen von weltgeschichtlicher Bedeutung. Der Glaube an den einen außerweltlichen Gott hat zum einen die Welt entgöttert. Die Geschichte ist nicht mehr Schauplatz von Göttergeschichten und vom Wirken magischer Kräfte. Sie kann im Gegenüber zu Gott ganz irdische, selbstständige, von Menschen selbst verantwortete Geschichte sein. Sie ermutigt Menschen zu eigenem Gestalten. Damit hängt zweitens zusammen, dass Geschichte im Horizont einer offenen Zukunft erfahren und geschrieben wird. Sie ist nicht ein Kreislauf der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Sie ist voller Spannungen, Widersprüche und Überraschungen und sie verleiht die Spannkraft der Orientierung von Menschen auf die Zukunft.
Die kulturelle Bedeutung dieses Geschichtsverständnisses kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Denn es drängte über den engen Umkreis Israels hinaus. Durch die Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische und durch das griechische Neue Testament wurde das Tor zur Symbiose des jüdischen Wirklichkeitsverständnisses mit der vernunftgeleiteten Geistigkeit der griechischen Antike gelegt. Aus dieser Symbiose ist das sog. christliche Abendland, also die westliche Welt hervor gegangen. Die Bibel ist ein Fundament dieser Welt, wobei ihre Übersetzungen ins Lateinische und dann in die Sprachen der Völker der Welt wesentlich dazu beigetragen haben, dass sie ein kulturelles Band dieser Welt, aber auch eine kulturelle Identität stiftende Kraft der einzelnen Völker und Nationen wurde. Unsere Lutherbibel gilt für letzteres in ihrer sprachschöpferischen Kraft ja als ein besonders gelungenes Beispiel dafür.
Zur Zukunftsorientierung, die das biblische Geschichtsverständnis der abendländischen Welt vermittelte, kommt aber noch ein Weiteres. Das ist das Anliegen vernunft- und verstandesgeleiteter Erkenntnis der Natur. Es wurde durch das biblische Verständnis der Welt als Schöpfung angetrieben. Wenn sich heute an dieses Schöpfungsverständnis das Vorurteil seiner prinzipiellen Erkenntnisfeindlichkeit der Natur gegenüber gehängt hat, so verdankt sich das dem Eindruck von den Auseinandersetzungen der Kirche mit den wissenschaftlichen Entdeckungen im ausgehenden Mittelalter und in der Aufklärungszeit, aber auch dem in der Kirche immer wieder auflebenden Fundamentalismus, der die biblischen Schöpfungsvorstellungen als regelrechte Offenbarungen Gottes versteht. Demgegenüber ist geltend zu machen, dass die neuzeitliche Wissenschaft nicht zufällig in der vom Schöpfungsglauben der Bibel geprägten Welt groß geworden ist. Die Entmythologisierung der Natur, die dieser Glaube zur Folge hatte, gab die Natur grundsätzlich für die menschlichen Erkenntnisfähigkeiten frei. Natürlich konnte, wie beim Schöpfungsbericht von Genesis 1, in der Bibel nur von den Möglichkeiten der Erkenntnis in einem vorwissenschaftlichen Zeitalter Gebrauch gemacht werden. Das Überliefern mehrer Schöpfungsvorstellungen zeigt jedoch, dass diese Vorstellungen keine zeitlosen Kanalisierungen von Naturerkenntnis sein wollen und können, sondern offen bleiben für neue Erkenntnis. Die alte Kirche und die Kirche des Mittelalters haben darum ganz zu Recht von der Griechen das damals mehr einleuchtende ptolomäische Weltbild, nach dem die Erde eine Kugel im Zentrum eines Universums von Himmelssphären ist, übernommen und vertreten, bis es unausweichlich wurde, sich auch von diesem Weltbild zu lösen. Doch nicht die Vorstellungen von der Welt- und Menschenentstehung als solche sind das Entscheidende. Das ist vielmehr die mit diesen Vorstellungen transportierte Überzeugung, dass die Erde trotz ihrer Menschen gefährdenden Grenzen in Raum und Zeit ein guter und bejahbarer Ort ist. Kulturell befördert der Schöpfungsglaube der Bibel aus diesem Grunde ein positives, optimistisches Weltverständnis, wie denn das Schöpfungslob die verbreitetste biblische Rede von der Schöpfung ist. Der Ausschluss der Marcionismus war darum auch ein Kulturereignis von großer geschichtlicher Bedeutung. Dieses positive Weltverständnis ist auch heute eminent wichtig für das kulturelle Bewusstsein, da es nicht wenige antireligiöse Ausdeutungen unseres Wissensstandes gibt, die nihilistischen Grundeinstellungen zuneigen. Zum kulturell bedeutungsvollen Wissen der Bibel gehört schließlich und nicht zuletzt das Wissen vom Menschen als Gottes Geschöpf. Wir sagen vielleicht besser: Zu diesem Wissen gehört das Sichverstehen auf uns Menschen zwischen den Polen als beinahe an Gott heran reichender Wesen und Wesen aus Staub mit all ihrer Gebrechlichkeit, Begrenztheit und Sterblichkeit. Die vielen entweder mythisch eingekleideten oder realistischen Schilderungen und Erzählungen vom hoch hinaus strebenden und jämmerlich versagenden Menschen, vom Gerechten und vom Schuldigen, vom Feiernden und vom Arbeitenden, vom Liebenden und vom Hassenden, vom Wahrhaftigen und vom Lügner, vom Weisen und vom Dummen usw. usw. sind ein Spiegel unseres Menschseins bis in unsere Zeit. In dieser Hinsicht verstricken uns Adam und Eva und in ihren Fußspuren durch die Zeiten wandelnde biblische Gestalten nicht in abseitige Kreationismusdebatten, sondern üben noch heute in das Verstehen dessen ein, was Menschsein heißt. Diese Einübung lenkt uns aber schon hinüber in die zweite, die ethische Dimension der Kultur.
4.2. Das Ethos
Wenn man einen dem Christentum zwar fern stehenden, aber ansonsten auch nicht übel wollenden Zeitgenossen fragt, was er denn am Christentum und an der Bibel wichtig findet, bekommt man mit ziemlicher Sicherheit zu hören: Die 10 Gebote. Ob er damit wirklich alle zehn Gebote meint, lassen wir einmal dahin gestellt sein. Dass wir es hier mit einem „Kulturgut“ zu tun haben, welches man pflegen sollte, aber ist sicherlich gemeint. Eltern schicken ihre Kinder in den Konfirmandenunterricht, weil sie meinen, die 10 Gebote kennen zu lernen, sei für ihr Kinder in unserer Gesellschaft nützlich.
Irgendwie auf dieser Linie liegt auch die Hochschätzung, deren sich Jesus nicht nur bei den sogenannten „Kulturchristen“, sondern sogar bei Atheisten erfreut. Adolf von Harnack hat ganz am Anfang seiner berühmten Vorlesungen über das „Wesen des Christentums“ gesagt, „die Menschheit“ müsse immer wieder daran erinnert werden, „dass einst ein Mann Namens Jesus Christus in ihrer Mitte gestanden hat“. Neben den im engeren Sinne religiösen Impulsen, die nach Harnack von Jesus ausgegangen sind, war es – wie im gesamten „Kulturprotestantismus“ – vor allem das Ethos Jesu, von dem gesagt wurde, es habe die Menschheit auf eine neue Stufe der Kultur gehoben. Die bedingungslose Liebe des Nächsten, welche aus der Gottesliebe entspringt, und die nach Jesus, aber auch nach Paulus die Summe des Gesetzes Gottes für die Menschheit ist, wurde hier als „Kulturgut“ verstanden, das nicht verloren gehen darf. Es weise der Menschheit den Weg in eine menschenwürdige, von Gerechtigkeit und Frieden bestimmte Zukunft.
In der Tat sind die im Liebesgebot summierten zehn Gebote ein Wall gegen die Ausbrüche von Unzivilisiertheit und Kulturdestruktion sondersgleichen. Sie halten nicht nur ein speziell christliches, sondern – schon der Kodex Hammurabi ist des Zeuge – ein Menschen vermenschlichendes Menschheitsethos durch die Zeiten hindurch lebendig. Sie begründen in der Zuspitzung auf die Liebe die Kritik an einer sich an ihren Grundlagen versündigenden Kirche. Sie haben sich – ob mit oder ohne Kirchenkritik – aber auch in das ethisch-kulturelle Gedächtnis unserer Gesellschaft eingeschrieben. Sie bewirken, dass nicht als menschenwürdig, gerecht und wahrhaftig gelten darf, was sich nicht mit der Liebe zu den Anderen, ja zu den Feinden reimt.
Das Projekt „Weltethos“, das sich auf die „goldene Regel“ der Bergpredigt stützt, welche wir in verschiedenen Fassungen in den großen Weltreligionen finden, versucht deshalb die universalisierende Tendenz des Friedensethos Jesu im Dialog der Religionen und gemeinsamen Aktionen fruchtbar zu machen. Die Bergpredigt ist mit ihrer radikalen Ethik des Friedens und des Gewaltverzichts, mit den Makarismen derer, die Leid tragen und Unrecht und Verfolgung leiden und nicht zuletzt mit ihrer Reich-Gottes-Botschaft auch sonst schon immer eine inspirierende Kraft für den Aufstand gegen Ungerechtigkeit und Gewalt gewesen. Bismarks Satz gegenüber, dass man mit ihr nicht Welt regieren kann, hat sich bis in unsere Tage hinein immer wieder die Einsicht Geltung verschafft, dass Regierung der Welt ohne den Hintergrund und Horizont die Bergpredigt zynisch und menschenverachtend wird. Unsere ethische und politische Kultur kann sich glücklich schätzen, dass in ihr durch Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche, bewusst und unbewusst, dass „Kulturgut“ der Berpredigt wirksam ist.
4.3. Die Kunst
Dass die Bibel mit ihren Bildern von Gott und den Menschen, mit ihren kunstvoll gestalteten Erzählungen, mit ihren Psalmen und Gleichnissen, mit ihren Visionen und Zukunftsbildern ein ästhetisches Potenzial von außergewöhnlichen Ausmaßen birgt, bedarf keines langen Beweises. Kein Buch der Welt hat so viel Musik, soviel bildende Kunst und Architektur, soviel Literatur inspiriert wie die Bibel. Nicht wenige Menschen kennen ihre Gottes- und Menschenzeugnisse überhaupt nur noch in künstlerischen Werken. Sie wurden und werden musikalisch zum Klingen gebracht. Sie wurden und werden in der Malerei, in der Bildhauer- und Baukunst dargestellt. Biblische Gestalten, Geschichten und Weisheiten zogen und ziehen sich wie ein breiter Strom durch die Literatur. Der ästhetischen Aneignung der Bibel verdanken wir unvergleichliche Meisterwerke. Aber auch das Kunstgewerbe, welches biblische Motive für den Massengeschmack und den Hausgebrauch aufbereitet, zehrt von den die Künste inspirierenden Impulsen, die von der Bibel ausgehen. Vielleicht kann man sogar sagen, schöpferische Kunst in unserem Kulturraum ist ohne jegliche Kenntnis, Auseinandersetzung und Inspiration von der Tradition der ins Ästhetische übersetzten Bibel und damit von der Bibel selbst im Grunde überhaupt nicht möglich. Die meisten Werke des sogenannten „sozialistischen Realismus“, die heute irgendwo in Lagerkellern schmoren oder als Belege für die Absonderlichkeiten des DDR-Systems ausgestellt werden, belegen einen solchen Satz in ihrer Weise. Selbstpräsentationen von Unterdrückungssystemen kaschieren ihren wahren Charakter immer durch suggestive Massendarstellungen. Das war schon im Faschismus so. Die sog. Erlebnisgesellschaft heute setzt dagegen die Kunst ein, um die tatsächliche Erlebnisarmut der materiell übersättigten Menschen durch die rasche Folge mehr oder weniger kunstvoll und nicht selten mit „religiösen“ Zitaten angereicherter „events“, zu kompensieren. Das neue Lied, der neue Film, die die ultimative Ausstellung usw. erwecken den schönen Schein der Vertiefung des Lebens der Menschen und sind doch morgen schon von der Bildfläche verschwunden und vergessen. Die ästhetischen Impulse, die von der Bibel ausgehen, gehören dagegen zur bleibenden Vertiefung des Humanum in einem Horizont der Transzendenz. Darum gibt es eine innere Beziehung zwischen der christlichen Religion und der Kunst, die ohne eine Transzendenzdimension nicht sein kann. Diese Beziehung in Auseinandersetzung mit den Kunsttheorien unserer Zeit im Einzelnen aufzuweisen, würde aber den Rahmen unseres Themas sprengen (vgl. meinen Aufsatz, Räume, Szenen, Gestalten. Zur ästhetischen Dimension des christlichen Glaubens, BThZ 20 2003, 3-13). Doch auch ohne diesen Einzelaufweis dürfte einleuchten, dass die Bibel in der ästhetischen Dimension der Kultur wohl am Auffälligsten in unserer Gesellschaft präsent ist. Zu dieser Präsenz gehört dann schließlich auch die Bewahrung wertvoller und ästhetisch gestalteter Bibelausgaben der Vergangenheit.
5. Zum biblischen, gleicherweise kulturkritischen wie kulturfreundlichen Glauben an Gott
Eigentlich gehört die Würdigung der Bibel in der kulturell-religiösen Dimension gemäß dem hier von mir vertretenen Verständnis der Kultur mit den drei anderen Dimensionen eng zusammen. Ich unterscheide den Gesichtspunkt, dass die Bibel auch als Religionsurkunde ein Kulturgut ist, am Schluss methodisch jedoch von den Kulturdimensionen des Wissens, des Ethos und der Kunst. Damit wird nicht in Frage gestellt, das die christliche Religion samt der Bibel auch eine gesellschaftliche und damit kulturelle Funktion hat, wie z.B. die Beantwortung von Sinnfragen und die religiöse Ritualisierung von Lebensetappen der Menschen. Das spezifische Gottes- und Glaubenszeugnis der Bibel sprengt jedoch von innen heraus zugleich seine Verortung in einer gesellschaftlichen Funktion bzw. in einem Werk von Menschen, wie es die Kultur ist. Denn es versteht den Glauben per definitionem nicht als ein Werk von Menschen, sondern als ein Werk des Heiligen Geistes. Alles, was dieser Glaube an kulturellen Leistungen von Menschen hervorbringt, unterliegt – bei aller Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit dieser Leistungen – damit auch einer kritischen und sogar religionskritischen Perspektive.
Darauf hinzuweisen, ist gerade in unserer Zeit wichtig, in welcher es im Zeichen eines neuen Kulturprotestantismus in Kirche und Theologie Bestrebungen gibt, das Verhältnis von Glaube und Religion geradezu umzukehren, d.h. die gesellschaftliche und kulturelle Funktion der Religion zur kritischen Perspektive zu machen, in welcher dem christlichen, biblischen Glauben sein Maß gesetzt wird. Der Grund für diese Umkehrung ist der Offenbarungscharakter des Gottes- und Glaubenszeugnisses der Bibel, von dem behauptet wird, er blockiere das Aufleben von Religion in unserer Gesellschaft regelrecht. Während die Wissens- Ethos- und Kunstdimension der Bibel in der religiös und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft nicht geringe Sympathie-Punkte zu erringen vermag, sei das bei der Zentralstellung ihres Offenbarungsglaubens nicht der Fall. Die Religion, die er repräsentiert, soll deshalb in die Religiosität hinein geholt werden, von deren „Wiederkehr“, die sich außerhalb der Kirche abspielt, gerade allenthalben die Rede ist. Es geht dabei – um mit Ulrich Beck zu reden – um eine individualisierte „Bastel- oder Melangereligiosität“, mit der sich Menschen angesichts der Risiken, welche die globalisierte, moderne Welt für ihr Leben darstellt, Halt geben.
Religion als individualisierte, subjektive Deutung des Sinnes des eigenen Lebens im Horizont von Transzendenz gilt deshalb an vielen Orten in Kirche und Theologie heute als die den Menschen unserer Zeit angemessene Religion. Für diese Denkweise kann die Religion, die sich in der Bibel zu Worte meldet – vor allem, wenn sie individualisierte Gestalten hat – durchaus in Anspruch genommen werden. Ihr religiöser Wert wird dabei aber auf den Wert eines „Kulturgutes“ zurück geschraubt, das für den Glauben an Gott keinen definitiv verpflichtenden Charakter hat. Die Rede von der Bibel als „Kulturgut“ wird in diesem Sinne vom neuen Kulturprotestantismus denn auch kräftig befördert.
Dem wollte ich, indem ich mich auf diese Rede eingelassen habe, keinesfalls das Wort reden. Denn es ist unzweifelhaft: Die Bibel kann, ja muss als Kulturgut verstanden werden. Begründet ist das, wie wir gesehen haben, gerade im Offenbarungscharakter des Glaubens an den Gott, der Menschen die Freiheit zur Gestaltung einer wahrhaft humanen Kultur gibt. Das Wissen, das Ethos, die Kunst und auch die menschlich-individuell gestalteten Frömmigkeiten, die in der Bibel begegnen, sind aber keine Werte an sich. Biblisch gesehen gehören sie zur Wegbereitung des Glaubens an den in menschlicher Geschichte begegnenden Gott. Nimmt man die Kulturdimension der Bibel aus diesem genuinen Zusammenhang heraus, dann wird die Rede von der Bibel als Kulturgut – aequivocatio est mater errorum – zum allergrößten, religiös motivierten Hindernis für den lebendigen Geist der Bibel.
Menschen, die sich für das Bekanntmachen der Bibel und für das Verbreiten von Bibeln engagieren, werden sich also wohl überlegen müssen, was sie befördern wollen, wenn sie sich dabei der Vorstellung von der Bibel als „Kulturgut“ bedienen.