Kategorie: Vorträge
Christentum und Kirche in einer säkularisierten Welt
Vortrag am 09.07.2014 auf dem Konvent der Kirchenkreise Cottbus und Michelau in Cottbus
Vormerkung
Der Begriff „säkularisierte Welt“ greift zur Kennzeichnung der Gesellschaft, mit der es unsere Kirche zu tun hat, zweifellos zu weit. Denn eine säkularisierte Welt das wäre eine völlig verweltlichte Gesellschaft, in der so etwas wie die Beziehung von Menschen auf die Transzendenz oder auf Gott nicht mehr vorkommt. Das ist weder in Deutschland noch in anderen europäischen und außereuropäischen Gesellschaften der Fall. Es gibt zwar in diesen Gesellschaften säkulare Institutionen wie den Staat, die Wirtschaft, das Bildungssystem usw., die in ihrem Agieren ganz von innerweltlichen Gesichtspunkten und Evidenzen geleitet sind und keiner religiösen Bestimmung unterliegen. Sie sind insofern säkularisiert.
Das bedeutet aber nicht, dass die ganze Gesellschaft in der Gestalt der Menschen, die ihr angehören, verweltlicht ist. Denn in der pluralistischen, demokratischen Gesellschaft hat einerseits jeder Mensch das Recht, sein Leben religiös bestimmt zu vollziehen und die Mehrheit der Menschen in unserem Lande tut das auch. Auf der anderen Seite garantiert gerade der säkulare Verfassungsstaat den religiösen Gemeinschaften ihre freie Entfaltung, so dass sie eine prägende Bedeutung für die Gesellschaft im Ganzen erlangen können und erlangen. Im spezifischen deutschen Falle kooperiert der Staat sogar in wichtigen Bereichen mit den Kirchen (Theologische Fakultäten, Kirchensteuern, Militärseelsorge, Religionsunterricht, Kulturpflege, Diakonie), was ihnen von vielen als Verletzung seiner weltanschaulichen Neutralität angelastet wird. Ich diskutiere dieses Problem jetzt nicht. Mir kommt es nur darauf an, klarzustellen, dass die Rede von der säkularisierten Welt nicht bedeuten kann, in ihr komme Religion als Beziehung von Menschen auf eine transzendente Wirklichkeit nicht mehr vor. Diese Rede hat vielmehr einerseits Sinn, sofern sie sich auf die säkularen Institutionen der pluralistischen Gesellschaft bezieht und andererseits, dass es Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens gibt, in denen Menschen in der Tat gänzlich „verweltlicht“ existieren.
1. Das säkularisierte Milieu
Mit einer besonderen Ausprägung der Verweltlichung der Gesellschaft haben es die Kirchen im Osten Deutschlands zweifellos zu tun und ihr wollen wir im Folgenden unsere Aufmerksamkeit widmen und dann danach fragen, vor welche Herausforderungen und Aufgaben der Dienst der Kirche in einem solchen Umfeld gestellt ist. Das Faktum ist: Ungefähr 4/5 der Bevölkerung unseres Landesteils sind konfessionslos und zwar in einem atheistischen Sinne konfessionslos. Sie existieren in einer großen Entfremdung vom Glauben an Gott und damit auch von den Kirchen. Dieser Atheismus ist die größte Herausforderung für die Evangelischen Landeskirchen des Ostens Deutschlands. Das gilt zunächst in einem äußerlichen Sinne. Diese Kirchen sind Flächenkirchen, d.h. sie haben die ererbte Struktur einer über das ganze Land verbreiteten Institution. Die Kirchtürme in fast jedem Ort zeigen es an. Wenn über 4/5 der Bevölkerung aber nicht der Kirche angehören, dann steht in Frage, ob die Kirchen ihre Präsenz an jedem Ort werden halten können. Es gibt besonders im ländlichen Bereich heute schon mehr oder weniger weiße Flecken auf der kirchlichen Landkarte, wo kaum noch Christinnen und Christen wohnen und kaum noch christliches Leben stattfindet, dessen Zentrum der Gottesdienst ist. In den großen Städten merkt man das nicht so. In Wahrheit sieht es da noch dramatischer aus. In Berlin-Lichtenberg gehören z.B. nur 9,1 % der Bevölkerung der Evangelischen Kirche an; in manchen Gemeindegebieten der Hauptstadt Deutschlands sind es noch weniger. Im Kirchenkreis Cottbus sind es 15,3 %.
Auf der anderen Seite stellt der Massenatheismus der Bevölkerung die Existenz und die Botschaft der Kirche aber auch nachhaltig innerlich in Frage. Die sog. „Konfessionslosen“ im Osten Deutschlands führen vor Augen, dass Menschen auch ganz gut ohne den Glauben an Gott leben können und dass das, was die Kirche sagt, lebt und ihnen anbietet, für sie überflüssig und wertlos ist. Daran ändert auch nichts ihre hin wieder zu beobachtende Bereitschaft, sich für die Erhaltung von Kirchengebäuden, die das Gesicht der Städte und Dörfer prägen, einzusetzen oder christliche Kunst zu konsumieren. Eine innere Beziehung zum Gottesglauben und zur Kirche entsteht da nur in Ausnahmefällen. In den 25 Jahren nach dem Ende des „real existierenden Sozialismus“ hat sich an den atheistischen Grundeinstellungen der großen Mehrheit der Bevölkerung des Ostens Deutschlands so gut wie nichts geändert. Das ist in Deutschland auch gesamtgesellschaftlich akzeptiert. Denn die Freiheit, keine Religion zu haben, ist in der pluralistischen demokratischen Gesellschaft garantiert. Über die 30 % der Bevölkerung in den alten Bundesländern machen von dieser Freiheit auch Gebrauch. Darüber hinaus reichen atheistische Überzeugungen aber auch bis in die „volkskirchliche“ Wirklichkeit hinein, so dass die „christlichen“ Verwandten aus dem Westen z.B. kein Problem damit haben, mit östlichen Familien die Jugendweihe zu feiern. Diese Feier ist ein Passageritus aus der DDR-Zeit, der zwar ideologisch entrümpelt und verflacht ist, aber immer noch eine atheistische Grundierung hat. Wer seine Kinder zur Jugendweihe schickt, gibt zu erkennen, dass er mit „Religion“ nichts zu tun haben will. In diesem Sinne ist die Jugendweihe Ausdruck einer verfestigten spezifisch östlich-atheistischen Lebensweise.
Die Erwartung, dass sich die Menschen nach dem Zusammenbruch einer vierzigjährigen atheistischen Weltanschauungsdiktaturwieder den Kirchen oder sonst einer religiösen Lebensorientierung zuwenden werden, hat deshalb getrogen. Selbst Sekten fassen hier keinen Fuß, wie anfänglich befürchtet. Der Osten Deutschlands ist ein religiös dürres Land geworden. Während sich die sogenannten „Errungenschaften des Sozialismus“ im Eiltempo verflüchtigt haben, ist der Atheismus des überwiegenden Teils der Bevölkerung seine gewissermaßen erfolgreichste Hinterlassenschaft. Er hat regelrecht ein gesellschaftliches Klima geschaffen, in dem das Leben ohne die Kirche und ohne den Glauben zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Der größte Teil der Bevölkerung hat sich auf die Dauer an das Leben ohne den Glauben an Gott einfach gewöhnt.
Diese Gewöhnung hat im geistigen Haushalt wie in der Lebensführung der Menschen zu einem tief greifenden Traditionsabbruch der christlichen Überlieferungen und Lebensorientierungen und zur Entfremdung von den kulturellen Prägungen der Gesellschaft durch das Christentum geführt. Christlicher Glaube oder christliche Frömmigkeit kommen in den Familien nicht mehr vor. Schon die Großeltern, unterdessen sogar die Urgroßeltern, waren nicht in der Kirche; die Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen sind es auch nicht. So ist ein gesellschaftliches Milieu entstanden, das Alles, was ausdrücklich mit „Religion“ zu tun hat, von sich abweist.
Dieses Milieu regeneriert sich seit dem Umbruch der Gesellschaft in den Jahren 1989/90 beständig selbst. Unterstützt wird das bei der heranwachsenden Generation in nicht geringem Maße durch die Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen, von denen die große Mehrheit nach der deutschen Vereinigung weitermachen konnte. Sie waren aus alter Gewohnheit selbstverständlich Trägerinnen und Träger atheistischer Überzeugungen. Das Urteil z.B., dass Religion „unwissenschaftlich“ sei und einer vergangenen Zeit angehöre, findet an den Schulen immer neue Belebung, auch wenn die alten Bildungskader langsam das Rentenalter erreichen. Es ist darum an ziemlich vielen Orten schwierig, den in der Verfassung Deutschlands garantierten Religionsunterricht an den Schulen zu etablieren. In Berlin wird er durch das obligatorische Pflichtfach „Ethik“ an den Rand gedrängt. Das geht, weil Lehrer und Eltern weitaus überwiegend der Meinung sind, dass „Religion“ nicht an die Schule gehört. Demgegenüber sind die Gründung Evangelischer Schulen und der ran auf kirchliche Kitas nur Tropfen auf den heißen Stein.
Es wäre jedoch verkehrt, angesichts des Widerstandes, der sich hier gegen die Bildungsaufgabe der Kirchen im öffentlichen Raum zeigt, die Glaubensferne der atheistisch-konfessionslosen Bevölkerung mit einer kämpferischen Wendung gegen den Glauben gleichzusetzen. Vom Freiheits- und Emanzipationspathos des europäischen Atheismus ist der Gewohnheitsatheismus, von dem wir hier reden, ziemlich weit entfernt. Die Konfessionslosigkeit im Osten Deutschlands aber hat im Ganzen keine Aufklärungsinteressen wie etwa die brigths, die sogenannten „Neuen Atheisten“, die aus den USA und aus England vor ein paar Jahren auf den deutschen Buchmarkt drängten. In Berlin-Pankow war der „Gotteswahn“ von Richard Dawkins ein Ladenhüter. Der lautstärkste deutsche Vertreter dieser Spezies von Atheisten, Michael Schmidt-Salomon, der seine wilden Angriffe auf das Christentum auch in Kinderbüchern verbreitet, aber stammt aus dem Westen und hat von dem Gewohnheitsatheismus, von dem wir hier reden, kaum eine Ahnung.
Dieser Atheismus zeichnet sich nämlich durch eine gänzliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Gottesglauben aus. Es ist darum die Frage, ob die Bezeichnung „Atheismus“ für eine solche Art von Konfessionslosigkeit überhaupt richtig ist. Ich rede lieber von Gottesvergessenheit, die so tief ist, dass die Menschen sogar schon vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben. Man merkt das daran, dass sich die Allermeisten gar nicht mehr die Mühe machen, an die Frage der Widerlegung des Gottesglaubens oder die Begründung des Atheismus noch irgendwelchen Schweiß zu verschwenden. Für sie ist der Glaube an Gott unter die Schwelle der Konfliktfähigkeit gesunken. „Konfessionslose“ im Osten Deutschlands machen sich, sagt Rita Kuczynski „über ihre Gottlosigkeit gar keine Gedanken“. Sie „brauchen für ihre persönliche Sinnfindung keinen Gott, brauchen nichts Übersinnliches, nichts Transzendentes. Sie leben im Hier und Jetzt und sehen am Himmel nur Vögel, Flugzeuge und Wolken. Und: Ihnen fehlt nichts!“ (Was glaubst Du eigentlich? Weltsicht ohne Religion, Berlin 2013, 13). Charakteristisch ist die unterdessen berühmte Äußerung von Jugendlichen bei einer Befragung auf dem Leipziger Hauptbahnhof. Auf die Frage, ob sie sich „eher christlich oder eher atheistisch“ verstehen, haben sie geantwortet: „Weder noch, normal halt“ (vgl. Monika Wohlrab-Sahr, Religionslosigkeit als Thema der Religionssoziologie, Pastoraltheologie 90 2000, 152). Nur, was ist „normal“?
Diese Frage muss die Kirchen und Gemeinden interessieren, wenn sie in Kontakt zu Menschen aus dem gottesvergessen-konfessionslosen Milieu kommen bzw. das Gespräch mit ihnen suchen. Denn die Frage, welche Grundüberzeugungen im konfessionslosen Milieu als „normal“ gelten, ist wichtig, wenn man verstehen will, was diese Menschen umtreibt, welche Fragen sie haben und worauf einzugehen ist, wenn auf den christlichen Glauben die Rede kommt. Doch trotz etlicher Umfragen in der konfessionslosen Bevölkerung und einigen Erfahrungswerten ist es nicht ganz einfach, das „Normale“ von Lebenseinstellungen ohne Gottesglauben, aber auch ohne ein explizit atheistisches Bewusstsein zu erfassen. Dennoch können wir einige Eckpunkte benennen, zwischen denen sich das Leben abspielt, in dem Gott vergessen und der Atheismus als Programm uninteressant ist.
2. Östliche Eckpunkte des Lebens ohne Gottesbezug
Drei Beobachtungen können wir aufgrund von Umfragen und eigenen Beobachtungen sicher verallgemeinern, wenn wir das Phänomen des geschilderten Gewohnheitsatheismus charakterisieren wollen:
1) Keine bedeutende Rolle spielt in diesem Atheismus die Weltanschauung des dialektischen und historischen Materialismus mehr, welche den Menschen in sozialistischen Zeiten einmal den Glauben ausgetrieben hat. Das komplizierte Konstrukt einer Weltanschauung, nach der „die Materie“ sich in „dialektischen Sprüngen“ bis auf das Niveau des menschlichen Bewusstseins entwickelt hat und zugleich den gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte in „Klassenkämpfen“ vorzeichnet, lebt heute nur noch in der Köpfen von ein paar alten Parteikadern. Aus den Diskursen unserer Zeit über die Grundbedingungen unseres Daseins auf der Erde ist dieses Konstrukt mit Recht fast gänzlich verschwunden. Auch die „Neuen Atheisten“ bedienen sich dieser Ideologie nicht; sie nehmen höchstens einige Versatzstücke aus der europäischen atheistischen Religionskritik auf, derer sich auch der Marxismus-Leninismus bediente. Wenn Menschen aus dem konfessionslos-atheistischen Milieu zu argumentieren beginnen, dann greifen sie gewöhnlich auch zu diesen Argumenten wie: „Religion“ hat ein veraltetes Weltbild, sie unterdrückt den Verstand, sie macht sich Illusionen über das Jenseits, glaubt an Wunder usw. Dabei steht in der Regel ein Christentum aus längst vergangenen Zeiten vor Augen. Aber wie gesagt: Das sind eher Vorurteile, die als Ressentiments im atheistisch-konfessionslosen Milieu wabern und keine aus der Beschäftigung mit der Religion bzw. dem Christentum gewonnenen Argumente.
2) Das „Normale“, von dem unsere Jugendlichen in Leipzig geredet haben, ist zum Anderen nicht die gänzliche Verneinung aller überkommenen Werte, der Nihilismus. Zwar gibt es im konfessionslosen Milieu vor allem bei jungen Menschen einige Besorgnis erregende Phänomene von ethischer Verwahrlosung, die sich der Erfahrung der Sinnleere des eigenen Lebens verdanken. Die Regungen von Rechtsextremismus im Osten Deutschlands – man muss abgesehen vom NSU-Terrorismus einmal nach Anklam fahren, um sie ernst zu nehmen – gehören hierher. Aber wir können sicher sein, dass die überwiegend konfessionslose Bevölkerung damit nichts zu tun haben möchte, weil „Antifaschismus“ für sie zur sozialistischen Sozialisation gehörte und offenbar im kulturellen Gedächtnis weiter lebt.
Die atheistische Konfessionslosigkeit ist darüber hinaus weitaus überwiegend von so etwas wie vom Geist einer verträglichen Menschlichkeit gekennzeichnet, der alle Extreme zuwider sind. Die in Kirche und Theologie bisweilen anzutreffende Behauptung, der Ausfall von Religion und Gottesglaube würde zum Verlust ethischer Überzeugungen führen, wird durch das Erscheinungsbild des ostdeutsch-atheistischen Milieus ebenso wenig bestätigt, wie durch andere stark säkularisierte Staaten in Europa. Hans Joas erklärt das einerseits mit den Nachwirkungen des christlichen Ethos in einer säkularistischen Lebenseinstellung und andererseits mit der „sozialen Reziprozität“, die zur Anerkennung des anderen Menschen und der Gemeinschaft führe (vgl. Hans Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Herder 2012).
3) Der Sozialismus, wie er in der DDR herrschte, hat bei den Menschen, die sich ihm anpassten, vor allem zur Verinnerlichung von Werten der Gemeinschaftspflege bzw. des „Kollektivs“ geführt. Dazu gehören Hilfsbereitschaft und Solidarität, die Hochschätzung des Wertes der Geborgenheit in der Gesellschaft, aber auch ein Sinn für Gerechtigkeit, so dass das konfessionslose Milieu durchaus den gesellschaftlichen Frieden stabilisiert. Woran es diesem Milieu dagegen nach wie vor mangelt, ist die Hochschätzung der Möglichkeiten gesellschaftlicher Freiheit in einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft. Das eigene, freie Engagement für Ziele, die mit ganzheitlichen Perspektiven den eigenen Lebensumkreis überschreiten, wird eher nicht geschätzt. Institutionen, die weltanschauliche Überzeugungen vertreten, haben es darum schwer, Mitglieder zu finden. Die Parteien und Gewerkschaften leiden darunter in vergleichbarer Weise wie die Kirchen. Aber auch eine programmatisch atheistische Vereinigung wie der „humanistische Verband“ hat nur die Größe einer Splittergruppe, obwohl dieser Verband den Anspruch erhebt, die ganze atheistisch-konfessionslose Bevölkerung zu vertreten.
Im konfessionslosen Milieu können wir aus den genannten Gründen so etwas eine Erschlaffung im Hinblick auf Fragen antreffen, welche die großen Herausforderungen des Menschseins im Globalen, aber auch in individueller Tiefe betreffen. Das passt mit dem zusammen, was eine repräsentative Studie der „Identity Foundation“ im Jahre 2006 über die spezifische „Spiritualität in Deutschland“ heraus gefunden hat. Nach dieser Studie, die weitgehend mit den Erhebungen des „Religionsmonitors“ der Bertelsmann-Stiftung zusammenstimmt, sind 40 % der deutschen Bevölkerung als „unbekümmerte Alltags-Pragmatiker“ zu bezeichnen. Die Zahl weist aus, dass wir es hier mit einem Phänomen zu tun haben, das beileibe nicht auf den Osten Deutschlands beschränkt ist. Hier jedoch tritt es in großer Breite auf. Menschen verstehen sich demnach als Produkt der Naturgesetze. Ihr Lebenssinn es ist, aus ihrem begrenzten Dasein, bis es nicht mehr geht, das Beste für sich, aber auch für die Kinder, zu machen und dann möglichst schmerzlos aus dieser Welt zu verschwinden.
Ob es freilich richtig ist, die Pragmatik einer Lebensweise, die sich auf derartige Weise mit den Grenzen des irdischen Daseins zufrieden gibt und sich darin auch erschöpft, „unbekümmert“ zu nennen, muss man fragen. Denn natürlich „bekümmern“ ein solches Leben auch die Probleme, denen eine gemäßigt hedonistische Lebensauffassung, um die es sich hier letztlich handelt, schwerlich standhalten kann. Das Scheitern in Beruf und Gesellschaft, der Verlust gesellschaftlicher Anerkennung, das Erleben menschlicher Bosheit, das Zerbrechen menschlicher Beziehungen, die Erfahrungen von Krankheiten des Leibes und der Seele und letztlich des Sterbens setzen auch dem konfessionslosen Milieu zu. Derartige Erfahrungen rufen mindestens nach einer Ethik, die mit dem Allen in einer die Menschlichkeit von Menschen vertiefenden Weise umzugehen lehrt, statt es so lange wie möglich zu verdrängen und dann vor einem Scherbenhaufen zu stehen. Doch solche Ethik gibt es im konfessionslosen Milieu allenfalls als respektable Lebensweisheit von Einzelnen. Fast jede Christin und jeder Christ hat hierzulande atheistische Freundinnen und Freunde, die geschätzt werden. Doch im Ganzen macht die Pluralisierung und Individualisierung weltanschaulicher Positionen, die in der pluralistischen Gesellschaft auch in das konfessionslose Milieu hinein wirkt, dieses Milieu zu einem Chor diffuser Stimmen.
Eines eint allerdings den östlichen konfessionslosen Chor. Gott oder die institutionalisierte Religion werden zur Bewältigung der Fundamentalprobleme des Menschseins nicht gebraucht. Das Hauptproblem für die Kirche im konfessionslos-gottesvergessenen Umfeld ist darum: Wie ist – wenn es denn zur Begegnung und zum Gespräch kommt – von Gott zu reden und was ist von Gott zu sagen, damit sich Ressentiments und Vorurteile gegenüber dem Gottesglauben abbauen können? Wie ist der Glaube an Gott im Leben und Verhalten der Christenheit darzustellen, damit Menschen, die Gott längst vergessen haben und dennoch keine richtigen Atheisten sind, neu auf Gott, den Glauben und Möglichkeiten eines christlichen Lebens aufmerksam werden können? Wie haben wir uns auf Menschen einzulassen, die durchaus humanistische Werte respektieren und dennoch „Alltagspragmatiker“ sind, welche sich vielfältig und diffus mit den Problemen ihres Daseins herummühen?
3. Möglichkeiten der Kommunikation des Glaubens
Eines können wir nach menschlichem Ermessen mit Sicherheit sagen: Zu einer massenweisen neuen Hinwendung zum Gottesglauben, wie ihn unsere Kirche vertritt und lebt, wird es in absehbarer Zeit nicht kommen. Die Menschen haben sich zwar massenweise von der Kirche abgewendet, sie werden aber allenfalls nur alle einzeln wieder für den Glauben gewonnen werden können. Das kann lange dauern und hängt sehr davon ab, wie Menschen, denen der Gottesglaube fremd ist, diesen Glauben kennen lernen.
Nach aller Erfahrung wird das am ehesten durch persönliche Begegnungen geschehen, in denen Christinnen und Christen ihren Glauben an Gott in ihrem Umfeld durch eine überzeugende Menschlichkeit darstellen, die in der Beziehung ihres Lebens auf den jenseitigen, ewigen Gott begründet ist. Natürlich gibt es für milieuverhaftete Atheistinnen und Atheisten noch eine ganze Reihe anderer Möglichkeiten, den christlichen Glauben kennen zu lernen. Die sog. Kasualien (Taufe, Konfirmation, Trauung, Beerdigung) rechnen viele in Kirche und Theologie zu diesen Möglichkeiten, weil hier Menschen durch ihre christlichen Verwandten mit spezifisch kirchlichen Lebensäußerungen zusammen treffen. Ob diese in Liturgien eingepackten Vollzüge dem Glauben entfremdete Menschen nicht eher abschrecken als anziehen, ist freilich nicht erst seit heute die Frage.
Das gilt auch die Kommunikation des Christentums durch die Medien, aus denen ja nicht wenig zu erfahren ist, wie hier der Glaube an Gott begründet ist und wie Menschen aufgrund dieses Glaubens leben. Doch wir dürfen uns keine Illusionen machen. Die Vielzahl der Eindrücke, die Menschen durch die Medien vom Christentum inmitten anderer Religionen gewinnen, ist für jemand, der sich für „religionslos“ hält, hochgradig verwirrend. Vom Fundamentalismus bis hin zu einem kritischen, aufgeklärten Glauben, von Kirchen- und Glaubensschelte bis hin zu einladender Verkündigung, von den Schilderungen anderer Religionen bis hin zu Berichten von den zerstrittenen christlichen Konfessionen begegnet hier einem Menschen, der dem Glauben an Gott entfremdet ist, unabsehbar viel Merkwürdiges.
Wenn mich z.B. jemand aus dem konfessionslos-atheistischen Milieu nach der Religion fragt, dann geht es meist um Abseitiges oder Absurdes, wobei alles in einen Topf geworfen wird: Die angeblichen Wunder des verstorbenen Papstes, der Islamismus in Gestalt der Selbstmordattentäter, die zu Tode Getrampelten vor der Kaaba, der Glaube an die Seelenwanderung, der Dalai Lama, die Jesus-Freaks auf dem Kurfürstendamm, die Blutorgien der Passion Christi a la Mel Gibson, Da Vinci Code usw. usw. Man wird zugeben müssen, dass es die fremde Welt der Religionen einem Menschen, der ganz von vorne anfängt, den christlichen Glauben kennen zu lernen, schwer macht, ein Verhältnis zu diesem Glauben zu gewinnen.
Ob sich – besonders bei jungen Leuten – in dieser Hinsicht die „sozialen Netzwerke“ als förderlich für eine ernstliche Kommunikation des Glaubens an Gott im christlichen Sinne auswirken können, vermag ich nicht hinreichend zu beurteilen. Ich kann mir aber vorstellen, dass Netzwerke entwickelt werden oder schon entwickelt sind, welche das leisten können. Die Hemmungslosigkeit der Äußerung von die Religion betreffenden Überzeugungen, die ich z.B. bei facebook beobachte, kann den Eindruck bei Atheisten aber auch verstärken, dass es sich hier um eine bizarre, abseitige Angelegenheit handelt.
Immerhin aber können diese Netzwerke, die bunte Welt des Internet und die Medien dazu beitragen, die Milieuverhaftung von Menschen, die atheistisch-konfessionslos sozialisiert wurden, gewissermaßen zu durchlöchern. Denn dem Eindruck kann sich aufgrund der Informationen, die hier herum schwirren, keiner entziehen, dass „Religionslosigkeit“ im geschilderten Sinne weltweit gesehen etwas Exotisches ist. Der Normalfall ist, dass Völker und Nationen in einer Religion beheimatet sind. Das gilt auch unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt. Die Säkularisationstheorie, nach welcher der wissenschaftlich-technische Fortschritt der Religion den Garaus mache, ist – wie wiederum Hans Joas betont hat – in der Soziologie längst nicht mehr mehrheitsfähig. Gerade wissenschaftlich-technisch hoch entwickelte Länder wie die USA oder Südkorea sind zutiefst religiöse Länder.
Darum setzt die Evangelische Kirche in Deutschland in ihren Reformpapieren auch einige Hoffnung auf die sogenannte „Wiederkehr Religion“, die vor allem in Westeuropa beobachtet wird, und die durch die Medien und aufgrund der Mobilität von Menschen heute vielleicht auch auf die östlichen Bundesländer Deutschlands übergreifen kann. Wenn dabei unter „Religion“ auch solche Phänomene verstanden werden, die mit dem Gottesglauben gar nichts zu tun haben, dann braucht sie hier allerdings gar nicht „wiederkehren“, sondern ist schon da. Denn natürlich trifft man „Religion“ in einem weiten Sinne auch da an, wo Gott vergessen ist. Der Stripper „Maik aus Cottbus“, den Reinhald Grebe mit seinem „Orchester der Versöhnung“ besingt, praktiziert auch irgendwie eine Religion. Die gerade einmal wieder eskalierende ekstatische Fußballbegeisterung oder die irrationale Hingabe an Trends und Personen der Unterhaltungsindustrie, die als Indizien für jene „Renaissance der Religion“ gelten, sind hier ebenso verbreitet wie in ganz Europa. In der christlichen Kirche werden wir jedoch eher geneigt sein, dergleichen als Pseudoreligion bezeichnen, welche den Aberglauben wuchern lässt und die Öffnung für die echte Transzendenz Gottes geradezu blockiert.
Das gilt auch sonst für die Religiosität, die für die sogenannte „Wiederkehr“ der Religion charakteristisch ist. Der Soziologe Ulrich Beck hat sie „Bastelreligiosität“ genannt (vgl. Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt(M)/ Leipzig 2008). Das heißt: Menschen picken sich aus den Überlieferungen des Christentums und anderer Religionen, aber auch aus Esoterik und Spiritismus das heraus, was ihnen für ihre eigene Lebensführung zu nützlich und angenehm erscheint. Diese Religiosität drängt jedoch mitnichten in die Kirchen, obwohl die Kirchen besonders in den Großstädten auch versuchen, sie zu bedienen. Menschen treten im Gegenteil aus der Kirche aus, weil sie mit ihrer Verkündigung und Praxis das religiöse Basteln nicht befriedigend hätschelt. Insofern sind Zweifel daran berechtigt, ob das konfessionslos-atheistische Milieu mit Hilfe derartiger „Religion“ von alleine beginnen wird, sich an Gott zu erinnern.
Darum bleibt es nach meinem Urteil dabei: Der persönliche Eindruck davon, wie Christinnen und Christen leben und wie sie mit all dem Befremdlichen, das mit einer Religion verbunden ist, umgehen, ist unersetzbar.
4. Minderheit mit Zukunft
Die vielen Menschen im Osten Deutschlands, die Gott vergessen haben und sich auch sonst religions-abstinent zeigen, brauchen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, wenn sie sich durch das geschilderte religiöse Gewirr hindurch finden sollen und in die Lage versetzt werden, zu bewerten, was echter Gottesglaube und was religiöser Irrsinn ist. Diese Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner sind die Glieder der evangelischen Kirchen aber nur auf sehr eingeschränkte Weise. Denn hier sieht auf niedrigerem Zahlenniveau die gemeindliche Wirklichkeit so aus, wie auch weiter westlich. Die Gemeinde stellt sich so dar, dass es einen kleinen, engagierten Kern von Christinnen und Christen gibt, die Meisten aber gehören nur locker zur Kirche und betrachten sie als eine religiöse Versorgungsinstitution und nicht als Sache ihrer eigenen Verantwortung. Die hauptamtlichen Trägerinnen und Träger der Gemeindearbeit aber können kaum leisten, was im konfessionslosen Umfeld der Gemeinde eigentlich nötig wäre. Sie sind voll und ganz damit ausgelastet, das Gemeindeleben aufrecht zu halten, wobei sie obendrein Funktionen in der Verwaltung, in Finanz- und Baufragen zu übernehmen haben, die eigentlich gar nicht ihres Amtes sind.
Hinzu kommt, dass die Gemeinden viel größer sein müssen als in der DDR-Zeit, um eine Pfarrstelle zu tragen. Die Folge ist: Die hauptberuflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – nicht nur die Pfarrerinnen und Pfarrer – werden immer weniger und die Gemeindegebiete immer größer. Eine ähnliche Entwicklung gibt es in ganz Deutschland. Aber im Osten vollzieht sie sich auf einem Niveau, das den Auftrag der Kirche im Hinblick auf alle Menschen in diesen Landen tangiert. Vielerorts kann gerade so das Nötige getan werden, um das Leben der Gemeinde aufrecht zu erhalten. Von einer gezielten Zuwendung zu den Menschen im konfessionslosen Milieu, die auf persönliche Begegnung mit ihnen aus ist, kann da in einer bemerkenswerten Breite nicht die Rede sein. Diese Zuwendung ist aber nötig. Darauf muss sich unsere Kirche einstellen.
Sie versucht das auch, indem das sogenannte „Ehrenamt“ gefördert wird. Es ist auch ganz erfreulich, wie viele Gemeindeglieder dazu bereit sind, obwohl das nicht Wenigen angesichts der Belastungen in Beruf und Familie auf die Dauer auch zu viel zu werden droht. Wir sollten aber im Bewusstsein halten, dass „Ehrenamt“ eigentlich eine Kategorie aus dem Vereinswesen ist, die dem internen Florieren des Vereins dient. Was nötig ist, ist jedoch die Belebung der reformatorischen Grundeinsicht vom „Priestertum aller Glaubenden“. Sie meint die Verantwortlichkeit alle Glaubenden für die Bezeugung des Evangeliums in ihrem privaten Umfeld, in ihrer Berufs- und Freizeitwelt. Um diese Verantwortung wahrzunehmen, müssten Christinnen und Christen in der Lage sind, ihren Glauben in ihrer Lebenswelt, die sie mit Nichtglaubenden teilen, zu artikulieren und ihn inmitten die Fragen, die an ihn gestellt werden, zu behaupten.
Weil es an dieser Fähigkeit bei den meisten Gliedern der sogenannten „Volkskirche“ mangelte, genügte in der DDR schon verhältnismäßig geringer Druck von Seiten des Staates, um Menschen zu veranlassen, die Kirchengliedschaft fahren zu lassen. Die Gemeinden sollten deshalb alles daran setzen, ein Verständnis des Christseins zu befördern, zu dem das Eintreten für den Glauben außerhalb des kirchlichen Raums in der Berufs-, Freizeit- und Privatwelt fundamental hinzu gehört. In der christlichen Gemeinde und im Dienst Jesu Christi sind – mit einem Wort von Karl Barth etwas zugespitzt gesagt – „entweder alle Amtsträger oder keiner“ (KD IV/2, 787). Das heißt, sie sind Repräsentanten des ewigen Gottes unter den Menschen ihrer Mitwelt.
Ernstlich kann man darum niemanden eine Christin oder einer einen Christen nennen, deren Leben eine Sackgasse der Kommunikation des Gottesglaubens ist. Das ist oder wird es aber, wenn z.B. schon die Taufe – der Beginn eines christlichen Lebens in der Sendung– in eine Segenshandlung mit Wasser umgedeutet und von der Schöpfungstheologie überlagert wird. „Eltern wünschen sich Schutz und Segen für ihre Kinder“ heißt es gleich am Anfang einer Taufbroschüre der EKBO aus dem Jahre 2010 („Die Taufe. Eine Verbindung, die trägt“). Unter dieser Maßgabe wird eine ganze Wassertheologie aufgerufen, welche die lebensspendende Symbolkraft des Wassers mit der Kraft Gottes zusammen reimt. Das entspricht auch der landaus landein zu beobachtenden Taufpraxis, wo der Gesichtspunkt, dass die Taufe der Beginn eines Lebens in der Nachfolge Jesu Christi ist, fast ganz unter den Tisch fällt.
Auf diese Weise werden von der Kirche selbst lässig-passive Nutznießer eines religiösen Angebots der institutionalisieren Kirche kreiert, die nicht in der Lage sind, ihren Glauben angesichts des Atheismus ihrer Mitmenschen selbst zu artikulieren und zu verantworten. „Artikulieren“ bedeutet nicht, Formeln gebrauchen und etwas dem Sprechenden selbst Fremdes ausdrücken. Artikulieren heißt: Das eigene Leben, das mit dem Leben unserer atheistischen Mitmenschen mannigfach verknüpft ist, mit dem Wort „Gott“ aussprechen, so wie wir z.B. 1989 mit dem Wort „Gott“ die Wahrheit über das Leben in der DDR ausgesprochen haben. Christsein ist in diesem Sinne ein Artikulationsort für Gott, der in den alltäglichen Kommunikationen im atheistischen Milieu der Verfestigung des Klimas der Gottesvergessenheit entgegen wirken kann.
Denn das dürfen wir nicht außer Acht lassen: Die Minderheit der christlichen Gemeinden hat gegenüber dem diffusen Milieu der Gottesvergessenheit, von dem man nicht weiß, auf welche Zukunft von uns Menschen es eigentlich hinaus will, einen großen Vorsprung an gesammelter menschlicher Erfahrung mit Tiefgang. Unser Land sähe völlig anders aus, wenn es die Kirche, wenn es die Christinnen und Christen nicht gäbe. In diesem Sinne hat das östliche Impulspapier von 1995 mit der Überschrift „Minderheit mit Zukunft“ nicht nur den Glaubenssatz wiederholt, dass eine heilige Kirche beständig ist und bleibt (CA 7). Es hat auch im Hinblick auf die faktische Situation deutlich gemacht, dass die Kirche längeren Atem für die Zukunft hat, als die unbekümmerte Alltagspragmatik oder gar die Hingabe von Menschen an irgendeine Pseudo- und Bastelreligiosität.
Ich kann jetzt unmöglich einen Überblick geben, was getragen vom diesem langen Atem schon jetzt landauf- landab in den Gemeinden und den aus ihnen hervorgehenden Initiativen alles Gutes, Phantasievolles und Neues geschieht, um Menschen auf die Kirche aufmerksam zu machen, Berührungsängste abzubauen und den christlichen Glauben in die Gesellschaft hinein ausstrahlen zu lassen. Wir haben darüber hinaus allen Grund, dankbar zu dafür zu sein, was in den letzten Jahren geschaffen wurde, um den Gemeinden auch äußerlich ein einladendes Gesicht zu geben. Auf zwei Schwerpunkte des Dienstes der Kirche in einer in der beschriebenen Weise säkularisierten Umwelt möchte ich abschließend aber noch hinweisen.
1) Die Kinder- und Jugendarbeit muss der Schwerpunkt des Dienstes unserer Kirche sein. Es war ein Fehler, dass die „Christenlehre“ fast gänzlich dem Religionsunterricht geopfert wurde. Wiewohl es sehr viel guten Religionsunterricht gibt, bleibt für junge Menschen die „Einübung ins Christentum“, die sich mit dem Leben in der Gemeinde verbindet, unersetzlich. Vielleicht sollte das in der anglo-amerikanischen Welt verbreitete Modell der Sonntagsschule hier aufgenommen werden. Denn im Hinblick auf die heranwachsende Generation besteht die Chance, noch einmal in Breite ohne den Ballast von Vorurteilen und schlechten Erfahrungen mit der Stärke der christlichen Botschaft Kirche anzufangen. Diese Stärke besteht darin, dass Gott in seiner Menschlichkeit all das zum Leben erweckt, was uns wahrhaft menschlich sein lässt; um es kurz zu sagen: Den Glauben an seine göttliche Klarheit, die Hoffnung auf seine Zukunft und die Liebe zu unseren Mitmenschen.
2) Um das zusammenzuhalten – Gott und das wahrhaft Menschliche – bedarf es der geistlichen und geistigen Konzentration unserer Kirche. Der religiöse Pluralismus unserer Gesellschaft verführt auch unsere Kirche zum Herumprobieren mit mancherlei Annäherungen an Transzendentes, Mysteriöses, Esoterisches, Sinngebendes, Erhebendes, Energetisches usw. Das ist nicht schlechthin zu negieren, weil die Entdeckung, dass wir Menschen mehr sind als das, worüber wir verfügen, der Wahrheit des Glaubens zu assistieren vermag. Diese Entdeckung kann aber ebenso in einen Urwald voller religiöser Schlingpflanzen führen, die der Stimme des Evangeliums die Luft abdrücken. Man denke nur an die von Vielen begrüßten Vorschläge meines ehemaligen Kollegen in der Praktischen Theologie, Klaus-Peter Jörns, den Kanon der Bibel als Grundlage der christlichen Botschaft durch ein Konglomerat von religiösen Texten aus allen Religionen zu ersetzen, das Verständnis des Menschen als Gottes Ebenbild zu beseitigen, den Glauben an Gott als Person aufzugeben und dem naturreligiösen Heidentum wieder Raum zu verschaffen (vgl. Klaus Peter Jörns, Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh 22005). Man denke aber auch an fundamentalistische Gegenbewegungen dazu und das Befördern einer ekstatischen Frömmigkeit, die unmittelbare Berührungen mit Gott verspricht.
Hier einen klaren Blick für das Mögliche und das nicht gut Mögliche zu behalten, ist in gewisser Weise schwieriger, als es im Gegenüber zu einer monistischen Weltanschauung in der DDR war. In jedem Fall erfordert es die Fähigkeit in der Kirche, die Wahrheit des christlichen Glaubens kritisch und im Hinblick auf die eigene religiöse Praxis selbstkritisch zu verantworten. Diese Fähigkeit und Willigkeit dazu ist angesichts der Fülle der Aufgaben, vor denen die Dienste der Kirche stehen, – gelinde gesagt – in den letzten Jahren weder im Westen noch im Osten gewachsen. Wenn ich daran denke, wie einem in der DDR-Zeit theologische Bücher, die durch die Mauer gelangten, geradezu aus der Hand gerissen und sogar geklaut wurden, dann stimmt das Desinteresse an der Theologie, das sich heute vielerorts ausgebreitet hat, schon bedenklich. Denn es ist nicht gut, dass wir uns in unseren alltäglichen Dienst gewissermaßen verstricken und vergraben. Die Theologie ist da kein Wundermittel. Sie kann weder Glaube, Liebe, Hoffnung noch das geistliche Leben ersetzen. Aber sie hilft der Kirche, die geistige und geistliche Spannkraft und den theologischen Weitblick zu behalten, den sie braucht, um ihrem großen Auftrag in einer schwierigen Situation gerecht zu werden.
Eine Kirche für die kommende Generation und Kirche mit Geisteskraft – wenn wir das sind, besteht kein Grund zur Resignation, weil das Erinnern an Gott nur so langsam vorankommt. Die christlichen Kirchen sind im Osten Deutschlands zwar zur gesellschaftlichen Minderheit geworden. Aber wenn diese Minderheit auf den Reichtum von Gottes Menschlichkeit konzentriert ist, hat sie ein Zukunfts-Pfund, mit dem es sich besser wuchern lässt, als mit der traurigen atheistischen Erkenntnis, dass es mit uns Menschen letztlich nichts auf sich hat.