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19.11.2013 00:00 Alter: 10 yrs
Kategorie: Vorträge

"Den Atheismus verstehen - dem Atheismus standhalten. Zur Bildungsaufgabe der Kirche in einem atheistisch-konfessionslosen Umfeld"

Vortrag auf dem Konvent der Religionslehrkräfte Berlin-Pankow am 19.11.2013


1. Das atheistisches Milieu

Den Atheismus zu verstehen, mit dem wir es im Osten Deutschlands zu tun haben, ist auf den ersten Blick keine sehr schwierige Aufgabe. Denn es bedeutet eigentlich nicht, sich um das Verstehen der theoretischen Gründe zu bemühen, die Menschen in dem Sinne Atheisten sein lassen, dass sie mit dem Glauben an Gott und mit der Kirche oder ganz allgemein mit der „Religion“ nichts zu tun haben wollen. Solche Gründe gibt es zwar in der Geschichte des europäischen „Atheismus“, die in Breite im 18. Jahrhundert einsetzt, in großer Anzahl. Doch man kann beim besten Willen nicht sagen, dass sie eine Triebkraft für den Atheismus sind, der uns in der atheistischen Konfessionslosigkeit von ca 80 % der Bevölkerung des Ostens Deutschlands begegnet.

Wer kennt hier schon Feuerbach oder Nietzsche oder Freud, um von den Atheisten des 18. Jahrhunderts zu schweigen? Vielleicht ist noch ein bisschen marxistisch-leninistische Religionskritik im Hinterkopf, wonach die Religion mit der revolutionären Überwindung ungerechter gesellschaftlicher Verhältnisse „abstirbt“. Doch das komplizierte Konstrukt einer Weltanschauung, nach der „die Materie“ sich in „dialektischen Sprüngen“ bis auf das Niveau des menschlichen Bewusstseins entwickelt hat und zugleich den gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte in „Klassenkämpfen“ vorzeichnet, getraut sich heute niemand mehr vorzutragen. Es lebt allenfalls noch in der Vorstellungswelt von ein paar alten Parteikadern. Aus den Diskursen unserer Zeit über die Grundbedingungen unseres Daseins auf der Erde ist dieses Konstrukt gänzlich verschwunden. Es trägt auch nicht den Atheismus, mit dem es die Christenheit hierzulande in ihrem gesellschaftlichen Umfeld zu tun hat. Diesen Atheismus zu verstehen, heißt darum ganz sicher nicht, sich noch einmal um das Verstehen jenes Konstrukts zu bemühen. Was aber gilt es dann zu verstehen?

Vielleicht kommen wir dieser Frage näher, wenn wir uns an der wörtlichen Bedeutung des Begriffs „Atheismus“ orientieren. „A-Theismus“ heißt nämlich wörtlich übersetzt „ohne Theismus“, „Nicht-Theismus“. Unter „Theismus“ verstehen wir traditionellerweise die Annahme eines personalen Schöpfers und Erhalters der Welt, während „Deismus“ die Annahme einer personalen oder unpersonalen, jenseitigen Weltursache meint. Eigentlich sind beides philosophische Theorien, die bis heute mit Gründen der Vernunft vertreten werden. Demgegenüber ist „Atheismus“ eine philosophische Theorie, die solche Gründe bestreitet und die Welt ohne die Annahme eines personalen oder unpersonalen jenseitigen Weltengrundes erklärt. Der „Atheismus“, von dem wir hier reden, hält die Frage, ob ein Gott die Welt geschaffen habe und lenkt oder nicht, zugunsten der Verneinung Gottes für entschieden, allerdings ohne an der Auseinandersetzung darüber beteiligt zu sein, ob diese Frage überzeugend entschieden ist. Er ist vielmehr die fraglose Lebensgrundlage von Menschen, die ihr Leben im wörtlichen Sinne „a-theistisch“, ohne den Glauben an Gott als Schöpfer und Erhalter des Lebens führen. Ein paar Versatzstücke der marxistisch-leninistischen Religionskritik kommen in einem solchen „atheistischen“ Leben, wenn es befragt wird, zwar noch vor, z.B. dass Religion „unwissenschaftlich“ sei oder sich Illusionen über die Wirklichkeit mache. In einer ernstlich so zu nennenden Auseinandersetzung mit dem Theismus und damit mit dem Gottesglauben überhaupt aber leben die meisten Menschen, die das Umfeld der Christenheit hierzulande prägen, nicht mehr.

Man kann sogar fragen, ob sie überhaupt je in dieser Auseinandersetzung gelebt haben. Denn wenngleich die Wurzeln für die Ausbreitung des Lebens ohne Gottesglauben viel weiter zurück reichen, ist der spezifisch ostdeutsche Massen-Atheismus zweifellos unter dem Druck der atheistischen Weltanschauungsdiktatur des „real existierenden Sozialismus“ entstanden. Er hat den Kontakt der Mehrheit der Bevölkerung zur Kirche und damit zur Begegnung mit Glaubensgründen gekappt. Anders als weiter westlich, wo sich laut Umfragen immerhin auch um die 20% der Bevölkerung als Atheisten verstehen, verdankt sich der Einstieg in das Leben ohne Gott und Kirche hier in den wenigsten Fällen einer freien Entscheidung der Einzelnen oder eigenen Erfahrungen mit der Kirche oder Menschen, die glauben. Die Meisten haben sich um des Fortkommens ihrer selbst und ihrer Kinder in der sozialistischen Gesellschaft dem Druck zum Kirchenaustritt gebeugt, so dass die Kirchenmitgliedschaft von 90 % bei Gründung der DDR auf ca 25 % an ihrem Ende sank. Das ist zweifellos eine der erfolgreichsten Hinterlassenschaften des „real existierenden Sozialismus“. Und sie wirkt fort.

Denn die Gewöhnung an das Leben ohne Gott und Kirche hat sich fortgepflanzt. Gott und Glaube kommen in den Familien nicht mehr vor. Schon die Großeltern, vielleicht sogar die Urgroßeltern, waren nicht in der Kirche; die Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen sind es auch nicht. In der Schule der Nachwendezeit waren die Lehrinnen und Lehrer selbstverständlich Träger atheistischer Überzeugungen und sind es weithin auch noch heute. Jedenfalls ist so etwas wie ein gesellschaftliches Milieu oder Klima entstanden, das Alles, was ausdrücklich mit „Religion“ zu tun hat, von sich abweist. In diesem Milieu haben wir es mit einem zur Gewohnheit gewordenen Massenatheismus zu tun, der es gar nicht mehr der Mühe für wert hält, in die Auseinandersetzung mit den Argumenten einzutreten, die für oder gegen den Gottesglauben sprechen. „Religion“ ist hier unter die Schwelle der Konfliktfähigkeit geraten. In diesem Milieu grassieren höchstens Vorurteile und Ressentiments gegenüber der Religion und dem Gottesglauben, die mit dem Selbstverständnis der Glaubenden meistens wenig oder nichts zu tun haben.

Für die Kirche schafft das eine ganz schwierige Situation. Der Missionsauftrag, aber auch die ererbte Struktur einer über das ganze Land verbreiteten Flächenkirche machen ihr die Aufgabe unausweichlich, Nichtglaubende zum Glauben einladen. Aber über ganz kleine Vorstöße in das atheistisch-konfessionslose Milieu aus familiären Anlässen oder bei Kulturangeboten der Gemeinden geht das nicht hinaus. Dieses Milieu genügt sich selbst und entwickelt keinesfalls in bemerkenswerter Weise das Bedürfnis nach religiöser Orientierung, wie es neuerdings im übrigen Europa beobachtet wird. Es ist deshalb regelrecht schon von einer „Wiederkehr der Religion“ die Rede. Angesichts der Verunsicherung, welche die wissenschaftlich-technischen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse auslösen, suchen Menschen ganzheitliche Orientierungen für ihr Leben, wie sie die Religion anbietet.

Die sogenannte Säkularisierungsthese, nach der mit dem  Fortschreiten der wissenschaftlich-technischen Entwicklung die Religion an Boden verliert, gilt darum heute bei vielen Soziologen als falsch. Für die USA hat sie noch nie gegolten. Das ist ein hoch technisiertes und modernisiertes und zugleich tief religiöses Land. Weltweit steht jenes Dogma vom Absterben der Religion, dem in seiner Weise auch der Marxismus-Leninismus huldigte, auch im offenkundigen Widerspruch zum dynamischen Wachstum des Christentums in Afrika, Lateinamerika und Südostasien. Südkorea steht an der Spitze einer wachsenden Industrienation und an der Spitze eines rasanten Wachstums des Christentums.

Der Osten Deutschlands ist dagegen eine religiös dürre Ecke in der Welt. Dass in ihr die Religion von alleine wiederkehrt, ist nach menschlichem Ermessen kurzfristig nicht zu erwarten. Der Gewohnheitsatheismus ist im Großen und Ganzen zwar nicht aggressiv kirchen- und glaubensfeindlich. Das zeigt sich unter anderem daran, dass einige atheistisch-konfessionslose Menschen ihre Kinder durchaus gerne in evangelische Kitas, auf christliche Schulen und in den Religionsunterricht gehen lassen. Die Zahl der Konfirmanden, deren Eltern nicht Kirchenmitglieder sind, ist durchaus beachtlich. Aber dass sich in dieser Weise tolerante Eltern selbst wieder dem Glauben an Gott öffnen, ist eher selten. 

Dennoch bietet die tiefgreifende Entfremdung von Glaube und Kirche, aber auch von den kulturellen Traditionen des Christentums eine gewisse Chance, im Meer der Gleichgültigkeit gegenüber dem Gottesglauben ein paar Boote auszusetzen, die ein neues Interesse für den Glauben an Gott wecken können. Denn wo die Gottesvergessenheit so tief ist, dass die Menschen sogar schon vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben, besteht die Chance eines neuen Kennenlernens des Glaubens und damit Gottes. Wo Menschen über das, was sie faktisch-praktisch verneinen, gar nicht mehr Bescheid wissen, ist die Möglichkeit gegeben, sie damit ohne den Ballast eigener schlechter Erfahrungen mit der Religion neu vertraut zu machen. In dieser Hinsicht kommt dem Religionsunterricht an der Schule eine gar nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Während Kirchengemeinden sich in ihrem Eigenleben leider in ziemlichem Abstand vom atheistisch-konfessionslosen Milieu einzurichten vermögen und die kirchlichen Medien aus großer Entfernung die christliche Botschaft senden, kommt es in der Schule zum direkten Aufeinandertreffen jenes Milieus mit dem Christentum. Hier muss dem Atheismus also unmittelbar Stand gehalten werden. Grundsätzlich sollte dabei m.E. mindestens dreierlei beachtet werden, was ich hier nur andeuten kann:

1) An erster Stelle steht die Vermittlung der Kenntnis des positiven Sinnes des christlichen Gottesglaubens, nämlich dass Gott uns Menschen zu wahrer Menschlichkeit befreit und befähigt. Der erschließt sich durch die Erfahrung der Christus- und Israelgeschichte, wie sie uns durch die Bibel überliefert ist. Wir dürfen uns durch den Atheismus nicht in die Falle locken lassen, den christlichen Glaubens vor allem als theistische Schöpfungstheorie darzustellen. Gott begegnet im christlichen Selbstverständnis aufgrund geschichtlicher Erfahrung, die den Glauben an ihn begründet. Erst von da aus kann verstanden werden, was Glauben an den Schöpfer bedeutet.

2) Der christliche Glaube ist wie der Glaube Israels eine religionskritische Religion, d.h. er kritisiert, wenn Menschen Gott für ihre Zwecke in Anspruch nehmen und verweltlichen. Alles, was der Atheismus in dieser Hinsicht gegen Kirche in ihrer Geschichte und bis heute einwendet, muss durch die Glaubenden selbst schon kritisiert sein. Dazu gehört auch ein kritischer Umgang mit den biblischen Texten, sofern sie sich in Formen des antiken Weltbildes und zeitbedingter Ethik ausdrücken. Ein fundamentalistischer Umgang mit der Bibel bestärkt dagegen atheistische Vorurteile gegen den Glauben.

3)  Es ist mehr als wünschenswert, dass jede Christin und jeder Christ in der Lage sein sollten, auf atheistische Fragen, wenn sie ihnen denn gestellt werden, mit Argumenten und nicht bloß mit Beteuerungen subjektiven Glaubens zu antworten. Hier bestehen große Defizite in unseren Gemeinden. Dem Religionsunterricht aber fällt eine große Verantwortung für die Befähigung der heranwachsenden Christinnen und Christen zu solcher Gesprächsfähigkeit zu. Sie sollten in der Lage sein, mit Gründen darzulegen, warum sie keine Atheistinnen und Atheisten sind.

 

2. Zwei leicht zu entkräftende atheistische Argumente

Gelegenheit, sich im Argumentieren gegenüber der atheistischen Verneinung des Gottesglaubens zu üben, haben in jüngerer Zeit die sogenannten „Neuen Atheisten“ gegeben. Sie stammen zwar nicht aus dem geschilderten Milieu, sondern aus einer Weltgegend, aus der man es am wenigsten erwartet, nämlich aus den USA und dann auch aus anderen westlichen Ländern. Aber das, was sie vorbringen, kann uns in verschiedenen Formen auch im atheistischen Milieu begegnen, auch wenn das große Medientheater, mit dem die Bücher der „Neuen Atheisten“ vor ein paar Jahren auf den Markt gebracht wurden, im Osten kaum gezündet hat. Der „Gotteswahn“ von Richard Dawkins war im Pankow-Center nach meiner Beobachtung ein Ladenhüter. Sam Harris oder Christopher Hitchens musste erst bestellt werden.

Für uns ist diese atheistische Literatur gleichwohl interessant, weil ihre Bezeichnung als „neu“ irreführend ist. Denn summa summarum werden hier die alten, längst bekannten Argumente vorgebracht, obwohl die meisten Autoren, die hier in die Arena treten, von dem unter sozialistischen Verhältnissen entstandenen Atheismus keine Ahnung haben. Sie fertigen den Marxismus-Leninismus kurzerhand damit ab, dass es sich hier auch um eine Religion gehandelt habe und rechnen z.B. Hitler, Stalin und Pol Pot zu Vertretern von Religion. Auch die theologische und philosophische Literatur, die in Deutschland und Europa zum Thema „Atheismus“ erschienen ist, spielt bei ihnen kaum eine Rolle. Der dominierende Kontext, auf den sich dieser Atheismus bezieht, ist vielmehr die religiöse Situation in den USA und dort vor allem der weit verbreitete christliche Fundamentalismus, der auch auf die Politik einen starken Einfluss nimmt.

Dieser Fundamentalismus, auf den wir als Problem der Darstellung der Christenheit im atheistischen Umfelde schon hingewiesen haben, versteht alle biblischen Zeugnisse von Gott, der Welt und den Menschen in gleicher Weise als zeitlos gültige Offenbarungen Gottes. Er verteidigt darum die biblischen Vorstellungen von der Entstehung der Welt und des menschlichen Lebens gegen die Astrophysik und gegen die Theorie von der Evolution des Lebens aus dem Tierreich. Er zeichnet sich durch eine Ethik aus, die z.B. Homosexualität für gottwidrig hält und auch sonst die ethischen Vorstellungen der Bibel von Staat und Gesellschaft, Ehe und Familie, direkt in unsere Zeit überträgt.

Dieses Christentum zu bekämpfen, hat der „Neue Atheismus“ sich vorgenommen. Er macht das so, dass er alles Christentum auf der Welt und alle Religionen mit diesem Fundamentalismus in einen Topf wirft. Christinnen und Christen müssen so sein, dass sie glauben, die Welt sei vor sechstausend Jahren erschaffen und Adam mit seiner Eva seien historische Figuren. Sie müssen so sein, dass sie alle Anweisungen aus der Bibel befolgen wie z. B. den im Alten Testament geschilderten Heiligen Krieg gegen Menschen anderer Religionen. Ja mehr noch: Alle Religionen der Welt werden so beurteilt, dass sie längst veraltete, menschenfeindliche und vernunftwidrige, durch die Wissenschaft widerlegte, absurde Vorstellungen von der Welt und vom Menschen hegen.

Man kann also schon auf den ersten Blick merken, dass hier ein Christentum aufs Korn genommen wird, das es in dieser Weise höchstens an den Rändern unserer Kirche gibt. Allerdings ist ein Merkmal seiner Argumentation für allen Atheismus charakteristisch, wenn er zum offenen Angriff auf das Christentum und die Religion übergeht. Er braucht ein düsteres, von Unwissenheit, Unvernunft und Menschenfeindschaft geprägtes Bild von der Religion und vom Christentum. Er verweigert sich darum der Wahrnahme eines Christentums, welches schon längst selber kritisiert, was ihm von atheistischer Seite vorgehalten wird. Die deutschen „Neuen Atheisten“, die sich in der Giordano-Bruno-Stiftung sammeln, verfahren da nicht anders.

Michael Schmidt-Salomon, der sog. „Chefatheist“ von Deutschland, hat z.B. zwei illustrierte Kinderbücher verfasst. In dem einen werden ein Rabbi, ein Bischof und ein Mullah als dumme, hasserfüllte Schreckensgestalten vorgeführt („Wo bitte geht’s zu Gott, fragte das kleine Ferkel“?). Das andere Kinderbuch („Susi neunmalklug erklärt die Evolution“), diskreditiert – offenkundig gegen besseres Wissen – den Religionsunterricht, indem es einen blöden Religionslehrer lächerlich macht, der die Kinder kreationistisch unterrichtet. Der „Humanistische Verband“, der zunächst mit der Giordano Bruno Stiftung verbandelt war, hat sich darum schleunigst von dieser Stiftung und ihrem „Humanistischen Pressedienst“ getrennt, um sich seine Reputation an den Berliner Schulen nicht zu verderben.

Wir aber haben aus der Verzerrung, in der das hier bei uns real existierende Christentum angegriffen wird, zu lernen, dass wir uns im atheistischen Umfeld nachhaltig als eine aufgeklärte Religion darzustellen haben. D.h. – wie wir schon gesagt haben – dass wir den Unterschied zwischen den zeitbedingten Vorstelllungen der Bibel und ihrem immer noch aktuellen Sinn zu betonen haben. Sind Christinnen und Christen dazu nicht fähig, dann bestärken sie das atheistische Ressentiment gegenüber der Kirche und dem Gottesglauben. Mich wundert darum sehr, dass die Befähigung der Gemeinden und ihrer Glieder zu solchem Unterscheiden in dem sog. „Reformprozess“ unserer Kirche so gut wie keine Rolle spielt.

Rennt die Kritik am Fundamentalismus bei einem zeitgemäßen Kirche- und Christsein hierzulande offene Türen ein, so gilt das noch mehr in Hinblick auf die andere wesentliche Stoßrichtung des „Neuen Atheismus“, nämlich der Kritik des Zusammenhangs von Religion und Gewalt. Diese Stoßrichtung hat in Deutschland ein großes Echo gefunden und findet es immer noch. Denn eine Gewalttat, der islamistische Anschlag auf der World-Trade-Center in New York im Jahre 2001, hat Thema „Religion und Gewalt“ geradezu als Zentralthema weltweit nach vorne gebracht. Es war schon vorher im Schwange, weil z.B. Religionswissenschaftler wie Jan Assmann die These vertreten haben, vor allem die monotheistischen Religionen etablierten die Gewalt gegen anders Glaubende in der Welt. Indem sie nur einen Gott verkündigen, sind sie von Intoleranz und Hass auf andere Religionen erfüllt, die mehrere Götter oder einen anders verstandenen Ein-Gott wie im Judentum, Christentum und Islam verehren.

Die „Neuen Atheisten“ weiten diese Behauptung noch aus. Der eigentliche Grund für die religiöse Aggressivität – meinen sie – sei vielmehr  die Unwissenheit. Religiöser Glaube erfindet, weil Menschen es nicht besser wissen, absurde Vorstellungen über die Welt, die Menschen und die Vorgänge in Natur, Geschichte und individuellem Leben. Weil er seine unbeweisbaren Erfindungen für die allein richtigen hält, ist er unfähig, sie zu korrigieren. „Dummheit, gekoppelt mit [...] Überheblichkeit“ ist nach Christopher Hitchens das Wesen der Religion. Darum verbindet sich nach seiner Ansicht religiöser Glaube immer mit Hass und Vernichtungswut gegen andere Menschen, die ebenso unbeweisbare religiöse oder weltanschauliche Vorstellungen hegen. Wo keine Argumente sind, sprechen eben die Fäuste. Nur der Atheismus garantiere eine wesenhaft friedliche Welt, behauptet Sam Harris allen Ernstes.

Die Christinnen und Christen, die 1989 gemeinsamen mit ihren atheistischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Losung „keine Gewalt“ auf die Straßen getragen haben, können wie unsere ganze von der Friedensbotschaft Jesu Christi bewegte Kirche derartig pauschale Behauptungen einfach nur abseitig finden. Denn die Gewaltgeschichte des Christentums und aller anderen Religionen wird von ihnen nicht geleugnet, sondern vielmehr intensiv kritisch reflektiert. Schon längst vor den „Neuen Atheisten“ ist in Kirche und Theologie der Verbindung von christlicher Botschaft und Gewaltausübung eine eindeutige Absage erteilt worden. Nur sine vi, sed verbo (CA 28) kann diese Botschaft zu den Menschen getragen werden. Das ist heute unstrittig. Selbst ein halbwegs ehrlicher Atheist kann hier und heute nicht aus Erfahrung bestätigen, dass das Christentum gewalttätig ist. Ein aktueller Anlass, Atheist zu werden, ist diese Behauptung jedenfalls nicht. Viel eher dürfte die Verständigung darüber, dass weltanschauliche und religiöse Überzeugungen niemals mit Gewalt vertreten werden dürfen, die einfachste Ebene der Verständigung zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden darstellen. Ja, das ist sie im alltäglichen Leben faktisch schon längst.

Der „neue“ und „alte“ Atheismus stellt sich nach dem Gesagten also als eine Angelegenheit dar, die selber darüber aufzuklären ist, dass sich das Christentum weder auf den Fundamentalismus noch auf eine wesenhafte Tendenz zur Gewalt festlegen lässt. Daraus ist aber nicht zu folgern, er bringe keine ernsthaften Anfragen an den christlichen Glauben, wie er heute verantwortet werden muss, zustande.

Diese Anfragen ergeben sich fast alle aus der Berufung atheistischer Positionen auf die Naturwissenschaften. Auch die „Neuen Atheisten“ betrachten als ihr stärkstes Argument die Tatsache, dass die methodisch-atheistische wissenschaftliche Forschung mit ihren Mitteln Gott nicht „beweisen“ kann. Darum haben sie auch an den durch Deutschland tourenden „Atheismus-Bus“ den komplizierten Satz geschrieben: „Gott existiert mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht“. Das ist ein fast wörtliches Zitat von Richard Dawkins. Er füttert das Vorurteil, Religion sei „unwissenschaftlich“, in dem sich besonders die ostdeutsche Gottesvergessenheit eingerichtet hat. Darum müssen wir diesem atheistischen Haupt- und Staatsargument etwas intensiver auf den Zahn fühlen.

 

3. Der Streitfall: Naturwissenschaft und Gottesglaube

Ich orientiere mich im Folgenden vor allem an dem „erfolgreichsten“ Buch der „Neuen Atheisten“. Das ist das schon erwähnte Buch „Der Gotteswahn“ von Richard Dawkins. Ich lasse dabei unberücksichtigt, dass dieses Buch zu nicht geringen Teilen aus wüsten Polemiken gegen das Christentum besteht, die an die finstersten Zeiten des Stalinismus erinnern. Man kann es nur der Unkenntnis darüber zugute schreiben, dass in der Sowjetunion unzählige Christinnen und Christen, Priester, Popen und Mönche in psychiatrischen Kliniken gequält wurden, um die in diesem Buch vertretene Ansicht auszuhalten, religiöse Menschen seien „wahnsinnig“. Michael Schmidt-Salomon hat diese Ansicht in seinem jüngsten Buch „Jenseits von gut und böse“ sogar als noch viel zu „harmlos“ bezeichnet, aber nicht näher präzisiert, welchen Aufenthaltsort nach der Irrenanstalt er für Christinnen und Christen empfehlenswert hält.

Ich lasse das auf sich beruhen, wobei ich allerdings froh bin, dass dergleichen atheistische Hasspredigt nicht das Leben in unserer demokratischen Gesellschaft zu prägen vermag. Berechtigt zu solchen Ausfällen wissen sich die Neoatheisten jedenfalls dadurch, dass die Naturwissenschaften – insbesondere die Kosmologie, die Astrophysik und die Biologie – keinen Beweis für die Existenz Gottes, für einen übernatürlichen „Gestalter“ der Welt, liefern können. Sie vermögen im Gegenteil das Werden des Universums und des Lebens ohne eine „Gotteshypothese“ zu erklären. Darum gilt mit über 50% Wahrscheinlichkeit, dass Gott nicht existiert.

Gott sei Dank, können wir da im Glauben an Gott nur sagen, ist Gott keine Wirklichkeit, die man in Naturgesetzen verorten oder errechnen und auf diese Weise Gottes Herrlichkeit vielleicht auch noch technisch verwerten kann wie die Atomkraft. „Einen Gott“, – so können wir im Anschluss an Dietrich Bonhoeffer sagen – „den es gibt (wie es die Menschen, die Dinge, die Sterne und Galaxien gibt) gibt es nicht“. Zu Gottes unsichtbarer, geistiger, jenseitiger Wirklichkeit gibt es nämlich nur einen Zugang und das ist der Glaube. Glaube im christlichen Sinne aber ist nicht ein Für-wahr-halten von irgendwelchen Vorstellungen über das Werden der Natur, obwohl sich solche Vorstellungen in aller Relativität mit ihm verbinden können. Glaube ist das Vertrauen zu Gott als dem tragenden Geheimnis unseres Daseins, das in geschichtlichen, existenziellen Zusammenhängen, in Lebenszusammenhängen entsteht. Glaube ist diejenige menschliche Fähigkeit, mit der wir uns dessen vergewissern, worüber wir nicht verfügen können. So glauben wir z.B. an die Treue eines Menschen oder an seine Wahrhaftigkeit. Wir vertrauen der Freundschaft einer Freundin oder eines Freundes, obwohl wir gar nicht wissen können, dass diese Freundschaft auch in Zukunft Bestand hat.

In entsprechender Weise glauben wir auch an Gott. Natürlich ist da auch ein Unterschied zu dem Vertrauen, das wir einem Menschen gegenüber hegen. Dass dieser Mensch in Raum und Zeit existiert, ist selbstverständlich. Gottes Existenz aber spricht die Fähigkeit unseres Bewusstseins an, über alle raum-zeitlichen Grenzen hinaus Wirklichkeit wahrzunehmen. Sie erschließt sich uns durch bestimmte, alles Irdische transzendierende Erfahrungen, die wir in unserem Leben und in der Geschichte machen. Im Falle des christlichen Glaubens sind das die Erfahrungen, die Menschen mit Jesus Christus und der zu ihm gehörenden Israelgeschichte machen. Sie wecken in uns das Vertrauen zu Gott als unverfügbaren Grund und Sinn unseres Lebens, ja der Welt. „Gott und Glaube gehören zuhaufe“, gehören zusammen, hat Martin Luther in seinem „Großen Katechismus“ diese Einsicht kurz und bündig auf den Punkt gebracht.

Dawkins und seine Kollegen verfahren nun so, dass sie den Glauben aus dem Zusammenhang geschichtlicher, existenzieller Erfahrung entwurzeln. Sie verlagern ihn auf eine andere Ebene. Er wird als eine quasi-wissenschaftliche Aussage über die Entstehung der Welt und des Lebens, als „wissenschaftliche Hypothese“ oder einfach als Phantasievorstellung verstanden, die auf einer Linie mit dem Glauben an den Weihnachtsmann, an Feen und an Rumpelstilzchen liegt. Was das Verständnis des Glaubens als „wissenschaftliche Hypothese“ betrifft, so wird man jedoch gerechterweise zugeben müssen, dass die christliche Tradition, aber auch die Religionsphilosophie nicht nur im englischsprachigen Raum heute zu diesem Missverständnis auch einigen Anlass gegeben hat und gibt. Wie der unterdessen emeritierte Papst in seiner berühmten Regensburger Rede erinnert hat, war das Christentum immer bemüht, den Glauben an Gott zugleich als das vernünftigste Erklärungsprinzip der Welt zu interpretieren. Es hat sich darum um vernünftige „Gottesbeweise“ bemüht, die Gott als ersten Urheber der Welt einsehbar machen sollten. In den Spuren dieser Tradition wandelt heute z.B. auch der englische Religionsphilosoph Richard Swinburne, der mit dem Computer auszurechnen versucht, dass doch mehr als 50% Wahrscheinlichkeit für die Existenz eines göttlichen Urhebers der Welt sprechen.

Doch dieser Versuch ist ebenso abseitig wie der umgekehrte in atheistischer Absicht. Die Naturwissenschaften können mit ihrem Streben nach objektivierbaren Sachverhalten existenzielle Glaubensüberzeugungen weder begründen noch widerlegen. Sie sind methodisch-atheistisch. Was sie als Gott zu errechnen oder nachzuweisen vermöchten, wäre mit Sicherheit nicht Gott, sondern nur ein Teil oder eine Dimension der Welt, also theologisch gesprochen: ein Götze, ein Produkt des Aberglaubens. Die Naturwissenschaften müssen sich darum mit dem Wissen begnügen und sollen vom Glauben wie vom Unglauben die Finger lassen.

Das tun die argumentierenden Atheisten von heute denn auch in gewisser Weise, weil sie merken, dass die leicht über 50 % liegenden Wahrscheinlichkeitsrechnungen nicht gerade ein starkes Argument für die Nichtexistenz Gottes sind. Theoretisch bliebe in diesem ganzen abstrusen Gotteskalkül immer noch die Möglichkeit, dass Gott in von uns nicht erkannten Dimensionen des Universum existiert bzw. hypothetisch als sein „Gestalter“ angenommen werden kann. Dawkins zieht sich deshalb ganz trickreich aus der von ihm selbst gelegten Schlinge, indem er sagt: Dass etwas nicht existiert, braucht auch gar nicht bewiesen zu werden. Wenn z.B. jemand behauptet, im Weltraum fliege eine Teekanne oder ein Spaghettimonster herum, dann ist es an dem, der das behauptet, dafür den Beweis anzutreten und nicht an dem, der das bestreitet.

Er begibt sich mit diesem Argument offenkundig auf das Niveau des ersten Weltraumfahrers Juri Gagarin, der auch verkündet hatte, dass er Gott bei seinem Schnupper-Weltraumflug nicht angetroffen hat. „Der Sputnik und der liebe Gott“ war ein massenweise in der DDR verbreitetes atheistisches Propaganda-Pamphlet. Es suggerierte, dass die Christinnen und Christen glauben würden, Gott sei ein im Weltraum herumschwebendes Ding – eben wie eine Teekanne oder Ähnliches.

Wer dergleichen für Gott hält, gibt damit zu verstehen, dass er von Gott überhaupt nichts versteht bzw. keine existenzielle Glaubenserfahrung gemacht hat, die verstehen lehrt, wer Gott ist. Dawkins redet also schlicht ein Nicht-Glaubender, der die Nicht-Existenz Gottes immer schon voraus setzt und nun versucht, das Vorurteil seines Nicht-Glaubens mit naturwissenschaftlichen Methoden zu begründen. Dabei macht er aus der Naturwissenschaft, die sich in Glaubensfragen nur der Stimme enthalten kann, eine antireligiöse Ideologie.

Der christliche Glaube wird sich hüten, dem mit einer religiösen Ideologie von der Welt- und Lebensentstehung Paroli bieten zu wollen. Sicherlich beurteilt er das, was wir wissenschaftlich auf methodisch-atheistische Weise wissen können, im Lichte seiner Gotteserfahrung. In seiner Perspektive verdankt sich die Welt und wir selbst dem Geheimnis Gottes und nichts spricht aus dem Raum der Naturwissenschaft gegenwärtig dagegen, dass er das tut. Aber das ist dennoch ein Glaubensbekenntnis und kein unserem Wissen vom Werden des Universums und des Lebens mühsam abgezwirbelter Satz.

Was jenes Wissen betrifft, aber so kann und soll uns die naturwissenschaftliche Forschung davon so viel wie möglich besorgen. Je mehr wir wissen können, desto mehr wird uns das wunderbare, atemberaubend großartige, aber noch in so vielen Rätseln verschlüsselte Werk des Schöpfers gegenwärtig. Darum ist der Glaube ein Freund der Naturwissenschaften. Er wird sich aber dessen enthalten, der Wissenschaft Vorschriften zu machen, wie das etwa der atheistische Marxismus-Leninismus getan hat, als er in den 50er Jahren die Lamarckistische Theorie Mitschurins von der Vererbung erworbener Eigenschaften zur Staatsdoktrin erhob und Menschen, die diese Doktrin mit Gründen bestritten, verfolgte.

Ihre Unschuld als Anwältin freier Wissenschaft hat die atheistische Gesinnung in den sozialistischen Zeiten ohnehin gründlich verloren. Dass die „Neuen Atheisten“ dabei sind, jene Unschuld zu bewahren, aber kann man angesichts ihres Bemühens, die Naturwissenschaft mit dem Vorurteil der Gottlosigkeit in einem Leben von Menschen ohne Transzendenz zu funktionalisieren, beim besten Willen nicht behaupten.

 

4. Atheismus als Religionskritik

Keinem Atheisten kann es verborgen bleiben, dass die Bemühungen um den abseitigen „Beweis“ oder „Nichtbeweis“ Gottes mit Argumenten, die den Naturwissenschaften entlehnt sind, ausgehen, wie das Hornberger Schießen. Darum schwenken sie nicht zufällig auf die gute, alte atheistische Schiene um, statt Gott die Glaubenden oder „die Religion“ ins Visier zu nehmen. Sie können ja – wie wir uns eingangs klar gemacht haben – nicht ignorieren, dass der bei weitem überwiegende Teil der Menschheit religiös ist. Nur in unserer Ecke der Welt, die sich mit ihrem Atheismus der Massen der Bevölkerung auf der religiös-weltanschaulichen Landkarte wie eine Absonderlichkeit ausnimmt, ist Religionslosigkeit zur Gewohnheit geworden. Wie kommt das, müssen sich deshalb auch die Atheisten von heute fragen, dass die Religion weltweit beileibe nicht „abstirbt“, sondern aufblüht, obwohl die wissenschaftlich-technische Welt ihr doch den „Sinn und Geschmack“ fürs Religiöse abzugewöhnen scheint?

Um auf diese Frage zu antworten, begeben sich die „Neuen Atheisten“ auf das Spielfeld, auf dem sich schon die alten Atheisten in Europa getummelt haben. Sie konstruieren eine Theorie vom Entstehen der Religion, die begründen soll, warum Religion eine verkehrte Art ist, in der Menschen von ihrem, alles Gegebene überschreitendem Bewusstsein auf überflüssige und verderbliche Weise Gebrauch machen. Die wirkmächtigste religionskritische Theorie dieser Art ist die von Ludwig Feuerbach, die er in seinem Buch „Das Wesen des Christentums“ entfaltet hat. Religion projiziert danach die unendlichen Eigenschaften der menschlichen Gattung in einen Gott hinein, damit er z.B. den Wunsch nach einem leidenslosen, aber auch nach einem ewigen, unsterblichen Leben realisiert. In Wahrheit  entfremden sich die Menschen dabei von ihrem wirklichen menschlichen Wesen. Sie schwächen die Kräfte von Menschen zur Gestaltung des diesseitigen Lebens. Sie vergeuden sie an den sogenannten Himmel. Die Aufgabe der Religionskritik ist es darum, dem Menschen seine Eigenschaften wiederzugeben. Die Theologie muss in Anthropologie überführt werden. Nicht Gott, sondern der Mensch selbst ist „das höchste Wesen des Menschen“. Darum heißt es bei Feuerbach überschwänglich „Homo homini deus est (der Mensch ist dem Menschen ein Gott) – dies ist der oberste praktische Grundsatz, dies der Wendepunkt der Weltgeschichte“.

Karl Marx hat diesen obersten praktischen Grund bekanntlich so weiter entwickelt, dass die Kritik der Religion in eine Kritik der Erde umzuwandeln ist. Religionskritik mündet einer politischen, revolutionären Theorie der Befreiung des verelendeten Proletariats vom sozialen Elend. Feuerbachs Lehre vom Menschen als höchstem Wesen für den Menschen muss nach Marx in den „kategorischen Imperativ“ überführt werden, „alle Verhältnisseumzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.  Mit dieser Religionskritik schicken Menschen sich an, die Befreiung von Ungerechtigkeit und Leiden besser, d.h. realer ins Werk zu setzen als mit dem "Eiapopeia vom Himmel" (H. Heine) bzw. mit dem „Opium“ der Religion.

Andere Theoretiker des Entstehens von Religion haben nach anderen Erklärungen gesucht. Bei Friedrich Nietzsche handelte es sich bei der Erfindung von Religion um das Werk einer mächtigen Priesterkaste, welche die starken Kräfte der menschlicher Lebensentfaltung durch den Gottesglauben zu schwächen trachtete. Sigmund Freud verstand Religion als eine aus dem Vaterkonflikt entstandene Neurose. Mir ist nicht bekannt, dass sich die atheistische Literatur je auf eine dieser Theorien geeinigt hat. Jedenfalls fügen die „Neuen Atheisten“ dem Markt der Möglichkeiten in dieser Hinsicht noch ein weiteres Angebot hinzu. Richard Dawkins behauptet: Dass Menschen beginnen, an Gott zu glauben, sei auf eine „Fehlfunktion“ der Evolution des menschlichen Lebens zurück zu führen.

Unter „Fehlfunktion“ wird dabei ein verkehrter Gebrauch einer eigentlichen nützlichen genetischen Anlage unserer Gattung verstanden. Das Beispiel von Dawkins dafür ist die Motte. Sie ist genetisch darauf  programmiert, sich am Mondlicht zu orientieren. Diese Programmierung verführt sie, sich mit tödlicher Konsequenz ins Kerzenlicht zu stürzen. Dementsprechend gilt: Wir sind genetisch darauf programmiert, unseren Eltern zu vertrauen und also zu glauben. Das verführt uns dazu, das Ziel unseres Vertrauens zu verselbständigen. Wir stilisieren dieses Ziel zu einer für sich existierenden „Überwelt“ Gottes. Durch sog. von Dawkins erfundene „Meme“ (Gedächtniseinheiten, die sich angeblich so vererben wie das Leben) soll sich dieser Glaube dann wie ein Virus fortpflanzen.

Die Widersprüchlichkeit dieser Art von Religionskritik ist mit Händen zu greifen. Erst wird uns erklärt, die wissenschaftliche Erkenntnis und damit auch die Einsicht in die Evolution des Lebens treibe uns den Gottesglauben aus. Dann aber wird behauptet, gerade diese Evolution veranlasse uns zu religiösen „Fehlfunktionen“. Doch wer entscheidet hier, was richtige Funktion von uns menschlichen Wesen und was „Fehlfunktion“ ist? Wenn wir einmal evolutionsbiologisch reden wollen, dann hat uns der naturgesetzliche Vorgang der Evolution des Lebens doch in die Freiheit gesetzt, das aufgrund unserer Erfahrungen mit unserem Leben und der Berührung unseres Geistes von der Transzendenz, die wir Gott nennen, selbst zu entscheiden. Zu den Möglichkeiten dieser Freiheit gehört, Unverfügbares in Existenz und Geschichte in einer alles Objektivierbare überschreitenden Weise als Wirklichkeit wahrzunehmen. Unsere Wirklichkeitserfahrung, ja unser Leben, unterläge auch abgesehen von der Gotteserfahrung einer unsäglichen Verarmung, wenn sie auf die Wahrnehmung von Objektivierbarem und Messbarem reduziert würde.

Was aber unsere Fähigkeit betrifft, einem uns entzogenen Grunde und guten Geheimnis unseres Daseins zu vertrauen, so ist das geradezu die Grundbedingung unseres Lebens. Ohne das Grundvertrauen dazu, dass unser Dasein bejaht und getragen ist, in einen sinnvollen Zusammenhang gehört und einen Horizont von weither hat, versinkt unser Leben nach aller Erfahrung in Verunsicherung und Sinnlosigkeit. Menschen sind darum unausweichlich religiös, auch die, welche sich der Gotteserfahrung verweigern. In die Stelle Gottes rückt dann, wenn sie sich in solcher Verweigerung einrichten, irgendetwas Weltliches ein. Es entsteht allerlei Ersatz- und Pseudoreligiosität, in der Menschen rein Irdischem vertrauen wie einem Gott. Der Marxismus war in seinem Glauben an die Materie und das allmächtige Gesetz der Geschichte penetrant religiös und hat das in seinen Weihefeiern auch zum Ausdruck gebracht. Auch der Wissenschaftsglaube, den wir bei Dawkins finden, ist nicht zu Unrecht eine Religion genannt worden. Sam Harris und auch Schmidt-Salomon verkünden im Unterschied dazu eine Art Buddhismus light, der auf dem Prinzip des Eigennutzes beruht und für meine atheistisch-konfessionslosen Nachbarn in Berlin-Pankow ist schließlich der Schrebergarten oder der Fußball ihr „Gottchen“, wie die Berliner sagen.

Doch auf die Ratschläge, welche wir heute von atheistischer Seite für unsere Lebensführung erhalten, will ich jetzt nicht mehr eingehen. Uns kam es zunächst darauf an, zu fragen, was aus der Auseinandersetzung mit dem Atheismus für die Selbstdarstellung der Christenheit im gottesvergessenen Milieu zu lernen ist. Angesichts der Geschichte des Christentums werden wir uns auf alle Fälle als eine selbstkritische Religion darstellen. Das gilt in Hinblick auf alle Beförderung und Inanspruchnahme von Gewalt durch die Kirche und das damit verbundene Streben nach weltlicher Macht. Das gilt auch für die Fehlentwicklungen, die es im Verhältnis von Kirche und Naturwissenschaft gegeben hat. Wir werden uns heute als eine in den Entwicklungen der Naturwissenschaften kundige Religion darstellen, die in der Lage ist, den Segen und die Grenzen dieser Wissenschaften zu reflektieren.

Damit nun aber niemand denkt, es ginge im gottvergessen-atheistischen Umfeld der Kirche vorgängig um einen intellektuellen Disput, ist hinzuzufügen: Alles, was die atheistische Religionskritik gegen den christlichen Glauben vorzubringen hat, ist durch das Leben der Christinnen und Christen, der Gemeinden und ihrer einzelnen Glieder praktisch zu entkräften. Nicht sich selbst entfremdete oder gar neurotisierte Menschen, sondern in ihrer Menschlichkeit beeindruckende Menschen, die frei sind, ohne Illusionen die Wirklichkeit wahrzunehmen, wie sie ist, können mehr für den christlichen Glauben sprechen als alle Dispute. Nicht am Eigennutz orientierte, sondern für die Nöte und Probleme der Anderen offene Menschen sind nötig, um Vorurteile und Ressentiments gegen ein Leben aus Glauben abzubauen. Denn nicht als Vertreterinnen und Vertreter einer religiösen Ideologie, sondern als Menschen mit einem weiten Horizont, die sich mit ihrem Glauben an Gott auf den Sinn und die Tiefe des Lebens verstehen, sollten Christinnen und Christen ihren gottesvergessenen Mitmenschen begegne.


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