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01.07.2012 00:00 Alter: 12 yrs
Kategorie: Predigten

Ich liege Herr in deiner Hut

Predigt in einem Abendgottesdienst der Luther- und Nordendgemeinde Berlin am 01.07.2012 über Jochen Kleppers Lied


Liebe Gemeinde,

„Ich liege und schlafe ganz in Frieden. Denn Du allein, Herr, hilfst mir, dass ich sicher wohne“. Mit diesen Worten endet der 4. Psalm in unserer Bibel. Wir haben diesen Psalm vorhin ja gemeinsam gesprochen. Da begibt sich also ein Mensch zur Ruhe, nachdem er darauf zurück geblickt hat, was der Tag ihm so gebracht hat. Von Angst ist darin die Rede, die es zu überwinden galt. Von Lügen wird gesprochen, die unserer Leben mehr vergiften können als plumpe Feindseligkeiten. Von lauter Miesepetern ist da ein Mensch umgeben, die ihm auszureden versuchen, dass der vergangene Tag ein guter Tag war.

 Unser Psalmbeter aber begibt sich zur Nachtruhe, indem er sich daran erinnert, dass Angst, Lügen und Miesepeter ihm nicht den Tag zu vergällen vermochten. Es war immer noch mehr da, wofür er Gott zu danken vermochte. Deshalb spuken Angst, Lügen und Miesepeter auch nicht in seinem Bette herum. „Ich liege und schlafe ganz in Frieden“, bekennt er Ende des Tages, am Ende seines Psalms.

 In dem Liede, das wir eben gesungen haben, aber ist das anders. Da steht der letzte Vers des Psalms – aufgeschlüsselt in drei Verse – nicht mehr am Ende, sondern am Beginn eines Abendliedes. Und dadurch verändert dieser Vers sich. „Ich liege Herr in deiner Hut“ ist da nicht mehr eine dankbare Summe, mit der ein Mensch sich nach den Erfahrungen des Tages zur Ruhe begibt. Denn die Erfahrungen dieses Tages waren so beängstigend und schlimm, dass sie auch noch in die Nacht hinein spuken und für das Morgen nichts Gutes verheißen.

 Wir alle, liebe Gemeinde, kennen sicherlich solche Nächte, in denen das Erleben von Unheil oder die Erwartung von Unheil stärker ist als der Schlaf. Der Tag, der uns erwartet, wenn wir aufstehen, ist dann so, dass uns der Mut sinkt, überhaupt aufzustehen. Der Schlaf wird wieder und wieder aufgeschreckt, ja aufgewirbelt von düsterem Bildern und Szenen, in denen wir herum irren und wissen nicht, wohin. Unser Abendlied, das so gar nicht zur deutschen Tradition sentimentaler und gemütvoll-besinnlicher Abendlieder passt, vergegenwärtigt solche Schrecken, die uns die Nacht zur Qual machen.

 Um zu verstehen, warum dieses Abendlied sich nicht in der Ruhe der Nacht wiegt, sondern Gottes Frieden wie einen Schutzschild vor einer schrecklichen Nacht erfleht, müssen wir einen Blick auf das Leben des Menschen werfen, der  dieses Lied im Jahre 1938 gedichtet hat. Es war Jochen Klepper, ein Schriftsteller, dessen Werk sich bis heute hoher Anerkennung erfreut. Sein großer Roman „Der Vater“ wird gerade in diesem Gedenkjahr Friedrich II. von Preußen – , des „alten Fritzen“ – allenthalben in Erinnerung gerufen.

Jochen Klepper war aber auch ein bedeutender Theologe, der seine theologische Leidenschaft auf das Schaffen von christlichem Liedgut konzentriert hat. Nach Martin Luther und Paul Gerhard nehmen seine Lieder die dritte Stelle in unserem Evangelischen Gesangbuch ein.

 In vielen dieser Lieder und besonders in unserem Abendlied spiegelt sich jedoch das schwere, schwere Geschick, das die Nazi-Herrschaft für sein persönliches Leben bedeutete. Er war mit Hanni Stein verheiratet, deren Tochter aus erster Ehe mit einem Juden, Renate, den gelben Stern tragen musste. Die Nazis stuften Klepper darum als „jüdisch versippt“ ein. Der Tochter Renate aber drohte die Deportation in ein Vernichtungslager. Als Klepper selbst nach einem persönlichen Termin bei Hitlers Organisator der Judenvernichtung, Adolf Eichmann, am 10. Dezember 1942  nicht die Ausreise aus Deutschland für Renate erwirken konnte, hat er sich in der Nacht darauf zusammen mit seiner Frau und ihrer Tochter –  aufgeschlagene Bibeln mit „Troststellen“ in den Händen – das Leben genommen.

Im Jahre 1938 hing diese Zukunft schon wie dunkles kommendes Unheil über seinem Leben. Sein Haus sollte aus angeblich städtebaulichen Gründen abgerissen werden. Mit der ganzen Willkür des Naziregimes war täglich zu rechnen. Wie schreibt man da ein Lied, das mit den Worten beginnt: „Ich liege, Herr in deiner Hut“?  Wir wollen es zu verstehen versuchen, indem wir zunächst dieses Lied mit den Versen  6-11 zu Ende singen.

 Lied: EG 486, 6-11: Weil du der mächt’ge Helfer bist

 Jochen Klepper hat dieses Abendlied im Jahre 1938 zusammen mit anderen Liedern in einem Bändchen veröffentlicht, das den Titel „Kyrie“ trägt. Es ist das erste seiner Lieder gewesen, das in ein Gesangbuch der Kirche aufgenommen wurde; freilich nicht in ein deutsches, sondern in das deutsche Schweizerische Gesangbuch und dort auch mit einer anderen Melodie als mit der des Potsdamer Kirchenmusikers Fritz Werner, mit der wir es in Deutschland singen. Die Schweizer wollten jedoch nicht alle Verse dieses Liedes haben. Sie haben deshalb damals mit Kleppers Einverständnis bloß die ersten drei Verse und den letzten übernommen. Im Evangelisch-reformierten Gesangbuch von 1998 aber steht das ganze Lied. 

  Besonders die Verse 7 und 8 bringen etwas sehr Wahres zum Ausdruck. Gott hat uns unser Leben im Rhythmus des tätigen Lebens am Tage und der Entspannung von allem Tun in der Nacht geschenkt. Wer am Tage unter der Leitung von Gottes Geboten seine Kräfte eingesetzt hat, um zum Beispiel den Aufgaben im Beruf, der Gestaltung des privaten Leben oder der Bewältigung von unvorhersehbaren Problemen gerecht zu werden, soll schlafen können.

 Wenn uns aber in der Nacht nicht in Ruhe lässt, was uns am Tage beschäftigt hat, dann ist das immer ein Zeichen dafür, dass mit diesem Tage irgendetwas nicht in Ordnung war. Klepper will sagen: Dass mit uns und Gott irgendetwas nicht in Ordnung war! Denn Gott verlangt uns, am Tage so nach seinem Willen leben, dass wir in der Nacht kummerlos schlafen können. Er möchte, dass wir jeden Tag in seine Hände loszulassen vermögen.

 Das kann ganz leicht sein. Wenn wir auf einen hellen Tag zurück blicken, an dem uns die anstrengende Arbeit munter von der Hand ging, an dem wir viel Schönes erlebt und vielleicht sogar gefeiert haben, dann sind wir redlich müde. Dann können wir den Tag loslassen. Doch wenn die schweren Tage kommen, die unverschuldetes, unverstehbares Leid über uns bringen, dann sieht es schon ganz anders aus. Auch sie machen uns müde, schrecklich müde sogar. Aber sie münden nicht entspanntem Schlaf, sondern in eine angespannte Übermüdung, die überwach den Zeitpunkt des Schlafens verpasst.

 Wir verstehen angesichts dessen die Hintergründigkeit von Jochen Kleppers Rede davon, dass Gott nicht mehr von uns verlangt, als kummerlos zu schlafen. Es ist in Wahrheit das Äußerste, was da von uns verlangt ist, wenn uns Angst und Sorgen den Schlaf rauben. Es ist nämlich etwas, was wir mit Willenskraft und selbst mit Psychotricks gar nicht bewerkstelligen können. Es wäre auch großes Missverständnis, wenn wir Jochen Kleppers Erinnerung an vergangene und zukünftige Guttaten Gottes in seinem Leben wie eine Art Schlaftablette ansehen wollten.

 Was Klepper zu artikulieren versuchte, kann uns vielleicht Besten klar werden, wenn wir ein anderes Lied von ihm aus dem Jahre 1938 heran ziehen. Es ist auch in gewisser Weise ein Abendlied, nämlich ein Lied am Abend eines Jahres. Es heißt: „Der Du die Zeit in Händen hast“ und steht:

 Lied EG 64, 1+3+6: Der Du die Zeit in Händen hast

Auch dieses Lied beginnt mit einem Psalmvers. Wir finden ihn in Psalm 31 und er lautet: „Meine Zeit steht in Deinen Händen“. Damit ist natürlich nicht die abstrakte Kalenderzeit gemeint, in der ein Tag nach dem anderen mit einem Datum versehen wird. Zeit ist in der Bibel immer Zeit zu etwas, wie wir uns – wenn Sie sich noch erinnern – im vorigen Jahr in einer Predigtreihe über die Zeit verdeutlicht haben.

 Die Kalenderzeit verfliegt wie die Blätter im Winde. Ein bloßes Datum sagt gar nichts, wenn es nicht mit der Lebenszeit gefüllt ist, die einem Zeitraum über Stunden, Tage und Jahre hinweg Gewicht und Bedeutung gibt. In diesem Sinne reden wir etwa von der Schulzeit, von der Zeit der ersten Liebe, von der Studienzeit, von der Kriegszeit, von der DDR-Zeit usw., usw.

 Doch auch solche Zeiten können von der Kalenderzeit gewissermaßen aufgefressen werden. Sie geraten in Vergessenheit. Sie werden auf Daten zurück geschrumpft, in denen sich unser Leben in lauter Unwichtigkeit verliert. Jochen Klepper aber hat den Glauben an den ewigen Gott so verstanden, dass alle unsere Zeiten – auch die Zeiten des Tages und der Nacht – von Gott aufgefangen und festgehalten werden. In seinen Händen zerstieben sie nicht im Winde. In seinen Händen werden auch die Zeiten der Angst und der Sorgen verwandelt in den Segen einer Station unseres Lebens auf dem Wege zu Gott.

 Manchmal können wir in unserem Leben solche Verwandlung leidvoller Erfahrung in den Segen der guten Vertiefung unseres Lebensweges ja auch selbst wahrnehmen. Wer von den Älteren unter uns noch weiß, was es bedeutet, wirklich Hunger zu haben, wird ein ganz anderes, tätiges Mitgefühl mit den Hungernden auf unser Erde haben als nur die Satten. Wer eine schwere Krankheit durchzustehen hatte, gewinnt ein dankbareres Verhältnis zu seinem Leben. Wem ein geliebter Mensch entrissen wurde, macht die Erfahrung, wie Traurigkeit einen gelassenen, tief lebensverständigen Lebensmut im Umgang mit den Mitmenschen freisetzen kann.

 Aber nur allzu oft wissen wir nicht und ahnen noch nicht einmal, welcher Segen unseren schlimmen Zeiten in Gottes Händen entsprossen kann. Das Vermächtnis der Lieder Jochen Kleppers für uns ist, solche schlimmen Zeiten der Führung durch Gottes Hand anzuvertrauen. Dieses Vermächtnis ist für uns zwar verdunkelt durch den Verzweiflungsakt, in dem er sich und seine Lieben selbst in Gottes Hände geworfen hat.

 Aber seine Lieder wollen uns nicht zu solchen verzweifelten Taten anstiften. Sie weisen über seinen Lebensweg hinaus in das Leben Gottes mit unseren Zeiten in seiner Hand. Sie tun das auf so wunderbar zarte Weise, wie Klepper seine Begegnung mit Gott in der letzten Strophe seines Abendliedes zum Ausdruck gebracht hat.

 Du hast die Lider mir berührt/ich schlafe ohne Sorgen/der mich in diese Nacht geführt/Der leitet mich auch morgen. Amen.


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