Kategorie: Predigten
Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen
Musikalischer Abendgottesdienst im Rahmen eines Chor- und Orchestertages im Jugendstil-Kirchsaal Berlin-Nordend am 25.06.2016
Liebe Gemeinde,
der Abend ist von altersher für die Christenheit immer ein besonderer Anlass gewesen, Gottes zu gedenken. Denn am Abend hüllt sich die Welt in eine Dunkelheit, für die oder gegen die wir gar nichts tun können. Am Abend sind wir der Dunkelheit ausgeliefert. Am Abend werden wir müde. Da erlahmen unsere Kräfte, mit denen wir den Tag über im Beruf, in der Freizeit und in der Familie aktiv waren.
Diese Kräfte können jedoch verschieden erlahmen. Nach einem guten Tag können wir uns zufrieden der Dunkelheit der Nacht anvertrauen und schlafen gehen. Das ist für die Christenheit von altersher immer ein Anlass gewesen, Gott dafür zu danken und zu loben, dass wir uns nach einem guten Tage auf eine ruhige Nacht freuen können, in der wir Kraft für den kommenden Tag schöpfen.
Aber nicht alle Tage sind gute Tage und nicht alle Abende stimmen uns auf eine ruhige Nacht ein. Wenn die Ereignisse des Tages, die unsere Seele beunruhigen oder bedrücken, in unserem Kopf herum spuken oder wenn wir krank sind und nicht schlafen können, dann setzt uns die Dunkelheit quälend zu. Dann wird sie nicht als eine Wohltat erfahren, die uns einen guten, ruhigen Schlaf gewährt. Dann umhüllt sie uns bedrohlich und uns lässt uns die Gebrechlichkeit und Verletzlichkeit unseres irdischen Daseins empfinden. Dann wird die am Abend hereinbrechende Dunkelheit der Nacht sogar zu einem Vorboten des Todes.
Das Lied „Bleib bei mir Herr“, das wir vorhin gesungen haben, bringt diese Erfahrung der schlimmen Nacht, die wir alle kennen, zum Ausdruck. „Wie bald verebbt der Tag, das Leben weicht, die Lust verglimmt, der Erdenruhm verbleicht“. Demgegenüber stimmt der Dichter dieses Liedes eindringlich in die Bitte der Jünger Jesu ein, die ihn auf dem Wege nach Emmaus trafen: „Herr bleibe bei uns“, haben sie gesagt, „denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget“. „Bleib bei mir Herr“, „wenn mir mein Auge bricht“ – das ist die andere – betende – Art und Weise, Gottes zu gedenken, wenn es Abend wird.
Die Bitte um Gottes Beistand in den Finsternissen der Nacht einerseits und das Gotteslob andererseits finden wir in allen Abendliedern der weltweiten Christenheit in immer neuer Vertiefung. Sie geben einer doppelten Erfahrung Ausdruck: Das ist einerseits die Erfahrung der Wohltat, dass wir Menschen den Schlaf und damit die Dunkelheit und Stille der Nacht brauchen, um für unser Leben am Tage gerüstet sein. Und das ist andererseits die Erfahrung des bedrohlichen Dunkels der Nacht, in dem Menschen nichts mehr bleibt, als sich an Gott zu klammern.
In unserem heutigen Abendgottesdienst aber stehen vor allem Lieder im Zentrum, die auf den Ton des Lobens und Dankens gestimmt sind. Im Falle des Liedes „Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen“ ist es ein ziemlich besonders, nämlich ziemlich britisches Loben und Danken. Es stimmt am Abend ein Loblied an, indem es darauf blickt, dass auf der anderen Seite der Erdkugel Tag ist. Wie der Dichter dieses Liedes, John Ellerton, im Jahr 1870 auf dieses besondere Gotteslob gekommen ist, ist nicht schwer zu sagen.
1870 – das war die Zeit der britischen Weltherrschaft. Die berühmte englische Queen Viktoria, nach der ein ganzes Zeitaltalter – das viktorianische – benannt ist, herrschte da über ein Weltreich – das Empire –, in dem in der Tat immer irgendwo Tag war. Das hat unserem Liederdichter die Vorstellung eindrücklich gemacht, dass überall da, wo die Briten sind, auch die anglikanische Kirche ist – oder jedenfalls sein soll.
Sein Lied war deshalb ursprünglich für Missionsfeiern bestimmt. Es sollte die christliche Missionierung des britischen Weltreichs mit der Vision beflügeln, dass Abendlob und Morgenlob sich in diesem Empire sozusagen die Hand reichen. Wo die einen Gott für den vergangenen Tag loben, fangen die anderen an, ihn für den anbrechenden Tag zu rühmen. Daraus folgt: Die Kirche schläft niemals auf dieser Erde. Sie wacht immer, weil im britischen Empire, wo sie wirkt, immer irgendwo Tag ist und nicht Nacht.
Die religiös gestimmte Königin Viktoria fand das prima. Sie hat deshalb dieses Lied bei ihrem Thronjubiläum im Jahre 1897 bombastisch inszenieren lassen. Die Queen von heute wandelt in ihren Spuren. Wir können uns das bei youToube ansehen und anhören. Nach allerlei militärischem Tatteratata besingt die britische high society – überzwitschert von Knabenchören – voll Inbrunst die niemals schlafende Kirche: „We thank thee that thy church unsleeping“
Man muss kein Splitterrichter sein, liebe Gemeinde, wenn einem bei dieser Rühmung der niemals schlafenden Kirche, nicht ganz wohl zumute ist. Das liegt daran, dass uns bei jemand, der immer wacht, sicherlich nicht an erster Stelle die Kirche einfällt. Denn „Immer wach sein“ ist für den christlichen Glauben ohne Zweifel ein Kennzeichen Gottes. „Siehe der Hüter Israels schläft und schlummert nicht“, heißt es in Psalm 121,4, den wir vorhin gesprochen haben.
Von der Kirche hören wir dergleichen in der Bibel nicht. Eher ist das Gegenteil der Fall. „Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen“? hat Jesus die Keimzelle der christlichen Kirche, seine schlafende Jüngerschaft, im Garten von Gethsemane gefragt. Die gerade bei Tage schlafende Kirche, die wir bis heute in vielen Gestalten kennen, bereitet uns darum Hemmungen, uns im tröstlichen Bewusstsein, dass sie wacht, zu Bette zu begeben. Eine andere deutsche Nachdichtung dieses Liedes – nämlich „Der Tag ist um, die Nacht kehrt wieder“ (EG 490) – hat die Rede von der niemals schlafenden Kirche darum mit Recht weggelassen. Aber natürlich haben auch andere englische Kirchenlieder aus dieser Zeit die Kirche von ihrem eigentlichen Grunde her verstanden. Eines davon steht auch in unserem Gesangbuch. Wir wollen es jetzt singen.
Lied: Die Kirche steht gegründet (EG 264)
Das Lied „Die Kirche steht gegründet“, gehört zu einer Reihe von Gedichten, mit denen Samuel John Stone 1866 Zeile für Zeile das Apostolische Glaubensbekenntnis ausgelegt hat. In unserem Falle ist es das Bekenntnis zu der „einen, heiligen katholischen Kirche und zur Gemeinschaft der Heiligen“. Das erklärt, warum hier von der Kirche als geglaubter, geistlicher Wirklichkeit in überschwänglicher Weise die Rede ist. „Neue Schöpfung“, Braut Jesu Christi, ein Volk aus allen Völkern, die ein Geist, ein Glaube beseelt, wird sie in biblischer Sprache genannt. Schon jetzt in dieser Erdenzeit zeichnet sie „selige Gemeinschaft mit der Erlösten Schar“, die des ewigen Lebens teilhaftig sind, aus – im englischen Text wird diese Gemeinschaft sogar „mystisch süße Gemeinschaft“ genannt.
Die einschmeichelnde Melodie, in welche das alles eingebettet ist, lässt uns tatsächlich auch hineinschwingen in diese wunderbare Wirklichkeit einer neuen Schöpfung, in welcher der ganze Mist einer zerstrittenen, in X-Konfessionen zerspaltenen, in Welttorheit und Weltunheil verwickelten Kirche nicht vorkommt.
Auf der einen Seite hat das sein Recht. Im Glauben an Jesus Christus, der seine Kirche gegründet hat, haben wir Christinnen und Christen die Gewissheit, dass wir zu einer Gemeinschaft gehören, die mehr ist als ein religiöser Verein mit allerhand speziellen religiösen Interessen. Glied einer Kirche Jesu Christi zu sein, bedeutet immer, Anteil zu haben an einer göttlichen Aktion, die den ewigen Geist von Gottes Menschenfreundlichkeit atmet. Glied einer Kirche Jesu Christi zu sein, bedeutet immer, eine Perspektive zu haben. Es bedeutet, dem Herumschlingern der Christenheit im Gestrüpp der allzu weltlichen Dornen und Disteln, die in der Kirche praktisch auch mächtig gedeihen, glaubend voraus zu sein.
Die deutsche Fassung unseres Liedes übertreibt es allerdings ziemlich mit diesem Voraussein. Sie hat die Dornen und Disteln, welche die Füße stechen und hemmen, auszuschreiten auf die „neue Schöpfung“, zu schlicht unterschlagen. Das englische Lied macht das nicht. Es hat nämlich fünf und nicht bloß drei Strophen. In der dritten und vierten Strophe aber kommt die Kirche in den Blick, wie sie sich nicht erst heutzutage faktisch darstellt. „Es schauet ihre Trübsal/ die Welt mit kaltem Spott/, zerrissen und zerspalten,/ bedrängt von harter Not“, heißt es da. Und weiter: „Verfolgt und angefochten/ in heißem Kampf und Strauß/ schaut nach der Offenbarung/ der Friedenszeit sie aus“.
Im Bekenntnis des Glaubens zur Kirche als „Braut Jesu Christi“ hat dieses Lied die in das Weltelend und Weltunheil verwickelte Kirche also keinesfalls aus den Augen verloren. Es mischt sich mit seinem Wahrnehmen der angefochtenen, zerrütteten und schlafenden Kirche auch in Triumphalismus ein, der uns im Liede von der niemals schlafenden Kirche sauer aufgestoßen ist. Denn im Licht des Tages, dem unsere runde Erde täglich entgegen „rollt“, wie es in jenem Liede heißt, wird ja beileibe nicht nur Lobenswertes und Schönes offenbar.
Was die Sonne immer weiter westlich nach Osten wandernd an den Tag bringt, ist auch eine zerrissene, von Krieg und Terror geplagte, in arm und reich gespaltene, von Naturkatastrophen und Krankheiten heimgesuchte Welt. Ihr Anblick in den Abendnachrichten ist sicherlich nicht geeignet, uns in einen ruhigen Schlaf zu wiegen. Eher raubt es uns den Schlaf, dass zur gleichen Zeit, in der wir uns schlafen legen, Menschen den Tag nutzen, um übereinander herfallen; sich das Nötigste zum Leben zusammen zu kratzen und – unendlich viele Tränen geweint werden. Und die Kirche als die weltweit größte Religion ist überall dabei und überall von dem allen auch angesteckt und in das alles verwickelt wie von einer schlimmen Nacht. In ihr wacht sie nicht mit wachem Geiste. In ihr kann sie bloß vor Ermüdung nicht schlafen.
Wie kann sie, wie können wir, die wir nach evangelischen Verständnis alle die Kirche sind und ihr nicht bloß angehören wie einem Kegelverein, aber dann in den letzten Vers unseres Liedes einstimmen, der da heißt: "Dich, Gott, preisen wir für und für"? Wie können wir in das wohl beliebteste Lied der ökumenischen Christenheit von heute einstimmen, das seinen Ursprung in einem über 1500 Jahre alten Hymnus hat? Im Englischen heißt er: „Holy God, we praise they name“ und im Deutschen: „Großer Gott, wir loben Dich“. Wir wollen mit dieser Frage im Herzen die Strophen 1-3 und 9 aus diesem Liede singen.
Lied: Großer Gott wir loben Dich
Seinen Ursprung hat das „Te Deum laudamus“ („Dich Gott loben wir“) nach einer Legende in einer Begegnung des Kirchenvaters Ambrosius mit dem späteren Kirchenvater Augustin Jahre 387. Als Ambrosius Augustin getauft hatte, so wird erzählt, hätte ihnen der Geist Gottes wechselweise ein Gotteslob von 32 Versen auf die Lippen gedrängt. Dieses Gotteslob ist über die Jahrhunderte, ja Jahrtausende hinweg lebendig geblieben. Auch die Reformation, an die wir uns heute aus Anlass des Gedenktages der Augsburgischen Konfession erinnern, hat es sich zu eigen gemacht. Martin Luther hat es ins Deutsche übersetzt. Es steht in unserem Gesangbuch von heute unter der Nummer 191. Aber dort ist es mit einer Melodie aus der klösterlichen Gesangskultur verbunden, die heute nur noch ganz wenige Menschen kennen.
Schwung in die weltweite Christenheit hinaus und vor allem in die englischsprachige Christenheit hinaus bekam dieses Lied aber erst im 18. Jahrhundert. Der katholische Dichter Ignaz Franz hat die Vorlage für die Übersetzung dieses Liedes in fast alle Sprachen der Welt geliefert. Woher die Melodie stammt, weiß man nicht so genau. Es ist jedenfalls eine Melodie, die das Rühmen der Stärke Gottes unterstreicht, die alle Widerstände gegen seine Herrschaft überwindet.
In der Tradition der lutherischen Reformation ist dieses Lied in dieser Version aber nie sonderlich beliebt gewesen. Es wurde als zu triumphalistisch empfunden. Der Gott, der sich im Menschen Jesus für uns erniedrigt hat, passt schwer zu dem, vor dessen Größe und Stärke sich die Erde neigt und seine Werke bewundert. Das tut sie ja auch tatsächlich gar nicht, wie wir täglich erfahren. Davon kann angesichts von so viel Elend auf der Erde auch die Christenheit nur singen und sagen, wenn Gottes guter Geist ihr zu seinem Lob und Preis die Zunge löst.
„Herr erbarm, erbarme dich/ lass uns deine Güte schauen“ heißt es darum in der letzten Strophe unseres Liedes. Das will sagen: „Öffne du uns doch die Augen für das Wunder Deiner Schöpfung, das wir Menschen so verdunkeln und verderben. Lass es nicht dazu kommen, dass uns das Lob Deiner Güte auf den Lippen erstirbt. Denn nur, wenn wir dich in deiner großen Menschenfreundlichkeit loben und preisen können, werden wir frei, unser Leben von Deiner Liebe leiten zu lassen. Dann können wir uns jeden Abend darauf freuen, Morgen mit einem solchen Leben aufs Neue anzufangen. Amen.