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12.03.2014 21:56 Alter: 10 yrs
Kategorie: Vorträge

Buße - Beichte - Vergebung

Ein (fast) vergessenes Anliegen der Reformation Vortrag beim Pfarrkonvent Berlin-Reinickendorf am 12. März 2014


1. Probleme mit der Buße

„Als unser Herr Jesus Christus sagte: ‚Tut Buße‘, da meinte er, dass unser ganzes Leben eine Buße sein solle“. So lautet die erste der 95. Thesen, die Luther 1517 an die Tür der Schlosskirche von Wittenberg geschlagen hat. „Buße“ ist deshalb so etwas wie das erste Wort der Reformation. Es ist ausweislich der Bekenntnisschriften der lutherischen wie der reformierten Kirche ein Grundwort der Reformation geblieben. Es taucht in allen Zusammenhängen auf, wo es um den rechten, evangeliumsgemäßen Glauben, die rechte, aus dem Evangelium lebende christliche Kirche und ihre Glieder geht.

Aber hat jemand, der sich heutzutage mit der Evangelischen Kirche in Deutschland in „Reformationsdekaden“ auf den Weg zum Reformationsjubiläum im Jahre 2017 macht, schon einmal etwas von „Buße“, geschweige denn von „Beichte“ gehört? „Reformation und Politik“, heißt diese Dekade in diesem Jahr, „Reformation und Toleranz“ hieß sie im vorigen und „Reformation – Bild und Bibel“ sowie „Reformation und die eine Welt“ wird sie in den beiden nächsten Jahren heißen. Das alles sind wichtige und richtige Themen, wie sie auch die vorangegangenen „Reformationsdekaden“ hatten („Reformation und Bekenntnis“, „Reformation und Freiheit“, „Reformation und Bildung“, „Reformation und Musik“). Mit Buße aber haben diese Themen allenfalls annäherungsweise etwas zu tun und mit „Beichte“, in welcher die Buße im reformatorischen Sinne konkret vollzogen wird, gar nichts. Wenn zum Beispiel von „Reformation und Politik“ die Rede ist, dann beklagt fast jeder Beitrag dazu die unselige Verquickung der reformatorischen Kirchen in politische Machtausübung, in Kriege, in Kolonianisierung und was es sonst noch an Inanspruchnahme politischer Macht für die Ausbreitung der reformatorischen Botschaft in der Vergangenheit gegeben hat. Einen „Sinneswandel“ (μετάνοια!) unserer Kirche, der zu Buße gehört, kann man das schon nennen. Aber können wir die Kritik an Fehlentwicklungen unserer Kirche im Abstand von hunderten von Jahren im Ernst Buße nennen?

Das Wort „Buße“ taugt offenkundig nicht so recht, wenn unsere Kirche samt ihrer Theologie heute bedauert, dass unsere evangelischen Vorfahren die Verquickung ihres Auftrags zur Evangeliumsverkündigung allzusehr mit dem Schalten und Walten der „Obrigkeit“ und ihren kriegsgeilen Machtinteressen verbandelt haben. „Buße“ hat nur Sinn im Hinblick auf Taten und Unterlassungen, für die wir selbst verantwortlich sind. Dass wir für etwas „büßen“ müssen, was andere angerichtet haben, ist letztlich ein fatalistischer Gedanke, der – nebenbei bemerkt – auch bei der kirchlichen Beurteilung der Teilung Deutschlands, dessen Last vor allem der Osten Deutschlands zu tragen hatte, eine gewisse Rolle gespielt hat. Es sei die uns auferlegte Buße für die Naziherrschaft und den 2. Weltkrieg, dass wir als geteiltes Land und bedrängte Christenheit der Herrschaft einer atheistischen Weltanschauungsdiktatur unterworfen seien, wurde da behauptet. Dass Gott die Taten der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied und sicherlich noch darüber hinaus, ist wohl wahr. Aber „Buße für andere“, stellvertretende Buße gewissermaßen, ist doch eine Verkehrung des Sinnes von Buße, die sich auf das bezieht, was wir selbst verschuldet haben. Das schließt nicht aus, dass wir zu der Verantwortung stehen, welche die Schuld unserer Vorfahren uns auferlegt und bereit sind, die Wunden der Vergangenheit zu heilen.

Es hat allerdings einen Fall in der jüngeren deutschen Kirchengeschichte gegeben, bei dem Buße für selbst verschuldetes Leid und Elend am Platze gewesen ist. Das war nach dem Ende der Naziherrschaft, als die Evangelische Kirche in Deutschland sich zum „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ aufgerafft hat. Das Wort „Buße“ sucht man in diesem Bekenntnis allerdings vergebens. „Wir klagen uns an“, heißt es dort in komparativer Weise, „dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben“. Mit dem „Darmstädter Wort“ wollte der Bruderrat der Bekennenden Kirche 1947 dieses halbwegige Schuldbekenntnis, das zugleich auch eine Selbstrechtfertigung ist, korrigieren. Aber auch dieses „Wort“ des Bruderrates meidet den Begriff der „Buße“. Das verdankt sich offensichtlich der Einsicht, dass „Buße“, auch wenn sie sich auf selbst verantwortetes Tun und Unterlassen bezieht, kein Kollektiv-Vollzug ist. „Buße“ ist das, was in das Leben jedes einzelnen Christenmenschen gehört, der dieses Leben vor Gott verantwortet.

Doch die Buße den einzelnen Gliedern unserer „Volkskirche in gutem Sinne“ (wie sich unsere Kirche versteht) einzuprägen, trauen sich die „Reformationsdekaden“ offenkundig nicht. Und nicht nur sie. Dass sie eine unverzichtbare Praxis für ein christliches Leben ist, spielt auch in den Gemeinden keine hervor gehobene Rolle. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen weckt das Wort „Buße“ im umgangssprachlichen Gebrauch lauter negative Assoziationen. „Bußgeldbescheide“ sind die Strafen für Verkehrsvergehen. Wer im Gefängnis seine Strafe „abbüßen“ muss, ist ein Mensch, dem die Freiheit der Lebensführung entzogen wird. „Etwas büßen müssen“ bedeutet auch sonst, die negativen Konsequenzen seines Tuns und Verhaltens ertragen müssen. „Buße“ hat es in all‘ diesen sprachlichen Wendungen immer mit einem Erleiden zu tun, das Menschen demütigt und erniedrigt.

Dergleichen passt nicht so recht zum Menschenverständnis, das unserer Gesellschaft zugrunde liegt. Hier dominiert der Gesichtspunkt freier Verantwortlichkeit der Menschen für ihr Leben als einer Dimension der Menschenwürde. Den Eindruck, dass die christliche Botschaft Menschen klein und niedrig machen möchte, indem sie sie zur Buße ruft, möchte unsere Kirche in unserer Gesellschaft auf keinen Fall erwecken. Darum legt sie als „Kirche der Freiheit“ vor allem den Ton auf die freien Möglichkeiten, welche der Glaube an Gott Menschen schenkt. Doch „Freiheit“ ist im Sinne des Neuen Testaments und der Reformation nie nur Freiheit zu etwas, sondern zuerst Freiheit von etwas, nämlich Freiheit von der Sünde. Von der Sünde aber kann man nicht frei werden, ohne sie im eigenen Leben zu erkennen und zu bekennen. Das geschieht in der Buße, welche die Gestalt in der Beichte annimmt.

Im überlieferten Verständnis der Buße auch und gerade in unserer evangelischen Tradition steckt jedoch durchaus das Moment der Demütigung sündiger Menschen vor Gott. Mehr noch: Es ist dort mit einem Gottesverständnis verbunden, welche das Strafen Gottes als unerlässlich für seinen Umgang mit Sünderinnen und Sündern ansieht. „Poenitentia“ – abgeleitet „poena“ (Strafe), „Strafvollzug“ also – heißt das lateinische Wort für μετάνοια. Dass wir „armen, elenden, sündigen Menschen“ für alle unsere Sünden und Missetaten Gottes Strafen „zeitlich und ewiglich verdient haben“, ist eine zentrale Aussage des fälschlich Luther zugeschriebenen Beichtbekenntnisses, die auch in den Kirchenliedern einen mannigfachen Widerhall findet. Nur einige Beispiele von Paul Gerhard: „Richt unsre Herzen, dass wir ja nicht scherzen mit deinen Strafen“ (Lobet den Herren, alle die ihn ehren, EG 447, 9). „Schau her, steh ich armer, der Zorn verdienet hat“ (O Haupt voll Blut und Wunden, EG 85, 4). „Ich bin‘s, ich sollte büßen/ an Händen und an Füßen, gebunden in der Höll“ („O Welt sieh hier dein Leben am Stamm des Kreuzes schweben“ (EG 84, 4).

Warum viele Gemeindeglieder Schwierigkeiten haben, dergleichen mitzusingen und sich auch beim großen Beichtgebet (das nach meiner Beobachtung immer mehr aus unseren Gottesdiensten verschwindet) unwohl fühlen, ist leicht einzusehen. Angst vor Gottes Strafen ist nicht das Motiv ihrer Gottesbeziehung. Dieses Motiv besteht eher darin, dass Gott sie frei macht, nüchtern und realistisch ihre Situation vor Gott zu erkennen und einzugestehen. Darüber hinaus partizipieren sie aber auch an dem allgemeinen Bedeutungsverlust, den die Vorstellung und der Begriff der „Sünde“ in der neueren Zeit erlitten hat. In der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ist „Sünde“ zu einem Wort geworden, das Unernsthaftes bezeichnet. „Wir sind alle kleine Sünderlein“, singen nicht nur die rheinischen Jecken. „Sündigen“ gilt im männlich- weiblichen Beziehungsbereich als etwas durchaus ziemlich Amüsantes. Im Synonymwörterbuch der DDR wurde bei „Sünde“ „Fehltritt“ angegeben! Bei „Diätsünden“ gönnt man sich etwas sehr ungesund Leckeres. Verkehrs- und Umweltsünden ziehen, wenn sie herauskommen, zwar „Bußgelder“ nach sich, aber sie stellen nicht das ganze Leben von Menschen in Frage.

Dieses gewissermaßen klimatisch in unserer Gesellschaft waltende Sündenverständnis färbt ohne Zweifel auch auf unsere Kirche ab. Dass „Sünde“ dasjenige sei, was die Gottesbeziehung bzw. den Glauben an den Gott, der vergibt, erfordert, wird allenfalls schüchtern gesagt. Wenn es um menschliches Fehlverhalten geht, greifen selbst hoch offizielle kirchliche Texte eher zu Worten wie „Versagen“ oder „Schuld“. Es ist darum auch kein Wunder, dass die ritualisierte Form der Buße, nämlich die Beichte, in unseren Gemeinden ein Schattendasein führt. Als allgemeine Beichte mit dem Zuspruch der Vergebung wird sie in unseren Gottesdiensten, wo sie einmal ihren Platz vor dem Abendmahl hatte, immer weniger praktiziert. Unser Evangelisches Gesangbuch bietet zwar ein gar nicht so schlechtes Formular für den Vollzug der Einzelbeichte an. Aber ich kenne keinen Gemeindebrief, wo darauf hingewiesen wird, dass zu der und der Zeit Gelegenheit zur Beichte besteht. Und unsere EKBO- „Kirche morgen“, die sich 2012 vorgestellt hat, weiß unter dem Stichwort „geistliches Leben“ weder etwas von menschlicher Sünde noch von Buße und Beichte.   

Das ist bei allen Problemen, mit denen das reformatorische Buß- und Beichtverständnis verbunden ist und die das Sündenverständnis uns bereitet, jedoch kein guter, zu begrüßender Trend in einer reformatorischen Kirche. Natürlich ist er dadurch befördert worden, dass „Beichten“ im protestantischen Raum als etwas „Katholisches“ gilt und es keinen sichtbaren Ausweis für das Beichten wie den Beichtstuhl in unseren Kirchen gibt. Selbst die „Lebensordnung“ unserer Kirche stellt resigniert fest, dass die „ausdrückliche Einzelbeichte nur in geringem Umfang praktiziert“ wird. Diese Lebensordnung gibt deshalb vor allem Ratschläge für das Seelsorgegespräch. Das Angebot solcher Gespräche mit all den psychologischen Komponenten, die man unterdessen als Seelsorgerin und Seelsorger regelrecht „trainieren“ kann, ist ohne Zweifel als Dienst unserer Kirche ganz wichtig. Doch religiöse Psychologie ersetzt nicht die Beichte. „Es ist nicht Mangel an psychologischen Kenntnissen, sondern Mangel an Liebe zu dem gekreuzigten Jesus Christus, wenn wir so armselig und untauglich sind für die […] Beichte“, hat Dietrich Bonhoeffer gesagt („Gemeinsames Leben. DBW 5, 100). Diesen Satz müssen wir m. E. verstehen, wenn wir uns nicht damit abfinden möchten, dass die in der Beichte konkret vollzogene Buße in unserer Kirche fast in Vergessenheit geraten ist. Dazu ist, damit wir nicht in der Luft herum stochern, ein kurzer, aber auch kritischer Blick auf das reformatorische Buß- und Beichtverständnis unerlässlich.

 

2. Beichte reformatorisch: Rechtfertigung aus Glauben in ritueller Konkretion

Auslöser der Reformation war – wie wir eingangs schon angedeutet haben – die Art und Weise der Bußpraxis in der römisch-katholischen Kirche des 16. Jahrhunderts. Luther hat diese Praxis in den Schmalkaldischen Artikeln einigermaßen zutreffend geschildert. Die Buße ist demnach ein Sakrament, das aus contritio cordis, confessio oris und satisfactio operis besteht (AS III, 438, 19f.). In der Form, die Luther in praxi vor Augen hatte, bedeutete das: Menschen vermögen sich durch eine ihnen mögliche contritio - Zerknirschung, Reue - übr ihre Sünde auf den Empfang dieses Sakraments vorzubereiten. Sünderinnen und Sünder vermögen das von ihrer Ausgangsposition in der Sünde aber gar nicht. Sie bringen es höchstens zu einer attritio, d.h. zu einer "Anknirschung" (Furchtreue). Darum rechnet ihnen die satisfactio operis die atttritio als contritio zu. Luther wendet dagegen ein, dass hier "die blinde Vernunft tappet in Gottes Sachen und Trost sucht in eigenen Werken". Eine solche Reue "ohn Erkenntnis Christi" sei "gemachter und getichter Gedanke aus eignen Kräften ohn Glaube (AS III, 440,13ff.). Dergleichen könne nicht zu einer wahren Änderung des sündigen Menschen führen.

Die Beichtpraxis selbst, die dann in der Aufzählung von Einzelsünden bestand, aber beurteilt Luther als "eine große Marter", weil niemand wusste, "wenn er rein genug gebeicht haben sollt" (AS III, 441,1ff.). Aus alledem folgt, dass auch die satisfactio operis ganz unsicher war, weil ja nicht gewiss war,  ob sie alle Sünden abdeckte. Deshalb wurde die endgültige satisfactio ins Fegefeuer verwiesen - eine Praxis, die schließlich den Ablasshnadel zum Blühen brachte. Luther sagt darum: Mit "eitel Heuchelei" hat die Buße angefangen und mit großer "Buiberei und Schalkheit" ist sie ausgegangen (AS III, 444,1ff.). Melanchthon urteilt ebenso. Diese Lehre von der Buße sei "öffentlich falsch, unrecht, wider die klaren Worte Christi, wider alle Schrift und Aposteln, wider die ganze heiliege Schrift und Väte"r (AP XII/16ff., 256, 1ff.).

Die wahre Buße wird dagegen täglich und lebenslang in einem christlichen Leben vollzogen, das von Gottes Wort bestimmt ist. Sie besteht einerseits aus der contritio, d.h. aus „Reue und Leid oder Schrecken über die Sünde“ (CA XII, 67,1f) und andererseits aus dem Glauben an die Zusage des Evangeliums, dass Gott den Menschen, die sündigen, vergibt. Das ganze christliche Leben ist in diesem Sinne ein Übergang von der Reue über die Sünde zum Glauben an Gottes Vergebung. Für diesen Übergang sorgt Gottes Wort auf zweierlei Weise: Als Gesetz lässt es die sündigen Menschen den schrecklichen Zorn Gottes über ihre Sünde spüren. Das Gesetz Gottes drückt sie so nieder, dass sie nicht mehr aus noch ein wissen (vgl. ApolCA XII/34, 258,2ff.), ja den „Tod fühlen“ (vgl. AS III 436, 4). Es bewirkt auf diese Weise die Reue über die Sünde. Dann sind Menschen in der richtigen Situation, in der sie Gottes Wort als Evangelium trifft, das sie im Glauben der Vergebung ihrer Sünde gewiss macht.

Das reformatorische Verständnis der Buße ist in diesem Sinne nichts weiter als die Einübung der Rechtfertigung allein aus Glauben im christlichen Leben. Dass dabei das Gesetz Gottes als „Donneraxt Gottes“, wie Luther sagt (AS III, 436, 23), so eine wichtige Rolle als Triebkraft der Reue spielt, wird uns noch beschäftigen. Uns kommt es hier zunächst darauf an, zu verstehen, dass das reformatorische Verständnis der Beichte punktgenau die rituell vollzogene Konzentration dessen ist, was das ganze Leben von Christinnen und Christen im Glauben an den uns rechtfertigenden Gott ausmacht. Das erklärt, warum die Beichte in den lutherischen Bekenntnisschriften eine so hervor gehobene Rolle spielt und sowohl der Große wie der Kleine Katechismus Anweisungen zur Einzelbeichte enthalten (KK: Wie man die Einfältigen soll beichten lehren; BSLK, 517ff.; GK: Eine kurze Vermahnung zu der Beicht, BSLK, 725).

Begründet wird die Unerlässlichkeit der Beichte mit dem Gebot Christi, das nach Matthäus 18,19 der Kirche das sogenannte Amt der Schlüssel übergeben haben. Luther definiert: „Die Schlüssel sind ein Ampt und Gewalt, der Kirchen von Christo gegeben, zu binden und zu losen die Sunde, nicht allein die groben und wohlbekannten Sunde, sondern auch die subtilen, heimlichen, die Gott allein erkennet“ (AS III, 452,9ff.; vgl. AP XII/39, 259, 5ff.). Die Wohltat dieses Amtes kommt der Christenheit zu Gute, indem die Buße die Gestalt der Beichte annimmt. Wer beichtet, existiert nicht nur im persönlichen Übergang von der Reue über die Sünde zur Vergebung. Ihm wird die Vergebung auf sein Sündenbekenntnis hin ganz persönlich von einem anderen Menschen im Namen Jesu Christi zugesprochen.

Die Hochschätzung der Beichte als Rechtfertigungsereignis in concretissimo erklärt es auch, warum sowohl Melanchthon in der Apologie zur CA wie Luther am Verständnis der Buße in Gestalt der Beichte als “drittes“ Sakrament festgehalten haben (vgl. AP XIII/3, 292,14ff.; GK 706,1). Die menschliche Stimme galt als das dem Taufwasser bzw. den Abendmahlselementen Brot und Wein vergleichbare äußerliche Zeichen, durch welches das Wort Christi auf sichtbare, den Sinnen einprägsame Weise wirkt. Diese Ansicht hat sich nicht durchgesetzt. Denn sie entsprach nicht dem Kriterium, dass sich Sakramente im Unterschied zum Wort an die Sinne von Menschen wenden. Vielleicht hat die Entsakramentalisierung der Beichte aber auch dazu beigetragen, dass sie im Leben der evangelischen Gemeinden nicht erst seit heute ihren festen Platz verloren hat.

Im Sinne der Reformatoren war das nicht. Sie haben sich gegen den Beichtzwang gewendet und sie haben insbesondere die selbstquälerische Aufzählung von Einzelsünden kritisiert. Wer beichtet, steht nicht unter dem Zwang, durch solches Aufzählen Vergebung der Sünden erlangen zu wollen. Nur weil die einzelnen Menschen, die sich Gottes Gesetz angehen lassen, ihre besonderen Sünden drücken, drängt es sie, sie vor dem anderen Christenmenschen auszusprechen, sie zu bekennen und die Absolution persönlich zugesprochen zu bekommen. Diejenigen, die das nicht nötig zu haben meinen, werden von Luther als „Säue“ bezeichnet. Sie hätten lieber „unter dem Bapst bleiben“ sollen und „sich lassen treiben und plagen, dass sie müßten beichten, fasten etc. mehr denn vor je“ (GK Vermahnung, 726,34). Christenmenschen gehen dagegen frei und ohne Zwang zur Beichte. Es ist einem „iglichen [... ] heimgestellet“, wann er das tun will (vgl. GK Vermahnung, 728,38). Er tut es aber gerne, weil "Christus selbs die absolutio seiner Christenheit in Mund gelegt und befohlen hat, uns von Sunden auszulosen (GK, Vermahnung, 728, 41ff.).  

Im reformatorischen Sinne haben alle Christinnen und Christen diese Vollmacht, anderen Menschen auf ihr Bekenntnis der Sünde hin zu sagen: „Ich aus dem Befehl unseres Herrn Jesu Christi vergebe Dir Deine Sunde im Namen des Vaters und des Sohns und des heiligen Geistes“ (KK, Beichtbüchlein, 519, 23). Allgemeine Praxis ist das freilich in den Gemeinden nie gewesen. Die hohe Verantwortung für das Beichtgeheimnis hat dazu geführt, dass in den Gemeinden das Abnehmen der Beichte an das Amt der Verkündigung und Sakramentsverwaltung gebunden wurde. Der Ort dafür war die Vorbereitung auf das Abendmahl. Im vom orthodoxen Luthertum geprägten Gemeinden wurde bis ins 18. Jahrhundert hinein den Teilnehmenden die Einzelbeichte abgenommen. Das hat dann doch zu einem neuen Beichtzwang geführt, so dass dieser Brauch – nicht zuletzt unter dem Einfluss des Pietismus und der Aufklärung – der allgemeinen Beichte vor dem Abendmahlsempfang gewichen ist.

 

3. Wahrhaftigkeit als Lebensdatum contra säkularisierte Beichte

Nach diesem nur kurzen Blick auf das lutherisch-reformatorische Verständnis der Beichte ist klar: Dieser Ritus war den Reformatoren deshalb so wichtig, weil er sichtbar in einer rituellen Form einprägte, dass die Rechtfertigung sündiger Menschen durch Gott konkret im Leben von Christinnen und Christen ankert. Es geht hier nicht bloß um einen innerlichen Vorgang, bei dem wir uns unserer Gottesvergessenheit in den vielen Vollzügen unseres Lebens bewusst werden und Vertrauen dazu fassen, dass Gott uns vergibt. Darum geht es ohne Zweifel, indem wir Hörerinnen und Hörer des Evangeliums sind, an erster Stelle. Darüber hinaus ist aber für uns als leib-seelische Wesen auch wichtig, dass die Rechtfertigung ausweisbar in unserer geschichtlichen Existenz Fuß fasst. So wie die Sünde der Gottesferne im Äußerlichen ihr Werk tut, soll ihr auch ein Damm im Äußerlichen, im lauten Bekenntnis der Sünde und im lauten Freispruch entgegen gesetzt werden. Rechtfertigung wird bei der Beichte zu einem Datum, zu einem Einschnitt in der Biographie, die so zum Leben eines Menschen gehört, wie der Berufsanfang oder die Ordination. Es vergisst sich nicht mehr, wenn ein Mensch zu Dir in der Vollmacht Jesu Christi gesagt hat: „Ich spreche Dich im Namen Gottes frei von dem, was Du im Vergessen Gottes mit Deinen Gedanken, Worten und Werken angerichtet hast. Dich braucht das Vergangene nicht mehr quälen. Vor Dir liegen offene Horizonte, in die Du in der Freude an Gottes Geboten frei und fröhlich aufbrechen kannst“.

Wem sich das Erlebnis der Beichte so in sein Leben eingekerbt hat, für den verliert sie allerdings die Dimension des Düsteren, die – abgesehen von den negativen Assoziationen, die heute das Wort „Buße“ auslöst – mit dem lutherischen Buß- und Beichtverständnis auch verbunden ist. Sie verdankt sich – wie wir gesehen haben – einem Verständnis des Gesetzes Gottes, das uns vorhält, wie aussichtslos verkehrt, schändlich, bloß der Hölle würdig sich unser Leben vor Gott darstellt. „Arme, elende Menschen“ sind wir in der Optik dieses Gesetzes. „Ich bin altes Raabenaß, ein rechter Sündenknüppel“ hieß es drastisch in einem lutherischen Liede. Nur von Gottes Gesetz gedemütigte Menschen können recht beichten, hat Luther gemeint.

Wir können jetzt nicht die ganzen Facetten von Luthers Lehre von „Gesetz und Evangelium“ in ihrer Berechtigung und in ihrer Problematik ausleuchten. Aber die Ansicht, dass das Niederprügeln von Menschen mit dem Gesetz und nicht mit Gottes Güte uns zur Buße (Römer 2, 4) leitet, war ein theologischer Fehlgriff. Er hat das Seine dazu beigetragen, dass das persönliche Beichten in den reformatorischen Kirchen erschlafft ist. Denn das Vorhalten von Gesetzen beflügelt Menschen in Wirklichkeit nur, sich damit zu rechtfertigen, dass sie diese Gesetze nicht betreffen. Solche Vorhaltungen befördern im Gegenteil die Selbstrechtfertigung, wie der Umgang mit der Verwicklung von Christinnen und Christen in die menschenverachtenden Praktiken der Stasi in jüngerer Zeit gerade wieder einmal eindrücklich gelehrt hat. Gesetzlich verordneter Abmarsch in die Hölle ist kein guter Wurzelboden von Reue und Sündenbekenntnis. Dazu muss man frei sein. Das aber ermöglicht eine Atmosphäre des Evangeliums, die es mir ermöglicht, mich ganz unverstellt und wahrhaftig vor Gott zu sehen und mich in dieser Unverstelltheit vor Gott auch darzustellen und auszusprechen.

Dieses konkrete Aussprechen der Sünde ist selbst schon ein Akt im Horizont der Freiheit von der Sünde. Denn die Sünde, hat Dietrich Bonhoeffer richtig gesagt, „will unerkannt bleiben. Sie scheut das Licht. Im Dunkel des Unausgesprochenen vergiftet sie das ganze Wesen des Menschen. […] Die ausgesprochene bekannte Sünde (aber) hat alle Macht verloren“ (a.a.O., DBW 5, 94f.). Wer die Sünde bekennt, duckt sich nicht nieder, er richtet sich auf. Er freut sich, wahrhaftig sein zu können. „Nun darf er Sünder sein“, lesen wir wiederum bei Dietrich Bonhoeffer (a.a.O., DBW 5, 95).

Mir ist bei diesem Satz sofort ein anderer in den Sinn gekommen. Er steht in Michel Houellebecqs Roman „Elementarteilchen“. Dort wird das Leben eines „postmodernen“ Menschen geschildert, der ohne jedes ethische Maß für irgendetwas Menschliches fast nur von seinen Trieben gesteuert existiert. Bei ihm meldet sich kein Gewissen, wenn er z.B. seiner sterbenden Mutter im nüchternen Tone ins Gesicht sagt, sie sei eine „alte Schlampe“, die endlich verrecken soll. Er hat alles Gespür für gut und böse verloren. Auf den ersten Blick klingt es wie einer von den Witzen, wie ihn die alles veralbernde „Spaßgesellschaft“ von heute so liebt, wenn dieser Mensch sagt: „Ich wäre so gerne ein Sünder gewesen, aber es gelang mir einfach nicht“.

Doch bei näherem Zusehen ist es doch etwas anderes als ein Witz. Es ist der traurige Ausdruck für die Lebensempfindung, eigentlich gar nichts zu sein, was der Beachtung wert ist. „Sünder“ – das wäre wenigstens noch die Möglichkeit, zum Stehen zu kommen, sein Antlitz zu zeigen und die Chance der Antwort: „Hier bin ich, das bin ich, besser als so bin ich nicht“. „Sünder“ – das würde wenigstens die Frage nach einem anderen Leben wach rufen. Noch nicht einmal mehr Sünder sein, aber heißt: einfach nur durchs Leben rutschen, unabsehbar schlüpfrig werden. Es heißt nur schiefe Ebene, nur Ausnutzen, ja Aussaugen des Lebens ohne Horizont. Wo das aber geschieht, verwischen sich die Konturen unseres Daseins in lauter Gleichgültigkeit, in der es kein wirkliches Glück, aber auch kein wirkliches Leid mehr gibt. Da breitet sich um Menschen herum eine beklemmende Atmosphäre von Menschenverachtung aus.

Wer dagegen Sünder sein darf und das bekennen kann, dessen Leben hat Konturen, die von der existentiell vollzogenen Unterscheidung zwischen gut und böse im eigenen Sinnen und Trachten, im eigenen Handeln und Verhalten geprägt sind. Man kann dieses Unterscheiden, zu dem unser Gewissen ruft, sicherlich bis zu einem gewissen Grade für sich selbst vollziehen und mit sich selbst ausmachen. Aber wir Menschen sind Beziehungs- und Gemeinschaftswesen, die nicht umhin können, mitzuteilen, wer sie sind, wenn sie mit anderen Menschen zusammen leben wollen. Wer sich ins Verschweigen dessen zurück zieht, wer er ist, fällt aus den Beziehungen, in denen er lebt. Im schlimmsten Falle wird er krank, im nicht viel weniger schlimmen Falle betäubt er sich.

Die Äußerungen von konfessionslosen Atheistinnen und Atheisten, die Rita Kuczynski in ihrem Buche „Was glaubst du eigentlich? Weltsicht ohne Religion“ (Berlin 2013) gewiss nicht repräsentativ, aber exemplarisch als eine Art Beichte dieser Leute zusammen getragen hat, sind in dieser Hinsicht ernüchternd. Von der Sinnlosigkeit ihres Lebens, d.h. von der Zusammenhangslosigkeit und Bedeutungslosigkeit ihres Daseins sind bis auf paar alte Parteikader fast alle überzeugt. Hedonismus, Orientierung am Genuss aller Art bis es nicht mehr geht zieht sich wie ein roter Faden durch dieses Buch. Für erstaunlich viele sind sprachlose Katzen oder andere Haustiere im Alter der einzige Trost ihres Lebens. Denen können sie erzählen, wer sie sind, weil niemand mehr da ist, der ihnen zuhört und sich dafür interessiert, wer sie sind. Beichten von Nichts, was unter Menschen der Rede wert ist, könnte man diese Selbstoffenbarungen nennen.

Es gibt in unserer Gesellschaft aber auch den umgekehrten Trend. Das ist der besonders durch die Medien beförderte Drang vor allem prominenter Menschen in sogenannten „Lebensbeichten“ mehr oder weniger bisher verborgene Einzelheiten aus ihrem Leben mitteilen. Das reicht von hoch interessanten Biographien bis hin zu den Mitteilungen von Boris Becker aus der Besenkammer. Zu diesem Trend zur Selbstoffenbarung zählen sicherlich auch die vielen Talkshows, die Kummerkästen der Zeitschriften und die vielen Möglichkeiten des Internet, geheime Gedanken, Begierden und Taten kund zu tun. Was drängt Menschen zu diesen „Beichten“ und was macht die Öffentlichkeit so begierig darauf sie zu vernehmen? Warum kapriziert sich die Presse über das normale Maß ihrer Pflicht zur Aufklärung von politischen und gesellschaftlichen Vorgängen hinaus, innig darauf, Menschen auf einen öffentlichen Beichtstuhl zu setzen, auf dem ihnen nicht Vergebung, sondern Verurteilung durch die öffentliche Meinung sicher ist?

Wir werden nicht ganz fehl gehen, wenn wir vermuten, dass es hier um Ersatzhandlungen geht, die vom eigenen Beichten entlasten. Vergebung für uns selbst wird erschlichen, indem andere in großer Selbstgerechtigkeit verurteilt werden. Der „Sündenbock“ lässt grüßen! Unserer Kirche, unseren Gemeinden aber sollte zu denken geben, was sie verliert, wenn sie sich das Beichten als Grundform der Konkretisierung des rechtfertigenden Glaubens an Gott im menschlichen Leben von solchen säkularen Schrumpf- und Fehlgestalten des Beichtens aus den Händen nehmen lässt.

 

4. Beichte und Gemeinde

Das Begehren zu beichten wird nüchtern betrachtet in unseren Gemeinden nur auftreten, wenn die Glieder der Kirche von der Taufe an darüber informiert sind, dass Beichten im Vollzug eines christlichen Lebens ein großer Gewinn nicht nur für einzelne Christinnen und Christen, sondern für die ganze Gemeinde ist. Das liegt nicht vordergründig auf der Hand. Denn auf den ersten Blick sieht es ja so aus, als führe das Beichten bloß in die Vereinzelung eines Menschen mit dem, der die Beichte hört, und habe wenig mit der Gemeinde zu tun. Die Verschwiegenheit über das, was gebeichtet wird, scheint das zu bestätigen. Aber Dietrich Bonhoeffer, an dessen starker Befürwortung der Einzelbeichte wir uns hier ein wenig orientieren, hat dagegen geltend gemacht, dass die Beichte geradezu in die echte, wahre Gemeinschaft der Glaubenden führe. Wer beichtet, stellt sich auf intensive, geistliche Weise in die Gemeinschaft der Sünderinnen und Sünder, aus denen Gott seine Kirche beruft. „Die verborgene Sünde trennte ihn von der Gemeinschaft, machte alle scheinbare Gemeinschaft unwahr, die bekannte Sünde half ihm zur wahren Gemeinschaft mit den Brüdern in Jesus Christus“, weil in dem, der die Beichte abnimmt, schon „die ganze Gemeinde“ begegnet (a.a.O., DBW 5, 95).

Wir müssen freilich berücksichtigen, dass Bonhoeffer das in Bezug auf die kleine kommunitäre Gemeinschaft des Predigerseminars in Finkenwalde sagt. In ihr konnte praktisch jeder jedem beichten. Das wird in einer Parochialgemeinde nicht passieren. Aber doch werden die, die beichten, anders als Glieder der Gemeinde leben, als die, die meinen, sie seien keiner ihnen selbst geltenden Vergebung bedürftig und die darum kein Datum in ihrem Leben haben, das eine Zäsur gegenüber ihrem Hochmut und ihrer Trägheit, gegenüber ihrer religiösen Selbstgerechtigkeit und heimlichen Verachtung der anderen Glieder der Gemeinde setzt.

Hierher gehört auch Bonhoeffers Satz von der Liebe zum gekreuzigten Jesus Christus, die nach seinem Verständnis die eigentliche Triebkraft zum Beichten ist und die das Beichten von seelsorgerlicher Beratung und Zuspruch unterscheidet. Jesus Christus starb den schmachvollen Tod eines Menschen, der sich in die Gemeinschaft sündiger Menschen stellte und ertrug, was diese Gemeinschaft ihm antat. Es klingt zwar auch ein wenig lutherisch-düster, wenn Bonhoeffer sagt, in der Beichte komme die Gemeinschaft mit dem gekreuzigten Jesus Christus zum Ausdruck, indem auch wir im uns demütigenden Bekenntnis der Sünde „den schmachvollen Tod des Sünders […] auf uns nehmen“ (a.a.O., DBW 5, 99). Aber man kann diesen Bezug auf den gekreuzigten Jesus Christus auch anders akzentuieren. Wer ihn vor Augen hat, wer sich in sein Leben und Sterben vertieft, will nicht weiter heimlich daran mitwirken, dass die Gottlosigkeit unser Leben und das der Gemeinde unterwühlt. Er richtet, indem er beichtet, mit striktem Blick auf Jesus Christus sein Kreuz in seinem Leben auf, und versteht den definitiven Freispruch von seinen Sünden nicht nur als persönlichen Gewinn, sondern als Element der Auferbauung der Gemeinde, welche – recht verstanden – die „vorläufige Darstellung der ganzen in Christus versöhnten Menschenwelt“ ist (Karl Barth).

Ist das nun Beicht-Dogmatik? Deduzierung der Beichte aus dem Christusglauben, die in unserer „Volkskirche im guten Sinne“ keine Chance hat? Wir müssen da ja nur auf uns selbst als Pfarrerinnen und Pfarrer sehen. Bonhoeffer hat gesagt, niemand solle die Beichte hören, der nicht selber beichtet (vgl. a.a.O., DBW 5, 100). Für wie viele von uns im Dienst des Evangeliums trifft das zu? Kann jemand zur Beichte einladen und ermutigen, der selbst nicht beichtet? Bleibt, wenn die Beichte zu einem fast vergessenen Anliegen in unserer reformatorischen Kirche geworden wird, viel anderes übrig, als ein religiöses Schmeichel- und Wohlfühlchristentum, das keinem ernsthaften Problem unseres Lebens gewachsen ist? Fragen über Fragen. Fragen, die ich an Sie stelle.


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