Kategorie: Predigten
Weißt Du wieviel Sternlein stehen?
Predigt am 06.07.2014 in einem Abendgottesdienst der Nordendgemeinde Berlin
Liebe Gemeinde,
das Lied, das wir eben gesungen haben, hat in der Medienwelt unserer Tage eine wirklich rasante Verbreitung gefunden. Bei you tube kann man eine Fülle von Aufnahmen davon anhören. Schlagersstars angefangen von Heintje, Freddy Quin, Mirelle Matthieu, Esther Ofarim, Nana Mouskuri und Andrea Beck bis hin zu Kinderchören aller Art und mehr oder weniger bedeutenden Bands, natürlich auch bis hin zu Kirchenchören und Orgelmusiken haben sich daran versucht, mit diesem Lied die Herzen anzurühren. Es ist viel Kitsch dabei, aber doch auch wirkliche Kunst, die das Sentimentale dieses Liedes mit der Klarheit der Worte dieses Liedes zügelt.
Es ist zweifellos ein Kinderlied. Das bedeutet: Es versetzt uns Erwachsene, wenn wir es singen, in eine Zeit, in der wir die Welt mit den Augen von Kindern wahrgenommen haben. Kindern aber muss man erklären, was sie sehen. Darum haben viele Kinderlieder die Form des Rätselliedes. Es schildert eine Beobachtung, z.B. „ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm, es hat von lauter Purpur ein Mäntlein um“. Dann wird gefragt: „Sag wer mag das Männlein sein, das da steht im Wald allein“? Antwort. Es ist der Fliegenpilz.
So verfährt auch unser Lied. Es fragt das Kind: Weißt Du wieviel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt“? Auf diese Frage weiß das Kind keine Antwort. Darum wird das Rätsel gelöst: "Gott, der herr hat sie gezählet".
Der Dichter unseres Liedes, Wilhelm Hey, war ein thüringischer Pfarrer, erst Hofprediger in Gotha und dann von 1832 an Superintendent in Ichtershausen. Er wird dort bis heute verehrt. Es gibt ein Denkmal von ihm und sogar eine ganze Wilhelm Hey-Gesellschaft. Berühmt wurde Hey durch zwei Kinderbücher, die je 50 kurze gereimte Fabeln enthalten. Tiere unterhalten sich da und verkünden am Ende immer irgendeine Moral für die Kinder. Die große Verbreitung dieser Fabeln im 19. Jahrhundert – es gibt sogar eine englische Übersetzung! – verdankt sich nicht zuletzt den Illustrationen von Otto Speckter, der die Tiere auf eine rührende Weise dargestellt hat.
Der zweiten Sammlung solcher Fabeln nun hat Hey einen sogenannten „ernsthaften Anhang“ hinzugefügt, der Kinderlieder und Kindergebete enthält. Manche dieser Lieder und Gebete kennen Sie vielleicht, z.B. das Morgengebet „Wie fröhlich bin ich aufgewacht, wie sanft hab‘ ich geschlafen die Nacht“ oder das Weihnachtslied „Alle Jahre wieder kommt das Christuskind“ oder das Lied „Aus dem Himmel ferne, wo die Englein sind, schaut auch Gott so gerne her auf jedes Kind“. Für mich selbst gehören diese Gebete und Lieder zu meiner sogenannten „christlichen Sozialisation“ – wie man heute sagt. Und natürlich gehört dazu auch „Weißt Du wieviel Sternlein stehen?“
Es ist eigentlich kein Abendlied und steht deshalb auch in unserem Gesangbuch nicht unter dieser Rubrik. Es nimmt vielmehr ein Motiv auf, das sich durch die ganze Bibel zieht. Der mit Sternen übersäte Himmel ist ein Gleichnis für die unendlichen Möglichkeiten Gottes, des Schöpfers. Schon in den ersten Kapiteln der Bibel begegnet es. Gott sagt am Anfang der Geschichte Israels zu Abraham: „Sieh gen Himmel und zähle die Sterne; kannst du sie zählen? Und er sprach zu ihm: So zahlreich sollen deine Nachkommen sein“. Das unüberschaubar Viele, das Gott schafft, können keine Menschen zählen. Das kann nur Gott allein. Gegen Ende der Bibel, im Hebräerbrief (11, 12) wird diese Einsicht noch einmal bestätigt. Für Menschen unzählbar „wie die Sterne am Himmel und wie der Sand am Ufer des Meeres“ erwählt Gott Menschen zu seinem Volk.
Unser Lied aber nimmt eine andere biblische Zuspitzung des Bildes von den Sternen, die allein Gott zählen kann, auf. Sie begegnet im 147. Psalm und beim Propheten Jesaja. Hey hat den Luthertext von Jesaja 40, den wir vorhin in der Lesung gehört haben, unübersehbar in sein Lied eingeflochten. Gott kennt und ruft, was er geschaffen hat, mit Namen, so dass „nicht eins von ihnen fehlet“. Wenn er das mit den Sternen tut, mit den Mücklein und mit den Fischlein, um wieviel mehr wird es mit den Kindern tun, „die morgens frühe „aus ihrem Bettlein“ aufstehen. So ist die Logik unseres Liedes. Den Anstoß dazu, es zu schreiben, aber hat offenkundig ein anderes Lied gegeben.
Das war das Volkslied „Soviel Stern am Himmel stehen an dem blauen Himmelzelt“. Die ersten beiden Zeilen von „Weißt du, wieviel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt?“ sind deutlich eine Variation des Anfangs dieses an sich ziemlich traurigen Liebesliedes. Der ganze neue Text ist auch direkt in seine Melodie eingepasst. Heute ist jenes Volkslied ganz vergessen. Aber da es sozusagen ein Geburtshelfer von Heys Lied ist, wollen wir drei Strophen daraus singen.
Lied: Soviel Stern am Himmel stehen.
Dafür, dass „Weißt Du wieviel Sternlein stehen“ als Abendlied in Gebrauch kam, welches mit Kindern vor dem Einschlafen gesungen wird, gibt es vor allem zwei Gründe. In Heys Dichtung lautete die erste Zeile nämlich ursprünglich: „Weißt Du wieviel Sterne stehen“. Wann daraus die „Sternlein“ wurden, ist nicht mehr auszumachen. Aber sie sind offenkundig aus den berühmten Abendliedern von Paul Gerhard und Matthias Claudius hier eingewandert. Sie haben das im Ohr: „Der Tag ist nun vergangen, die güldnen Sternlein prangen am blauen Himmelssaal“ – „Der Mond ist aufgegangen die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar“: Zu diesen Sternlein und damit zu den Abendliedern gesellten sich die Sterne in unserem Lied durch ihre Verkleinerung oder Verniedlichung.
Der andere Grund für den Gebrauch unseres Liedes als Abendlied ist sicherlich mit dem besonderen Charakter seiner letzten Strophe gegeben. Sie spricht die Kinder, jedes einzelne Kind, direkt an. „Gott kennt auch dich und hat dich lieb“ – mit dieser Zusage kann es ruhig einschlafen und am Morgen ohne „Sorg und Mühe“ fröhlich seinen Tageslauf beginnen.
Natürlich klingt das alles ein wenig nach dem Lobpreis einer Idylle, die es in Realität kaum gibt, auch bei Kindern nicht, je älter sie werden und je mehr sie in unsere Leistungsgesellschaft hineinwachsen. Es ist in der Tat eine heile Welt, die hier gezeichnet wird: Das Meer der Sternlein, die Gott alleine zu zählen vermag, leuchtet friedlich, schützend und schön über einer Erde mit fröhlichen Tieren und mit ganz unbeschwerten Kindern. Erwachsene kommen nicht vor.
Darum gibt es hier auch nicht wie in manchen anderen Abendliedern das Wahrnehmen der bedrohlichen Dunkelheit der Nacht und die Ängste vor dem Morgen. Doch es wäre ungerecht, das diesem Kinderlied anzulasten.Kinder zu vergewissern, dass sie geliebt und geborgen sind und sich darum auf das Morgen freuen können, gehört doch zum Besten, was Eltern für ihre Kinder tun können. Indem sie dieses Lied am Abend am Bett ihrer Kinder singen, geben sie zugleich ihrer eigenen Liebe zu ihnen Ausdruck, die alle Sorgen von ihnen fern halten möchte.
Ja mehr noch, indem sich dieses Lied – wie wir gesehen haben – gerade auch heute bei den Erwachsenen einer so großen Beliebtheit erfreut, gibt es dem bleibenden Angewiesensein von uns Menschen auf Bewahrung und Geliebtwerden Ausdruck. In den Abendliedern unserer Kirche sind es darum immer wieder die Sterne, die im Dunkel der Nacht leuchten, welche Anlass geben, auf das zu blicken, was unser Leben überhaupt hell macht. Christian Sriver hat das Leuchten der Sterne in seinem Abendlied „Der lieben Sonne Licht und Pracht“ zum Beispiel zu der Helle in Beziehung gesetzt, die für Christinnen und Christen von Jesus Christus ausgeht.
Lied: Der lieben Sonne Licht und Pracht (EG 479, 1-3)
In Wilhelm Heys Lied ist es die Gewissheit, dass Gott alle Sterne gezählt hat, welche das Zutrauen begründet, dass Gott an allen „seine Lust, sein Wohlgefallen“ hat. In dem Lied, das wir eben gesungen haben, leisten uns die Sterne aber einen anderen Dienst. Sie erinnern uns mit ihrem Leuchten an einen anderen hellen Schein, der in unser Leben gefallen ist. Eines haben allerdings beide Lieder gemeinsam. Sie überbieten das, was die Sterne in uns an Staunen und Dankbarkeit auslösen, mit den Erfahrungen, die wir mit Gott in unserem Leben bei Nacht und bei Tage machen. Der Anblick der Sterne, die dem Dunkel der Nacht entgegen stehen, lässt uns dessen gewahr werden, wieviel unermesslich Gutes wir von Gott in vielen Hinsichten unseres Lebens erfahren. Wenn er schon jedes Sternlein gezählt hat und jedes Tierlein beim Namen nennt, um wieviel mehr wird er dann uns, welche die Bibel „Gottes Ebenbilder“ nennt, lieben.
Aber auch: Wenn das Leuchten der Sterne schon „die Nacht des Lichtes voll“ macht, um wieviel mehr wird heller in unseren Herzen scheinen, was Jesus Christus für uns bedeutet. Die Sterne der Nacht werden so zum Anlass, Jesus selbst als eine „Himmelskerze“ in unserem Leben zu verstehen. Diese „Himmelskerze“ aber begründet tatsächlich das Abendlied, die Abendlieder im christlichen Sinne überhaupt.
Vor der Ruhe der Nacht rufen uns die Sterne auf, ihrem Leuchten singend und klingend mit dem zu antworten, womit Gott überhaupt unser Leben erleuchtet. Sie rufen uns zum Singen auf, auch wenn’s – wie es heißt – „nur gut gemeint“ ist und – wie in so manchen volkstümlichen Abendliedern – zu allerlei theologischen Bedenken Veranlassung gibt. Wer Abendlieder singt oder summt, für den endet der Tag nicht nicht ausgelaugt, erschöpft, gestresst und missmutig. Der freut sich auf den Morgen als neue Gelegenheit, mit den Gaben, die Gott uns geschenkt hat, in Familie und Beruf noch einmal anzufangen.
Aber wir müssen noch einmal inne halten. Nicht alle Abendlieder rechnen damit, dass wir unter dem Schein der Sterne ruhig schlafen können. Es gibt auch schlaflose Nächte. Auf sie bezieht sich ein Abendlied von Gerhard Teerstegen, das den Sternen noch einmal eine besondere Bedeutung gibt.
Lied: Nun schläfet man (EG 480)
Dieses Lied ist genau genommen kein Abendlied. Es ist ein sozusagen ein Nachtlied. Wir kennen die Erfahrung, die es schildert. Während alle anderen schlafen, quält uns in der Nacht die Schlaflosigkeit, weil wir Schmerzen haben oder weil die Erlebnisse des Tages unsere Seele nicht zur Ruhe kommen lassen. Die Gedanken springen dann hin und her, alle möglichen Phantasien geistern durch den Kopf, entnervt schauen wir auf die Uhr, die uns anzeigt, wie zäh und langsam die Zeit uns wird.
In dieser Situation erinnert sich der Dichter unseres Liedes daran, dass ja Gott niemals schläft. Das hilft ihm, die hin- und her jagenden Gedanken zu beruhigen und seine Schlaflosigkeit in ein konzentriertes Wachsein zu wandeln. So wie die leuchtenden Sterne Gott Lob, Preis und Ehr bringen, können Menschen sich als „Sternlein“ verstehen, die wach das Leben Gott widerspiegeln.
Ganz unproblematisch ist diese nächtliche Erkenntnis allerdings nicht, sofern sie die Schlaflosigkeit überhaupt als Gelegenheit des Wachseins für Gott zu verstehen scheint. Denn das kann doch nur der Ausnahmefall und nicht die Regel sein. Wir brauchen den Schlaf, um wach am Tage – mit den Worten des Liedes geredet – als „Sternlein“ Gottes mit unserem Leben "hier und dort funkeln". Übermüdet aber werden wir mitnichten "funkeln", sondern höchstens herum irrlichtern. Die Bitte um den guten Schlaf bleibt darum ein Grundanliegen unserer Abendlieder, in denen das Leuchten der Sterne in der Nacht als eine Verheißung für das Leben am Tage verstanden wird.
Sie, diese Sterne oder Sternlein, begegnen in diesen Liedern auf vielfältige Weise als Zeichen der Schöpfergüte Gottes und als Vorschein des Lichtes, das Jesus Christus für uns ist. Mögen sie uns – auch wenn wir nur ein paar von ihnen am Berliner Abendhimmel sehen – solche Zeichen und solcher Vorschein bleiben. Amen.
Lied: Mein schönste Zier und Kleinod bist (EG 473)