Kategorie: Predigten
Galater 4, 4-7
Predigt in der Nordendgemeinde Berlin am am 2. Weihnachtsfeiertag, den 26.12.2013
Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz gestellt, um die (Menschen) unter dem Gesetz zu erlösen, damit wir die Kindschaft empfingen. Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der ruft: Abba, lieber Vater. So bist Du nicht mehr Sklave, sondern Kind. Bist Du Kind, dann bist Du aber auch Erbe durch Gott.
Liebe Gemeinde,
was der Apostel Paulus hier an die Galater schreibt, klingt fast, aber auch nur fast so, wie die kurz gefasste Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium. „Es begab sich aber zu Zeit, dass ein Gebot ausging von dem Kaiser Augustus“…, fängt diese Geschichte dort an. Sie haben das vom heiligen Abend her noch im Ohr. „Als die Zeit erfüllt war…“ geht ähnlich los und klingt ähnlich und auch sonst gibt es Anklänge an die Weihnachtsgeschichte. Was dort ausführlich erzählt wird, kommt hier aber nur in einem Halbsatz vor: Eine Frau hat den Sohn Gottes geboren. Die harte Realität, in der das geschah, heißt bei Paulus kurz und knapp: „unter das Gesetz gestellt“. All das aber, was im Lukasevangelium von der Botschaft der Engel gesagt wird, die Gottes Ehre und Frieden auf Erden verkünden, das bewirkt nach Paulus der Geist Jesu Christi selbst in unseren Herzen. Doch es heißt hier nicht „Gott in der Höhe“, sondern „Abba, lieber Vater.“ Und es heißt auch: nicht „Frieden“. Was der Geist Christi bei uns wirkt, bringen wir am besten mit dem Wort „Freiheit“ zum Ausdruck.
Wir wissen nicht, liebe Gemeinde, ob Paulus die Weihnachtsgeschichte, wie sie uns Lukas erzählt, überhaupt gekannt hat. Es ist eher unwahrscheinlich. Doch die Kurzfassung, die er bietet, ist nicht weniger spannend als die Dramatik der Geburt Jesu in einem Stall, der Auftritt der himmlischen Heerschauen und der zur Krippe eilenden Hirten. Wir müssen die knappen Worte nur ein wenig aufschlüsseln, in die Paulus seine Geschichte von Weihnachten gepackt hat.
Das geht gleich los mit der ungewöhnlichen Rede von der „erfüllten Zeit“. Diese Zeit hat ganz offenkundig ein anderes Gewicht als die Zeit, von der Lukas redet. Der Evangelist gibt ein Datum in der Vergangenheit an. Ein wichtiges Datum zweifellos; so wichtig, dass wir bis heute die Jahre zählen, die mit diesem Datum anfangen. 2013 Jahre post Christum natum, nach Christi Geburt, heißt das Jahr, das sich nun dem Ende zuneigt. Aber verdienen diese 2013 Jahre, in die der Name Christi eingraviert ist, „erfüllte Zeit“ zu heißen?
„Erfüllte Zeit“ ist, wenn wir das wörtlich nehmen, eine volle Zeit, die den Ablauf von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in den unser Leben eingepasst ist, stoppt. Aber ist das überhaupt möglich? Denn Zeiterfahrung ist, wenn wir auf die Uhr und in den Kalender blicken, die Erfahrung von ständigem Vergehen. Was wir gerade erleben, ist im nächsten Augenblick schon Vergangenheit, die auch die Zukunft auffrisst, die vor uns liegt. Sie pfeift uns das Lied vom Tod in die Ohren, habe ich in Aufnahme der Grundmelodie eines berühmten Italo-Westerns gerade in unserem Gemeindebrief geschrieben.
Es ist ein Pfeifen, das ungezählten Menschen heute gewaltig zusetzt, die ihr Leben nur als sinnloses Strampeln im Zeitablauf empfinden, bei dem die alles verschlingende Vergangenheit die Oberhand behält. Da ist nichts, was die Zeit wirklich „füllt“, „voll“ macht, oder gar stoppt. Es geht dann höchstens darum, die Zeit irgendwie „tot zu schlagen“, wie es heißt. Doch wie viele Betäubungsmittel, Illusionen und Verdrängungen nun immer dabei in Anspruch genommen werden: Zeit tot zu schlagen, schafft kein Mensch. Den entscheidenden Treffer in die Magengrube unseres Lebens landet sie mit dem Ausschlag ihres eisernen Perpendikels der Vergangenheit immer wieder selbst.
Doch wir wollen nicht schwarz malen. Es gibt auch Unterbrechungen des ehernen Gesetzes der Zeit, dem wir unterworfen sind und dem auch der Mensch Jesus, von einer Frau geboren, unterworfen war. Die Erfahrung solcher Unterbrechungen kennen wir alle, gerade auch in dieser Weihnachtszeit. Denn das ist die Zeit, in der wir nicht irgendwie durch den Zeitablauf mit seinem ehernen Gesetz trudeln. Das ist die Zeit, die wir uns nehmen, für unsere Liebsten, aber auch für unsere Fernsten da zu sein.
Erfüllt von dieser Absicht sind wir da ganz konzentriert etwa aufs Weihnachtkartenschreiben, aufs Basteln, aufs Geschenke-Suchen – in meinem Fall aufs Predigen (!) – auf alle die Vorbereitungen eben, die zu treffen sind, um die Weihnachtszeit gelingen zu lassen. Und indem wir eifrig dabei sind, merken wir gar nicht, wie die Zeit verrinnt. „Was so spät schon“? fragen wir erstaunt, wenn wir auf die Uhr blicken, die unserer derartig gefüllten Zeit offenkundig hinterher hinkt.
„Als aber die Zeit erfüllt war“, beginnt also der Apostel Paulus seine kurz gefasste Weihnachtsgeschichte. Er redet von einer Unterbrechung des Zeitablaufs, wie wir sie durchaus auch kennen. Aber die Unterbrechung, die er meint, ist in einer Hinsicht doch anders als die, die wir immer wieder machen. Denn die Ereignisse, Begegnungen und Taten, die unsere Zeit füllen, werden nach und nach auch von der Vergangenheit eingeholt. Viele sind dann wohl noch in unserer Erinnerung lebendig, weitaus mehr aber geraten ins Vergessen. In meiner Stasi-Akte habe ich zum Beispiel einige durchaus wichtige Vorgänge in meinem Leben gefunden, an die ich mich selbst schlechterdings nicht mehr erinnern kann.
Die „erfüllte Zeit“, von der Paulus redet, aber ist nicht eine solche, die der Zahn der Zeit wegknabbert und ins Vergessen sinken lässt. Das ist vielmehr eine Zeit, in welcher die Zukunft das eherne Gesetz der Herrschaft der Vergangenheit über unser Leben nicht nur durchbricht, sondern umfängt. Paulus will offenkundig sagen: Jesus ist der von der Zukunft Gottes umfangene Mensch, dessen Dasein und Leben nicht in der Vergangenheit versinkt und der darum für die Menschheit eine einzigartige Bedeutung hat. In dieser Hinsicht stimmt der Apostel ganz mit der Weihnachtsgeschichte zusammen, in dem die Engel dieses Umfangensein Jesu von der Zukunft Gottes zum Ausdruck bringen.
Doch Paulus kannte – wie gesagt – diese Geschichte vermutlich gar nicht. Jedenfalls spielt sie für ihn keine Rolle. Das Klein-Kind Jesus, das bei unserm Weihnachtsfest so im Mittelpunkt steht, kommt bei ihm nicht vor. Er hatte den erwachsenen Jesus in seinem Leben, aber auch in seinem Sterben und neuem Begegnen zu Ostern vor Augen. Er war der entscheidende Grund für die Gewissheit, dass in ihm die Zeit von Gottes Zukunft erfüllt ist. Und doch wird „Kindschaft“, Kindsein, dabei auf andere Weise als in der Weihnachtsgeschichte ganz wichtig, für uns wichtig.
Paulus erinnert nämlich daran, dass Jesus sich selbst als Kind Gottes verstanden hat. Das hat in seinem Beten und Reden von Gott einen ganz eigentümlichen Ausdruck gefunden. Jesus hat Gott mit „Abba“ angeredet. In der religiösen Umwelt des Judentums der damaligen Zeit war das eine höchst ungewöhnliche, ja provozierende Gottesanrede.
Denn dort wagte man kaum, den Namen Gottes auszusprechen, um ihm in seiner Erhabenheit und Majestät nicht allzu menschlich zu nahe zu treten. Wer Gott aber „Abba“ nennt, naht sich ihm in einer zutiefst menschelnden Weise. Denn „Abba“ ist, wie wir schon am Klang hören können, im Aramäischen eigentlich ein Wort der Kinder- und Plappersprache. Im Deutschen müssen wir es mit „Papa“ oder vielleicht sogar mit „Papi“ übersetzen.
Wir brauchen, liebe Gemeinde, gar nicht in die Zeit Jesu mit ihre religiösen Autoritäten zu blicken, um zu merken, wie ungemessen das für den „Gott in der Höhe“ zu sein scheint, dem höchste Ehre und Respekt gebühren. Auch heute klingt „Abba“ als Gottesanrede ziemlich bedenklich. Haben Sie schon einmal gehört, dass Gott in unseren Gottesdiensten mit „Papa“ oder gar mit „Papi“ angeredet wurde? Würde im Gottesdienst so gebetet, blieben kritische Nachfragen sicherlich nicht aus. Ich selber mildere das ungemessen intim wirkende „Abba“ in den Fürbittengebeten immer auch mit der Übersetzung Martin Luthers ein wenig ab, indem ich „lieber Vater“ sage.
Ganz gerecht wird das Jesus nicht. Nicht bloß darum, weil uns selbst die kritischsten Historikerinnen und Historiker versichern, dass wir es hier mit der unverwechselbar
eigenen Stimme Jesu zu haben. Wichtiger ist, dass nach Paulus Gott selbst dafür sorgt, den Geist, in dem Jesus Christus ihn „Abba“ genannt hat, in unsere Herzen zu senden. Es ist recht, so intim, so familiär geradezu die Nähe Gottes zu suchen und in ihr zu leben, wie Jesus Christus das getan hat. Wer das in seinen Fußspuren tut, wird frei von der Angst, er könne Gott zu nahe treten, wenn er ihm wie sein Kind vertraut. Im Geiste Jesu Christi darf und soll er Gott wie sein Kind vertrauen. Er darf und soll Gottes Kind als Schwester und Bruder des Menschen sein, in dem Gott seine Nähe zu uns Menschen besiegelt hat.
Wir müssen von diesem Verständnis eines Kindes Gottes allerdings alles fern halten, was an unmündige Kleinkinder erinnert. Dazu könnte die „Abba“-Anrede, aber auch die Aufmerksamkeit auf das Kind Jesus zu Weihnachten vielleicht verführen. Paulus aber denkt daran, dass eine Familie dazu da ist, um Kinder mit ihren Kräften zu befähigen, selbstständig zu werden. Kinder sind darum keine Sklaven ihrer Eltern und Kinder Gottes erst recht nicht seine Leibeigenen. Gottes Kinder haben vielmehr Anteil an den großen Möglichkeiten, mit denen der ewige Gott seine Liebe zur Menschenwelt verwirklicht.
Kinder Gottes sind darum keine Gefangenen der Gesetze und Zwänge, in denen wir Menschen schon immer leben. Sie lassen sich nicht von der Vergangenheit knechten, die nie Erfüllung bringt. Sie beugen sich nicht Vorschriften, bloß weil sie da sind. Sie beruhigen sich nicht bei Machtverhältnissen in unserer Welt, an denen angeblich nichts zu ändern ist. Sie halten auch in der Kirche keine Gewohnheit für unabänderlich. Denn sie sind ja Erben des Geistes Christi, der mitten in der Welt solcher weltlichen und religiösen Zwänge den mündigen Kindern Gottes eine Bresche der Zukunft aus den Möglichkeiten der Liebe Gottes geschlagen hat.
Wir feiern deshalb Weihnachten nicht nur, indem wir darauf blicken, wie Jesus geboren wurde. Wir feiern Weihnachten im Wissen darum, dass hier die Geburt der mündigen, freien Kinder Gottes ihren Anfang nahm. Manch einem, viel zu vielen, mag wohl der Mut sinken, diesen Anfang auch als Anfang des eigenen Lebens zu verstehen, wenn er auf die Gesetze und Zwänge sieht, in denen er steckt, in denen die Christenheit auch im Jahre 2013 steckt. Aber auf der anderen Seite bleibt es doch das große Plus der „erfüllten Zeit“, dass sie keinen Einwand aus der Vergangenheit kennt, der gegen den Mehrwert der Zukunft ankommt, den der Geist Jesu Christi ausstrahlt. Als Kind Gottes in diesem Geiste zu leben, ist nie zu spät. Amen.