Kategorie: Artikel
Ackern und Ernten
Am Erntedankfest 2010 dürfen wir uns des Segens der Natur der der Wohltat der deutschen Einheit freuen (Die Kirche 40/2010)
Geplant war es nicht, dass der Tag der deutschen Einheit hin und wieder mit dem Erntedankfest zusammen fällt. Der 3. Oktober war vielmehr der früheste Termin, für den die Siegermächte des 2. Weltkrieges in den „Zwei plus Vier“-Verhandlungen am 1. Oktober 1990 grünes Licht gegeben hatten. Bis in den trüben November hinein wollte man mit dem möglichst sonnigen Fest deutschen Einigung nicht warten. Also wurde es der 3. Oktober, der am 20. Jahrestag der Einheit Deutschlands wieder mit dem Erntedankfest zusammen trifft.
Dieses Zusammentreffen ist natürlich nur ein Zufall. Aber ich finde: Es ist ein schöner, ein glücklicher Zufall. Denn das Erntedankfest war ja noch nie bloß ein Fest des Dankens für das, was auf den Feldern wächst. Mit dem Dank für die Ernte hat sich vielmehr schon immer der Dank an Gott „für allegute Gabe“ verbunden. Diesmal zählt zu dieser „guten Gabe“ auch die deutsche Einheit – oder nicht? Sind die Fehler und Fehlentwicklungen im Prozess der deutschen Einigung dazu angetan, uns das Danken zu vergällen?
Beim Propheten Amos (9,1) heißt es in der Übersetzung Martin Luthers: „Siehe es kommt die Zeit, dass man zugleich ackern und ernten wird“. Zu „ackern“ gibt es auf dem Felde der deutschen Einigung ohne Zweifel noch sehr, sehr viel. Zugleich aber haben wir doch auch wunderbare Früchte der deutschen Einheit „geerntet“.
Für die Generation, die nach 1990 heran gewachsen ist, ist die Freiheit in einem demokratischen Staatwesen zur Selbstverständlichkeit geworden. Unser ganzes Land ist nach einer furchtbaren Geschichte ein geachteter Partner der Völker Europas und der Welt. Unzählige Reisewünsche in alle Welt haben sich erfüllt. Menschen begegnen sich, die in den Zeiten der Teilung Deutschlands nie zusammen gekommen wären. Das Lieben und das Heiraten bringt Familien aus Ost und West zusammen. Wem die DDR-Zeit noch im Gemüt steckt, kann gar nicht anders, als sich an sauberen Flüssen, liebevoll gestalteten Orten und gepflegten Landschaften zu erfreuen.
Man könnte lange fortfahren, Gründe zu nennen, die zur Freude über die deutsche Einheit Anlass geben. Doch viele Menschen haben Hemmungen, da einzustimmen. Die Schattenseiten der deutschen Einheit – angefangen bei den wirtschaftlichen und sozialen Problemen – hindern sie daran. Doch genau genommen könnten wir uns über gar nichts freuen, wenn wir jede „gute Gabe“ in den Nebel dessen stellen, was nicht gut ist.
Die Dankbarkeit, zu der Gott uns veranlasst, lichtet diesen Nebel. Sie macht uns frei, unsere Freude an allem Guten, mit dem wir beschenkt werden, zuzulassen. Denn sie richtet sich an Gott, der Quelle alles Guten. In dieser Hinsicht aber gilt: „Wofür ich Gott danken kann, das ist gut“ (D. Bonhoeffer). Am Erntedankfest dieses Jahres dürfen wir uns deshalb des Segens der Natur wie der Wohltat der deutschen Einheit ungeteilt freuen – um dann mit neuem Mut an das „Ackern“ zu gehen.