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07.03.2012 00:00 Alter: 12 yrs
Kategorie: Vorträge

Die verharmloste und die tödliche Sünde. Zur Verantwortung des Redens von der Sünde in unserer Zeit

Gemeindevortrag in Berlin-Müggelheim am 07.03.2012


1. Das Böse ohne Kontur und die Sünde

„Ich wäre so gerne ein Sünder gewesen, aber es gelang mir einfach nicht“, lässt Michel Houellebecq in seinem Roman „Elementarteilchen“ einen Zeitgenossen von heute sagen. Auf den ersten Blick scheint das einer von den Witzen zu sein, wie ihn die alles veralbernde „Spaßgesellschaft“ von heute so liebt. Sehen wir uns jedoch das Leben dieses „postmodernen“ Menschen etwas näher an, dann stellt sich das anders dar. Dieser Mensch ist fast nur von seinen Trieben gesteuert und ohne irgendein Maß für irgendetwas Menschliches. Bei ihm meldet sich kein Gewissen, wenn er z.B. seiner sterbenden Mutter im nüchternen Tone in Gesicht sagt, sie sei eine „alte Schlampe“, die endlich verrecken soll. Er hat alles Gespür für gut und böse verloren.

„Ich wäre so gerne ein Sünder gewesen“ – das ist angesichts der irgendwie traurige Ausdruck für die Empfindung, eigentlich gar nichts zu sein, was der Beachtung wert ist. „Sünder“ – das wäre wenigstens noch die Möglichkeit, zum Stehen zu kommen, sein Antlitz zu zeigen und die Chance der Antwort: „Hier bin ich, das bin ich, besser als so bin ich nicht“.  „Sünder“ – das würde wenigstens die Frage nach einem anderen Leben wach rufen. Noch nicht einmal mehr Sünder sein, aber heißt: einfach nur durchs Leben rutschen, unabsehbar schlüpfrig werden. Es heißt nur schiefe Ebene, nur Ausnutzen, ja Aussaugen des Lebens ohne Horizont. Wo das aber geschieht, verwischen sich die Konturen unseres Daseins in lauter Gleichgültigkeit, in der es kein wirkliches Glück, aber auch kein wirkliches Leid mehr gibt.

         Zwischen gut und böse unterscheiden zu können – und zwar zuerst im Hinblick auf  unser eigenes Leben unterscheiden zu können – ist also eine Fähigkeit, die uns Menschen nicht nur Kontur, sondern auch ein Gewicht gibt, das wir Würde nennen. Verkümmert, erlischt diese Fähigkeit, dann schwindet diese Würde. Dann stellt sich auch beileibe nicht ein glücksträchtiger paradiesischer Zustand ein. Wo das Unterscheiden von gut und böse aussetzt, da breitet sich um Menschen herum vielmehr eine beklemmende Atmosphäre von Menschenverachtung aus. Nimmt uns der Schriftsteller in sie hinein, dann kann uns auf keinen Fall das Gefühl ergreifen, dass es gut sei, in solchem Dunstkreis zu leben. Wir sind da auch nicht „Jenseits von gut und böse“, wie der Michael Schmidt-Salomon – der Anführer der „Neuen Atheisten“ in Deutschland – behauptet. Wir stecken vielmehr mittendrin in einer Wirklichkeit, die man letztlich nur mit Worten beschreiben kann, die auf den Begriff „böse“ hinauslaufen. „Böse“ das heißt: das Leben vernichtend.

Erstaunlicherweise sagt unser moderner Zeitgenosse nun aber nicht: Ich wäre so gerne ein Böser gewesen. Dass er das ist, schwant ihm wohl schon. Nein, er sagt, er wäre gerne ein Sünder. Erstaunlich ist dieser Wunsch, weil das Wort „Sünde“ in unserer Zeit nahezu in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht ist. Im Synonymwörterbuch der DDR wurde als erste Bedeutung für dieses Wort „Fehltritt“ aufgeführt. Das entspricht dem, wie Menschen heute das Wort „Sünde“ in der Umgangssprache gebrauchen „Sünde“ – das ist eine Art Kavaliersdelikt, mit dem es nichts Ernstliches auf sich hat. „Wir sind alle kleine Sünderlein“, singen die rheinischen Jecken. Sündigen weist demnach auf ganz amüsante und erfreuliche Erlebnisse vor allem im Bereich des Männlich-Weiblichen hin. In der Werbung wird das Wort eingesetzt, um uns Genüsse zu versprechen, die eine Sünde wert sind. Wir leisten uns sündhaft teure Sachen usw. Auch wenn’s zuweilen ein bisschen ernster werden kann wie bei den „Verkehrs- und Umweltsündern“ kommt das Wort „Sünde“ nicht mehr so richtig mit dem tödlichen, dem Leben zerstörenden Bösen zusammen. Mit den großen Grausamkeiten, mit dem fundamentalen Versagen und Leiden von Menschen aber bringt man dieses Wort nicht in Verbindung.

 Die Gründe für dieses Geschick der Vokabel Sünde dürften eindeutig sein. Der Bedeutungsverlust des Begriffes „Sünde“ vollzieht sich im Windschatten des Bedeutungsverlustes des Wortes „Gott“. „Sünde“ ist im biblischen Sprachgebrauch zuerst und vor allem der Widerstand von Menschen gegen Gott, der in der Leugnung Gottes gipfelt. Gilt Gott als Unwirkliches, dann ist der Widerstand gegen Nichts eben auch nichts. Losgelöst von der Gottesbeziehung wird vergessen, was Sünde bedeutet. Er wird zur Bezeichnung von Harmlosigkeiten. Dabei wirkt zweifellos auf verquere Weise auch nach, dass Sünde im kirchlichen Sprachgebrauch immer im Zusammenhang von Vergebung thematisiert wird. Sie ist das, was Gott vergibt. Ohne Gott wird sie das, was Menschen sich selbst vergeben. Was wir uns selbst vergeben können, aber kann nichts wirklich Schlimmes sein.

         In diesem Sinne passt das Wort Sünde eigentlich genau zu der Atmosphäre, in der gut und böse gar nicht mehr richtig zu unterscheiden sind. Wir sündigen, d.h. wir leisten uns in dem Nebel, in dem ohnehin niemand weiß, was gut und böse ist, noch ein paar kleine Schweinereien, ohne dass uns dabei das Gewissen plagt. Unser postmoderner Zeitgenosse aus Michel Houellebecqs Roman, der unter unseren Mitmenschen zweifellos massenweise herum läuft, hat dagegen die vage Ahnung, das Sünde etwas ist, das uns auf unsere Verantwortlichkeit für unser Leben fest legt. „Ich wäre so gerne ein Sünder gewesen“ – dieser so merkwürdig mit einer theologischen Einsicht zusammen stimmende Satz spricht dem Bekenntnis der Sünde im ernstlichen Sinne also eine positive Funktion für das menschliche Leben zu. Wer sich als Sünder und Sünderin verstehen kann, der ist dem Halbdunkel von gut und böse, in dem der Schatten des Bösen immer länger wird, nicht mehr bloß ausgeliefert. Er hat noch eine andere Geschichte als nur die des Abrutschens in ein schwarzes Loch hinein.

 

2. Sündenerkenntnis

Wir holen nun etwas weiter aus. Das Vergessen der Sünde in ihrem eigentlichen tödlichen Sinn der Abkoppelung unseres Leben vom wahren Leben ist nämlich keinesfalls erst etwas, was in unserer Zeit zu beobachten ist. Den typischen Normalfall der Sünde finden wir schon auf den ersten Seiten der Bibel in 1. Mose 3 geschildert. Jener alte Mythos vom sogenannten „Sündenfall“ versetzt in eine Urzeit, was bei uns täglich geschieht. Er versucht zu erklären, warum das so ist, dass alle Menschen sich am tödlichen Sündigen beteiligen und warum sie dennoch keinesfalls als Sünder und Sünderin da stehen wollen.

Erst spucken Adam und Eva große Töne, wollen sein wie Gott und glauben ihm und seinem Wort nicht. Dann wird sein Gebot gebrochen. Doch was hochtrabend begann, endet erbärmlich. Alle Beziehungen, in denen wir leben, geraten in Unordnung, zuerst die Gottesbeziehung und dann die Beziehung von Menschen miteinander und sogar die Beziehung zur Natur. Wir können die Sünde darum als das Zerstören der Beziehungen definieren, in denen wir leben.

Als aber heraus kommt, im Licht steht, was Adam und Eva getan haben, flitzen sie hinter die Büsche, um sich als Täterinnen und Täter von tödlichem Unheil zu verbergen. Und nicht nur das. Adam versteckt sich hinter Eva und schiebt die Schuld auf sie. Eva versteckt sich hinter der Schlange. Die böse Natur war’s und nicht sie. Und dann verstecken sich voreinander, weil sie sich schämen. Sündigen und sich Verstecken, die Sünde ins Dunkel zu hüllen, ist also dasselbe. So machen es alle, die Adam und Eva (männliche und weibliche Menschheit!) heißen. Alle machen bei Sündigen gegen Gott und die Menschlichkeit mit und am Ende will es keiner gewesen sein. Wir haben dafür ja auch aus der jüngeren deutschen Geschichte Beispiele die Menge.

Die Sünde braucht dieses Verdunkeln ihrer selbst, um sich auszutoben. Denn würde sie offenbar werden, im Lichte stehen, dann könnte sie nur als eine widersinnige Absurdität da stehen. Das Leben zu zerstören, das uns überhaupt da sein lässt, ist sinnlos. Dafür, dass Menschen an dem Ast des Lebens sägen, auf dem sie alle miteinander sitzen, gibt es überhaupt keine guten Gründe. Sündigen, wenn es offenbar wird, steht ohne alle Argumente da. Da bleibt darum nur das Vertuschen, Verharmlosen, Verstecken.

         Vor Gott allerdings nutzt das nichts. Mit ihm konfrontiert, müssen Adam und Eva zu dem stehen, was sie getan haben. In der Begegnung mit ihm hat das Verstecken ein Ende. Der alte Mythos hat sich diese Begegnung mit Gott auf äußerst vermenschlichende Weise vorstellt. Gott, der in der Abendkühle im Garten Eden herum spaziert, entdeckt sie. Sie können ihm nicht ausweichen und darum auch nicht dem, was sie getan haben. In unserem realen Leben aber gibt es eine derartig direkte Konfrontation mit Gott nicht. Gott ist eine unsichtbare, uns entzogene Wirklichkeit, zu der wir nur im Glauben, nur im Vertrauen auf ihn und zu ihm  eine Beziehung haben. Dementsprechend ist auch die Sünde des Unglaubens nichts, was wir sehen können. Sünde zerstört ein Verhältnis, von dem wir keine unmittelbare sinnliche Anschauung haben. Man kann nicht sehen, welche Folgen die Sünde für Gott hat. Sehen können wir nur, was wir infolge des Unglaubens unter Menschen anrichten. Auch am Kreuz Jesu Christi sehen wir nur die Leiden des Menschen Jesus und nicht die Gottes.

Gott nicht zu glauben, ihn zu leugnen und zu verleugnen, scheint also ganz einfach zu sein. Man kann ihm in dieser sichtbaren Welt leicht ausweichen. Wie entziehen uns, wenn wir der Ursünde des Unglaubens frönen, einfach der Konfrontation mit Gott ausweichen. Im Windschatten dieser anscheinend leicht zu bewerkstelligenden Sünde entziehen wir uns auch der Erkenntnis, dass unser Leben jetzt auf der schiefen Bahn ist, dass wir am Tun des Bösen, das Leben zerstört, auf der ganzen Linie beteiligt sind. Die Erkenntnis, dass wir Sünder und Sünderinnen sind, wird uns also dadurch verwehrt, weil wir Sünderinnen und Sünder sind, die niemals von sich aus zugeben werden, das sie ein verkehrtes Leben gewählt haben.

 Die Frage ist darum, wie Menschen, die zur Erkenntnis ihrer Sünde unfähig sind, zu dieser Erkenntnis kommen. Martin Luther hat darauf in seiner Auslegung des Römerbriefes geantwortet, der Apostel Paulus weise uns den Weg, wie das geschehen kann. Anstelle unseres Bestrebens, unsere zu Sünde zu verbergen und klein zu reden, gelte es, „die Sünde groß zu machen“. Nach Luther geschieht das, indem Menschen Gottes Gesetz vor Augen gehalten wird. Es hämmert ihnen ein, dass sie täglich alle 10 Gebote auf einmal brechen. Es klagt sie an. Es macht ihnen klar, dass sie vor Gott schuldige, „verlorene und verdammte Menschen“ sind. Erst wenn sie das erkennen, werden sie demnach fähig, sich für Gott zu öffnen.

Doch wir wissen wie Luther auch: Menschen, die sündigen, schütteln diese Anklage von sich ab. Sie fühlen sich nicht betroffen. Sie beginnen im Gegenteil zu beweisen, welch gute Menschen sie doch sind und was sie Lobenswertes und Nützliches tun. Sie rechtfertigen sich selbst. Sie laufen sogar zur Höchstform als Sünder und Sünderinnen auf, indem sie selbst ihr böses Tun noch als gutes oder wenigstens als unvermeidliches Tun zum Besten Aller ausgeben. Zum Eingeständnis der Sünde wird es also nach menschlichem Ermessen niemals kommen, solange Menschen sich im Verbergen ihres Lebens vor Gott und erst recht im Leben ohne Gott eingerichtet haben. Sie mögen zwar ein „schlechtes Gewissen“ haben, wenn sie z.B. lügen oder sich auf Kosten Anderer bereichern. Aber das behalten sie für sich. Zur Sündenerkenntnis in ihrem ganzen Ausmaß aber führt der Verstoß gegen moralische Normen, wie sie die 10 Gebote als solche ausdrücken, nach aller Erfahrung nicht.

Denn das Anklagen und Verurteilen von einzelnen bösen Taten macht die Menschen, die sie tun, nicht frei. Es macht keinen Mut, mit dem Versteckspielen aufzuhören. Es rumpelt bloß im Sündensumpf herum. Sündenerkenntnis, die nicht mehr selbst von der Sünde infiziert ist, wird erst möglich, wenn Menschen einen von der Sünde freien Blick auf sich selbst und Andere gewinnen. An Gott glauben, heißt diesen Blick bekommen.

Denn dieser Glaube ist nicht irgendein Fürwahrhalten einer jenseitigen Wirklichkeit, mit der es Menschen halten können, wie sie wollen. An Gott glauben, heißt in christlichem Sinne, auf den vertrauen, der zwischen uns und unsere Taten im Sog tödlicher Sünde tritt. Glaube an Gott, wie er im Leben und Sterben Jesu Christi begegnet, ist Glaube an eine neue Ausgangsposition unseres Lebens, die Gott uns schafft. Er unterbricht den Sog in die Beziehungslosigkeit. Im Glauben an ihn, der die Sünde vergibt, ist unsere Grundsünde des Unglauben mitsamt dem, was wir in diesem Sog anrichten, Vergangenheit. Wir können auf sie blicken, ohne uns zu verstecken und zu rechtfertigen. Wir blicken ohne Trickserei auf das, was wir und andere Menschen tun. Wir werden zu Realisten, die nichts mehr verharmlosen und beschönigen müssen, was wir selbst und Andere im Sog des Unglaubens anrichten. Der Glaube an Gott, wie er in Jesus Christus begegnet, ist es also, der uns trotz des Verfalls des Wortes Sünde in unserer Zeit, nicht aufhören lässt, von der Tragweite und dem Ernst der Sünde gerade auch in unserer heutigen Gesellschaft zu reden.

 

3. Gründe für die Sünde

Wer die öffentlichen Äußerungen unserer Kirche zu allen möglichen Vorgängen in unserer Gesellschaft aufmerksam verfolgt, wird bemerken, dass im Unterschied zu dem, was wir uns eben klar gemacht haben, von der Sünde wörtlich so gut wie nicht die Rede ist. Ähnliches lässt sich in den sonntäglichen Predigten unserer Pfarrerinnen und Pfarrer beobachten. Allenfalls in der Liturgie fristet dieses Wort sein tabuisiertes Leben. Diese auffällige kirchliche Zurückhaltung in Sachen „Sünde“ hat einen nachvollziehbaren Grund. Unsere Kirche hat sich in der Vergangenheit den Ruf eingehandelt, im Namen der „Sünde“ Menschen unter ihrer Fuchtel zu halten und ihnen ein freies Leben im Gebrauch ihrer großen menschlichen Möglichkeiten zu verweigern und zu vermiesen. „Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“ hat Immanuel Kant das Zeitalter der „Aufklärung“ im 18. Jahrhundert genannt. Es klärte darüber auf, dass es so schlimm mit uns Menschen nicht bestellt sei, wie die christlichen Kirchen es behaupteten. Sich seines Verstandes und seiner Vernunft zu bedienen, wurde als Weg propagiert, die Fesseln der kirchlichen Sündenlehre für ein freies Menschentum los zu werden.

Ich gehe jetzt nicht darauf ein, inwiefern die christlichen Kirchen das Urteil selbst verschuldet haben, ihr Verständnis der Sünde führe zu Verneinung der Freiheit von Menschen und seiner großen Möglichkeiten. Ich gehe auch nicht länger darauf ein, dass das Zeitalter der aufklärten Vernunft beileibe keine Welt des Friedens geschaffen hat. Im Gegenteil, die Erweiterungen unserer menschlichen Möglichkeiten durch den Fortschritt der Wissenschaften hat zugleich zu einer Erweiterung des Tuns des Bösen von Ausmaßen geführt, die alles Mittelalter in den Schatten stellt. Die Sünde, die sich den Verstand untertan macht und mit seiner Hilfe Völker vernichtet, Rassen ausrottet, die Umwelt zerstört und Not, Elend und Armut für Millionen Menschen auf unserer Erde bereitet, schreit nach wie vor zum Himmel.

Kant hat das übrigens als einer der hellsichtigen Aufklärer schon zu Beginn der Entwicklung der wissenschaftlich-technischen Welt hellsichtig gesehen. Die Frage, ob die Menschheit im beständigen Fortschreiten zum Besseren begriffen sei, hat er darum äußert skeptisch behandelt. Man könne „sich eines gewissen Unwillens nicht erwehren“, hat er in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ gesagt, wenn man das Tun und Lassen der Menschheit „auf der großen Weltbühne aufgestellt sieht“. Denn „bei hin und wieder anscheinender Weisheit im einzelnen“ findet man „doch endlich alles in allem aus Torheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt ... : wobei man am Ende nicht weiß, was man sich von unserer auf ihre Vorzüge so eingebildeten Gattung für einen Begriff machen soll“. Er hat, weil sich die Menschheit von ihren Trieben, Bedürfnissen und Neigungen leiten lässt statt von der Vernunft, in seiner Lehre vom „radikalen Bösen“ sogar von einem „Hang zum Bösen“ bei allen Menschen gesprochen. Goethe hat ihm das Kniefall vor der Sündenlehre der Christenheit sehr über genommen. Er habe seinen Philosophenmantel, nachdem er ein langes Menschenleben gebraucht, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurteilen zu reinigen, nunmehr „freventlich mit dem Schandfleck des radikalen Bösen beschlabbert, damit doch auch — Christen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen“, hat er an Herder geschrieben.

Doch nicht nur Goethe, auch alle anderen, welche die großen Möglichkeiten unserer Vernunft und unseres Verstandes rühmen und darin die Menschenwürde begründet sehen, kommen nicht darum herum, sich der Frage stellen, warum die Menschheit sich wieder und wieder im Zerstören der Beziehungen übt, in denen sie lebt. Woher kommt dieses Böses? Das ist eine uralte und immer neue Frage. Wenigstens drei Antworten begegnen uns in hervor gehobener Weise in der kirchlichen Tradition und in gewandelter Gestalt auch heute:

1) „Dem Teufel ich gefangen lag, im Tod war ich verloren“, singen wir mit Luther Lied „Nun freut euch lieben Christengmein“. Das war eine gemeinchristliche Vorstellung. Der Teufel als personifiziertes Böses verleitet uns dazu, Leben zu vernichten. Wir unterliegen seiner Macht, werden von ihm gefangen. Kaum einer wird heute die Vorstellungen vom Teufel als Ziegenbock mit Hörnern usw., die dabei entstanden, noch teilen. Sie haben viel Aberglauben befördert und Unheil angerichtet. Die Auswüchse des Hexenwahns und der Ketzerverfolgungen stehen uns warnend vor Augen. Wenn jugendliche „Satanisten“ heute einen Teufelskult betreiben, betrachten wir sie als durchaus gefährliche Spinner.  

Dennoch werden wir zögern, die Teufelvorstellungen unserer Vorfahren nur als schauerlich-lachhaften Aberglauben abzutun. Denn in ihnen spiegelt sich auch eine Erfahrung,  die wir bis heute machen. Böses, d.h. Andere und uns selbst Zerstörendes, kann eine Art von selbständiger Macht über uns gewinnen. Wir kennen das aus vielen Situationen unseres Lebens. Bei einem Streit kann ein Klima entstehen, in dem wir uns immer mehr in die Kränkung des oder der Anderen zu versteigen. Irgendeine menschenfeindliche Parole, Ideologie oder auch nur Stimmung kann ganze Völker beherrschen. Thomas Mann hat in seinem Roman „Dr. Faustus“ den Nationalsozialismus in eine Linie mit der alten Geschichte vom „Teufelspakt“ gestellt. Hass und Vernichtungswut gegen andere „Rassen“ oder Menschen mit anderen Weltanschauungen und Religionen vermag eine Sogkraft zu entwickeln, der alle  folgen. Wir haben es ins unserem Leben mit unabsehbar vielen „herrenlosen Gewalten“ zu tun (Karl Barth), die uns in das Mitwirken an der Schädigung und Zerstörung menschlichen Lebens hinein ziehen. Menschen, die sündigen, sind immer auch Getriebene. Wir kennen das ja auch an uns selbst, wenn wir Unrecht tun oder irgendeiner gefährlichen Lüge aufsitzen. Warum habe ich das nur getan? fragen wir uns hinterher. Aufs Große gesehen: warum kommt die Menschheit nicht aus dem Teufelskreis von Hass und Gewalt heraus und fällt immer wieder in ihn hinein? Eine Antwort bleibt bis heute: Das liegt auch daran, weil wir der sich verselbständigenden Macht des Bösen nicht gewachsen sind.

2) Die kirchliche Lehre hat die Verbreitung der Sünde über die ganze Menschheit und alle Generationen mit der Lehre von der Erbsünde erklärt. Sie ist dabei dem Kirchenvater Augustin gefolgt. Er hatte behauptet, durch die geschlechtliche Begierde übertrage sich die Sünde Adams und Evas von einer Generation auf die Andere. Er ist dabei einem Übersetzungsfehler von Römer 5, 12 aufgesessen. Paulus sagt dort, dass die Sünde zu allen Menschen hindurch gedrungen sei, weil Alle sündigten. In Augustins lateinischer Bibelübersetzung stand aber: „In Adam“ hätten Alle schon gesündigt. Daraus hat Augustin seine Erbtheorie entwickelt. Er hat damit die Sexualität als ein Einfallstor für die Sünde in das menschliche Leben verdächtigt.

Doch die Vorstellung vom „Erben“ der Sünde ist abwegig. Der Begriff des „Erbes“ hebt den Begriff der „Sünde“ als eines Tuns auf, für die wir selbst verantwortlich sind. Andererseits hebt der Begriff der „Sünde“ den des „Erbes“ als eines Geschicks auf, für das kein Mensch etwas kann. Man kann zwar sagen, dass sich die Sünde durch schlechte Vorbilder oder durch die Erziehung über Generationen verbreitet. In diesem Sinne wird die Lehre von der Erbsünde heute häufig aufgenommen. Man redet – besonders in der Befreiungstheologie Lateinamerikas – auch gerne von der „strukturellen Sünde“. Das heißt: Das Leben vernichtende Tun von Menschen wird hier in Ordnungen der Politik und der Wirtschaft verfestigt, von denen die einen profitieren und unter denen die anderen leiden. Ein naturgesetzlicher Zwang, uns diesen Ordnungen zu unterwerfen besteht aber ebenso wenig wie irgendein naturhafter Zwang zum Sündigen. Wenn von Sünde die Rede ist, darf der Gesichtspunkt, dass wir selbst für sie verantwortlich sind und also schuldig werden, niemals in den Hintergrund gedrängt werden.

Das ist auch gegen die Behauptung einiger Hirnforscher zu sagen, wir seien gar nicht frei in unserem Handeln, sondern vor allen unseren Entscheidungen schon von chemischen Vorgängen im Gehirn gesteuert. Jene Forscher fordern darum z.B., im Strafrecht das Schuldprinzip abzuschaffen und nur noch eine Sicherungsverwahrung zu verhängen. Doch abgesehen davon, dass dies alles schon naturwissenschaftlich höchst umstritten ist, wären wir Menschen ohne die Freiheit dieses zu tun und jenes zu lassen, nur eine Art Maschine, der man im Grunde keine Menschenwürde mehr zusprechen kann. Zur Menschenwürde gehört nämlich wesentlich, dass Menschen Wesen der Freiheit sind, die Achtung verdienen, weil die Verwirklichung dieser Freiheit Sache ihres ureigensten, nur ihnen zukommenden Lebens ist.

3) Mit dem Gesichtspunkt, dass unsere Zughörigkeit zu biologischen Natur die Ursache der Sünde sei, berühren wir ein altes Schema der Erklärung der Sünde. Es verstand die Sünde der Abwendung von Gott, zugleich als Zuwendung zu unseren naturhaften Anlagen. Im Neuen Testament werden diese Anlagen „Fleisch“ genannt. „Nach dem Fleisch wandeln“, bedeutet nach Paulus, dem sinnlichen Leben frönen und dabei die Beziehung auf Gott außer Betracht zu lassen und sie damit zu zerstören. In Luthers drastischer Sprache werden Menschen darum häufig Säue genannt, die saufen, fressen, huren, lügen, stehlen, dem Mammon huldigen usw. Heute kann man das Konsumstreben und die Vergnügungssucht in diese Linie stellen. Alles dies macht egoistisch, begründet Neid, ja Hass auf Andere und lässt vergessen, dass wir geschaffen wurden, um aus der Kraft des Geistes Gottes zu leben.

Vielleicht ist es sogar so, dass uns unsere biologische Natur dieses Verhalten gewissermaßen in die Wiege gelegt hat. Im Kampf ums Überleben steht die Sicherung unseres Reviers, das Erlangen unserer Nahrung, die Befriedigung unserer Begierden an vorderster Stelle. Ob uns deshalb geradezu ein Aggressionstrieb angeboren sei, wird heute zwar nur noch selten behauptet. Der sogenannte Sozialdarwinismus, der eine natürliche Rangordnung von Menschen behauptet, die immer auch erkämpft werden muss, ist eine sich dem Rassismus nähernde Theorie. Aber dass die  Konzentration des Lebens von Menschen vor allem die Versorgung der biologischen Natur etwas mit der Sünde des Zerstörens unseres Leib-geistigen Seins und unserer Beziehungen zu den Mitmenschen zu tun hat, wird man schwerlich bestreiten können.

Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard hat dieses Verfallensein an das Irdische, Naturhafte eine „Krankheit zum Tode“ genannt. Er hat sie mit der Angst erklärt. Gott erwartet von uns Menschen, das wir uns seiner unbeweisbaren, unendlichen Wirklichkeit glaubend anvertrauen. Angesichts dieses riesigen Horizonts ihres Lebens ergreift Menschen die Angst, dass sie ihr Leben auf einen völlig unsicheren, unabsehbaren Grund bauen. Darum klammern sie sich an das Endliche. Sie tun das so, indem sie sich gegen Gott, die Mitmenschen und schließlich auch gegen die Natur wie alles bestimmende „Götter“ aufführen. Eugen Drewermann hat diese Einsicht treffend aufgenommen, indem er daran erinnert, dass wir Menschen nach biblischer Einsicht auch „Wesen aus Staub“, aus Erde sind. Voller Angst trachten wir danach, diesem Wesen sein Dasein zu sichern, statt es von Gott zu empfangen. Drewermann sagt darum: „In aller Lüge, allem Hass, aller Gewalt, in jeder Gemeinheit, in jeder noch so vernunftwidrigen Kinderei, in jedem Akt tierischer Rohheit und Barbarei“ möchten die Menschen sich und Anderen nur immer wieder beweisen, dass sie „nicht ein solcher ‚Dreck’ sind, wie sie es ohne Gott sein müssen“.

         Soweit die wichtigsten Gründe, die in Vergangenheit und Gegenwart für die Sünde ausgemacht wurden. Sie spielen zweifellos alle eine Rolle, wenn wir sündigen. Die Macht des Bösen, das Hineingeboren werden in eine Menschheit, die Kindern das Sündigen vormacht und die Reduzierung unseres Lebens auf unsere biologische Natur schaffen den Raum, in dem die Sünde immer aufs Neue ihre traurigen Triumpfe feiert.        

 

4. Sündenerkenntnis und Schuldbekenntnis

Ich komme zum Schluss, indem ich noch einmal kurz an den Anfang unserer Überlegungen blicke. Wir haben gesagt: Die Sünde braucht das Verstecken, Verbergen, Verdunkeln, Vergessen, um sich auszutoben. Die Gründe, die wir für das Sündigen gefunden haben, stehen in ihrer Weise alle im Dienste der Aufhellung des Dunkels, in dem das Sündigen gedeiht. Man könnte deshalb meinen, sie haben die Kraft, dieses Gedeihen bremsen. Denn im Hellen kann das Böse nicht wuchern. Ein bisschen haben sie – diese Gründe – vielleicht ja auch diese Kraft. Besonders wenn es gilt, mit ihnen andere Menschen zu überführen, werden sie gerne in vielen Variationen gebraucht. Das Streben nach Bereicherung, nach Konsum, nach Vorteilsnahme und vieles andere mehr sitzt in unserer medialen Öffentlichkeit ohne Unterlass auf der Anklagebank. Fast jede Tageszeitung ruft täglich das Sündenregister der globalisierten Welt auf. Protest gegen das Gift des Rechtsradikalismus als einer abscheulichen, menschenverachtenden Gestalt des Bösen ist in diesen Tagen angesagt und viele beteiligen sich Gott sei Dank daran.  

Die Christenheit wird das auch tun. Denn ihre Erfahrung der Vergebung der Sünde besagt nicht, dass sie sich wie auf einer Insel der Seligen darauf ausruhen können. Wer diese Erfahrung der Vergebung macht, wird vielmehr das Seine tun, der Ausbreitung des Bösen durch das Handeln von Menschen Widerstand zu leisten. Darin ist das politische Engagement der christlichen Kirche begründet. Doch die Illusion, dass damit die Sünde verschwindet, wird sie nicht verbreiten. Christinnen und Christen erfahren es ja zuerst an sich selbst und auch in der Kirche, wie die Beziehungen zerstörende Macht der Sünde auch hier auf dem Plan ist. Im Lichte Jesu Christi gibt es da keine Ausnahmen, keine sündlosen Heiligen. Vor ihm werden alle Menschen als die offenbar, die in dieser Welt bis Gottes Reich kommt immer wieder unabsehbar in die Macht der Sünde verwickelt sind und ihren Teil dazu beitragen, dass sie sie sich in unsere Gedanken, Worte und Werke einmischt.

Christliche Sündenerkenntnis und damit christliches Reden von der Sünde dürfte damit frei sein von aller Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit gegenüber anderen Sündern und Sünderinnen. Ihr erste Konsequenz ist vielmehr das Eingeständnis unserer eigenen Schuld. Sündenerkenntnis und Schuldbekenntnis gehören zusammen. Dietrich Bonhoeffer hat gesagt: Die Kirche ist der Ort der Schulderkenntnis. „Wo es anders wäre, wäre die Kirche nicht mehr Kirche“. Und er hat hinzu gefügt:  „Das Bekenntnis der Schuld geschieht ohne Seitenblicke auf die Mitschuldigen...Wo noch gerechnet und abgewogen wird, dort tritt die unfruchtbare Moral der Selbstgerechtigkeit an die Stelle des Schuldbekenntnisses...Der Blick auf die... Gnade Christi befreit gänzlich vom Blick auf die Schuld der anderen“, weil die, welche ihre Schuld bekennen, „nur noch an die Vergebung ihrer eigenen großen Schuld denken können“.

Dieses Schuldbekenntnis lähmt jedoch nicht. Denn vor Gott stehen wir nicht am Pranger, wohin wir uns gegenseitig so gerne stellen. Dort werden wir auch nicht zu Skrupulanten, die vor lauter Furcht, wieder zu sündigen, ängstlich und verschüchtert durch die Welt laufen und überall Fallen des Bösen wittern. Wer vor Gott Schuld bekennt, kann seiner Sünde ohne Scheu ins Gesicht sehen und ohne gequälte Miene von ihr reden. Er hat sie ja schon hinter sich. Er wird darum auch anderen Menschen sagen können, dass das Aussprechen der Sünde vor Gott ein Akt der Befreiung von ihrer tödlichen Macht ist. „Ich wäre so gerne ein Sünder gewesen“. Dieser halb witzige halb traurige Satz im Munde eines Menschen von gewinnt so tatsächlich einen guten Sinn. Wer im Bekenntnis der Sünde von der Sünde frei wird, kann tatsächlich gerne Sünder und Sünderin sein. 


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