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Verschieden und vereint. Die Evangelische Kirche in Deutschland im 25. Jahr der Wiedervereinigung
Die Kirche, Nr. 26 vom 25. Juni 2016, 3
Richtig „getrennt“ sind die Landeskirchen DDR, die sich 1969 zu einem Kirchenbund zusammen schlossen, von den in der „Evangelischen Kirche in Deutschland“ (EKD) vereinigten westdeutschen Landeskirchen niemals gewesen. Die Regierung der DDR wollte zwar einen scharfen Schnitt zwischen beiden Kirchenverbänden. Ihre Empörung war darum groß, als in der Ordnung jenes Bundes ein Bekenntnis „zu der besonderen Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland“ stand.
Diese Ordnung lief sicherlich darauf hinaus, die Kirche auf die Situation in der DDR zu konzentrieren. In ihrem Hintergrund stand auch die Bereitschaft von Kirchenleitungen, sich auf die zweideutige Formel von einer „Kirche im Sozialismus“ einzulassen. Sie konnte in kirchlichem Sinne nur zum Ausdruck bringen, dass die Kirche für die Menschen in der sozialistischen Gesellschaft da sein wolle. Sie sollte aber nicht – wie das Politbüro der SED es anstrebte – das Eintunneln der Kirche in die Ideologie und Machtausübung des sozialistischen Staates befördern.
Das Festhalten an der „besonderen Gemeinschaft mit der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland“ war darum ein wesentliches Moment der Abwehr dieser Zumutung. Es provozierte die DDR-Mächtigen einerseits politisch. Denn nicht von zwei deutschen Staaten, sondern schlicht von „Deutschland“ war im Artikel 4 jener Ordnung die Rede. Andererseits war das, was „Gemeinschaft der Christenheit“ konkret bedeuten sollte, für die real-sozialistische Wachsamkeit ziemlich schwer fassbar.
Denn in der Praxis hatte diese Gemeinschaft viele Gestalten. Partnerschaften zwischen den Gemeinden aus Ost und West flochten ein Netzwerk der Verbundenheit an der Basis. Die Landeskirchen und kirchlichen Zusammenschlüsse organisierten regelmäßig „gesamtdeutsche“ Beratungen und Veranstaltungen mannigfacher Art. Die Evangelische Kirche der Union, die sich nur regionalisierte, unterhielt einen gemeinsamen theologischen Ausschuss. Die theologische Ausbildung vollzog sich im Gebrauch westdeutscher Literatur, für deren Transfer die Kirchen der EKD auf legalen und weniger legalen Wegen sorgten.
Diese Kirchen stellten ihr Bekenntnis zur „besonderen Gemeinschaft“ mit der Christenheit in der DDR darüber hinaus unter Beweis, indem sie ihr in großem Umfang finanziell beistanden und sie mit Sachmitteln unterstützten. Man kann ohne Übertreibung sagen: Hätte es diese Solidaritätsbeweise nicht gegeben, wären die Kirchen in der DDR, so wie sie faktisch lebten, gar nicht lebensfähig gewesen. Sie haben sich dann allerdings besonders entwickelt.
Diese besondere Entwicklung musste dem Machtgebaren des sozialistischen Staates in zweierlei Hinsicht Rechnung tragen. Zum einen gelang es ihm, durch Repression und Propaganda die Mitglieder der Kirche entscheidend zu dezimieren. Die Kirche wurde zu einer gesellschaftlichen Minderheit.
Zum anderen exerzierte die DDR das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche so, dass sie allen kirchlichen Einfluss auf die Gesellschaft zurück drängte. Es gab kein Staatskirchenrecht, das regelte, wie mit kirchlichen Einrichtungen, die einen Platz in der Gesellschaft beanspruchten, wie mit Bauvorhaben, kulturellen Initiativen usw. zu verfahren sei. Die Kirche war auf die Willkür der Funktionäre der SED angewiesen, die das alles mit dem Prinzip der Trennung von Staat und Kirche rechtfertigten – einem Prinzip allerdings, an das sie sich selbst nicht hielten, indem sie durch ihre „Organe“ auf das Leben der Kirche Einfluss zu nehmen trachteten.
Das ist nur partiell gelungen. Denn trotz aller Repression war die Evangelische Kirche die freieste gesellschaftliche Kraft in diesem Land. Sie hat die Not, die ihr der real-sozialistische Staat bereitete, als Chance begriffen, sich aus der freien Geisteskraft des Evangeliums zu behaupten. Das erklärt, warum sie am Ende der DDR gerade für die der Kirche entfremdeten Menschen zu einem glaubwürdigen Konzentrationsort gesellschaftlicher Freiheit werden konnte.
Nicht wenige sahen aber 1990 bei der Vereinigung der ost- und westdeutschen Kirchen diese Freiheit durch das Staatskirchenrecht der Bundesrepublik bedroht. Es wurde gefragt: Führt dieses Recht, das Leistungen des Staates für die Kirche beim Einzug der Kirchensteuern, beim Religionsunterricht, bei den Aufgaben der Diakonie, bei der Militärseelsorge, beim Unterhalt Theologischer Fakultäten und bei der kirchlichen Kulturpflege sanktioniert, nicht in eine neue Abhängigkeit vom Staat? Schadet das nicht der Glaubwürdigkeit der Kirche?
Diese Fragen begleiten den Weg der Evangelischen Kirche in Deutschland bis heute. Vor 25 Jahren – das muss man nüchtern sehen – fehlten den Kirchen der neuen Bundesländer überzeugende Argumente dafür, die Kirche anders zu organisieren. Denn einerseits sind diese Kirchen den westlichen Kirchen mit einem ähnlichen Profil begegnet. Wenngleich sie nicht als „Körperschaft öffentlichen Rechts“ anerkannt waren, haben sie sich wie eine solche „Körperschaft“ organisiert. Sie hatten ihre eigene Gesetzlichkeit und Gerichtsbarkeit, sie zogen (auf freiwilliger Basis) „Steuern“ ein, die Pfarrerinnen und Pfarrer hatten Beamtenstatus. Das alles passte mit den Regularien für eine „Körperschaft öffentlichen Rechts“ zusammen.
Schmerzlich war aber die Erkenntnis, dass die Kirchen der neuen Bundesländer sich im Ganzen nicht als eine „Zeugnis- und Dienstgemeinschaft“ darstellen konnten, wie der Bund der Evangelischen Kirchen sie intendierte. Auch die Kirche in der DDR blieb strukturell eine „Volkskirche“, obgleich ihr nicht ein Viertel des „Volkes“ angehörte. Das war dem Parochialsystem geschuldet. Gliedschaft in der Kirche ist demnach am Wohnort verankert und nicht in der Verpflichtung zur Teilnahme an „Zeugnis und Dienst“. Darum blieb auch für die Kirchen in der DDR ein Wesensmerkmal der „Volkskirche“ charakteristisch: Es gab einen kleinen engagierten Kern und darum herum die Meisten, die nur locker dazu gehörten. Diese Kirche hat sich nicht „gesund geschrumpft“. Sie blieb darum darauf angewiesen, von der Gemeinschaft der Kirchen in der EKD unterstützt zu werden. Ohne diese Unterstützung können diese Kirchen bis heute faktisch nicht eine Kirche „für alles Volk“ (Barmen VI) sein.
Schaden ihr bei diesem Bemühen die Staatsleistungen? Das wäre der Fall, wenn sie die Freiheit der Kirche einschränken würden. Nach den Erfahrungen der letzten 25 Jahre kann man aber nicht sagen, dass der demokratische Staat darauf zielt. Theologisch geurteilt ist zwar zuzugeben, dass es für das deutsches Muster einer „hinkenden Trennung“ von Kirche und Staat keine zwingenden Gründe gibt. Die meisten Evangelischen Kirchen der Welt existieren ohne solches Staatskirchenrecht. Es gibt keinen Anspruch einer christlichen Kirche darauf.
Auf der anderen Seite kann es aber auch niemand verantworten, die Kirche-Staat-Strukturen willkürlich zu zerschlagen, die von staatlicher Seite im Zutrauen zur Kirche als einer humanisierenden Kraft in unserer Gesellschaft gründen. Die Freiheitsräume zum Ausrichten ihrer Botschaft und zur Praxis der Menschenliebe, die ihr damit geschenkt sind, gilt es vielmehr als Möglichkeiten des Eintretens für andere mit Leben zu erfüllen.
Das ist nicht durchgehend gut gelungen. Denn viele Kräfte wurden in den vergangenen Jahren durch die Beschäftigung der Kirchen mit sich selbst gebunden. Neustrukturierungen von Gemeinden, Kirchenkreisen und Landeskirchen waren nötig, um den Dienst der Kirche auf einer realistischen Basis zu gewährleisten. Ganze Arbeitsbereiche mussten eingestellt werden. Viele Gemeinden mussten auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verzichten. Es ist aber mit den Restaurierungen von Gebäuden, mit der Einrichtung von Kitas, mit der Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Menschen im kirchlichen Dienst auch sehr viel Neues geschaffen worden, was dem Leben der Gemeinden und der Ausstrahlung der Kirche in die Gesellschaft zu Gute kommt. Wer die äußerlichen Umstände noch in Erinnerung hat, unter denen die Kirchen in der DDR-Zeit leben mussten, kann für das alles nur dankbar sein.
Entscheidend bleibt freilich, ob und wie es den Kirchen in den neuen Bundesländern gelingen kann, Menschen, die dem Glauben an Gott massenweise entfremdet sind, Wege zum Glauben zu bahnen. Die atheistische Gottesvergessenheit setzt zwar allen Kirchen in Deutschland zu. Im Osten aber stellt sie die Herausforderung schlechthin für die Kirchen, für jedes Gemeindeglied, ja schon für die Kinder christlicher Eltern in der Schule dar.
Als Glied des „corpus“ der ganzen Evangelischen Kirche in Deutschland hilft ihnen dabei der Erfahrungsschatz bei der Ausbreitung des Evangeliums, der in diesem „corpus“ an vielen Orten angesammelt wird. Die Evangelische Kirche in Deutschland ist von der Basis ihrer Gemeinden her eine geistlich reiche Kirche, von der unzählige Anregungen ausgehen, Menschen für den Gottesglauben zu gewinnen. Sie können nicht nur von den Medien abgerufen oder bei Kirchentagen erfahren werden. Durch den Zuzug von Christinnen und Christen von West nach Ost und von Ost nach West werden eingerastete Blickwinkel ganz konkret geweitet und der Mut gestärkt, Neues im Geiste des Evangeliums zu wagen.
Selbst für die kleinste Gemeinde ist die Evangelische Kirche in Deutschland ein großer, reicher Raum, in dem sie sich zu Hause wissen kann und den sie an ihrem Ort repräsentiert. Die Kirchengemeinschaft, welche alle Evangelischen Konfessionskirchen in Deutschland auf der Grundlage der Leuenberger Konkordie verbindet, kann und soll eine Kraftquelle für jede christliche Gemeinde sein.