Kategorie: Vorträge
"Verengt" christologische Konzentration die Möglichkeiten von Gotteserfahrung?
Vortrag beim Konvent des Kirchenkreises Cottbus in Guben am 15.04.2015
Reflexion dieser Frage auch unter Bezug auf Paul Tillich aus Starzeddel im Landkreis Guben
1. Christozentrik als Eröffnung eines weiten Raumes der Gotteserfahrung
Die Frage, die aus dem Konvent heraus gestellt wurde, ist, ob eine christozentrische Theologie nicht gleich bedeutend mit einer „christologische Engführung“ ist, der gegenüber wir heute „breiter“ denken und das heißt natürlich auch, „breiter“ verkündigen und von Gott reden sollten. Das könne – wurde mir mitgeteilt – mit der Schöpfungstheologie geschehen, die (wie es heißt) „nach vorne dränge“, und mit der Lehre vom Heiligen Geist, die in der Ökumene sehr bedeutungsvoll ist.
Es ist zu vermuten, dass hinter dieser Frage eine Wahrnehmung steckt, die wir bei unserer Verkündigung und allem unserem Reden von Gott besonders angesichts des konfessionslos-atheistischen Milieus machen, welches unsere Gemeinden umgibt. Das Reden von Gott, exklusiv ausgerichtet auf Jesus Christus, wirkt wie eine religiöse Absonderlichkeit, welche der Lebenswelt von Menschen fremd ist und bleibt. Dass sich vor 2000 Jahren Gott für uns in einem hingerichteten Menschen offenbart haben soll, ist nichts, was sie angeht – schon gar nicht „unbedingt angeht“ (um schon einmal mit Paul Tillich zu reden). Es verengt in diesem Sinne das Tor zur Gotteserfahrung. Wenn wir heute so von Gott reden wollen, dass diese Rede in die Erfahrungswelt von Menschen einen Anker wirft, dann dürfen wir Menschen nicht bloß auf die „schmale Pforte“ hinweisen, welche die Geschichte Jesu Christi inmitten des übrigen Weltgeschehens ist. Wir müssen die Rede von Gott auf eine breitere Basis stellen, die Menschen auf einen unmittelbaren, gegenwärtigen Zugang zu Gotteserfahrungen verweist, von denen her sie überhaupt erst eine Chance haben, die „schmale Pforte“ anzusteuern und nicht irgendwelche Mauern daneben, welche die Gotteserfahrung blockieren.
Diese breitere Basis unmittelbarer, heutiger Gotteserfahrung soll angesichts der behaupteten oder empfundenen Enge auf Jesus Christus konzentrierter Gotteserfahrung die Schöpfungstheologie eröffnen. Was damit genau gemeint ist, wäre freilich zu fragen. Denn gerade die Schöpfungstheologie ist das beliebteste Angriffsziel des Atheismus, dem sie als Ausweis der „Unwissenschaftlichkeit“ von Religion gilt. Wiederum ist zu vermuten, dass es beim Plädoyer für eine „breite“ Gotteserfahrung auf diesem Feld gar nicht um den Nachweis geht, dass Gott das Universum, die Erde und das Leben geschaffen habe. Denn die Diskussionen darüber sind höchst abstrakt und schaufeln eher Punkte auf die unmittelbare atheistische Erfahrungsskala, dass unser Leben am Rande des Universums zufällig und sinnlos ist.
Vielleicht aber ist mit dem Verweis auf die Schöpfungstheologie auch daran gedacht, dass der Glaube an Gott den Schöpfer zum „ökologischen“ Engagement für das „Bebauen und Bewahren“ der Schöpfung führt. Doch das gehört eher zu den ethisch-politischen Konsequenzen des Glaubens an Gott, den Schöpfer, und nicht zur Begründung von Gotteserfahrung. Im Übrigen ist zum ökologischen Engagement auch ein mündiger Atheismus fähig, so dass um dieses Zweckes willen niemand gedrängt ist, an Gott zu glauben.
Bleibt also, wenn Gotteserfahrung auf das breite Feld des Schöpfungsglaubens gelenkt werden soll, nur der Mensch als Geschöpf Gottes. Damit aber betreten wir ein Feld, das heute nicht nur in der Universitätstheologie, sondern auch in der Kirche reich beackert wird. Der Boden dieses Beackerns heißt „Religion“. Darunter ist zunächst im allgemeinsten Sinne die Fähigkeit von uns Menschen als mit Bewusstsein begabten Wesen zu verstehen, alles Objektivierbare und Vorhandene zu überschreiten und uns von Dimensionen des Geheimnisses unserer Wirklichkeit berühren zu lassen. Menschen sind in diesem Sinne unausweichlich religiös. Die Frage ist nur, ob und wie diese unabsehbar vielfältige Art von Religiosität für den Glauben an Gott in Anspruch genommen werden kann oder noch schärfer: ob und wie sich in dem allen Gott als uns Menschen angehende und andringende Wirklichkeit meldet.
Um diese Frage zu beantworten, aber brauchen wir ein Urteil darüber, welche geheimnisvolle Wirklichkeit, deren Menschen innewerden können, überhaupt „Gott“ zu heißen verdient. Können wir das nicht beurteilen, dann geraten wir in Gefahr, selbst das Aberwitzigste für Gott oder auch für eine Göttin zu halten. Denn jene allgemeine Art von Religiosität hat einen sehr, sehr weiten Radius. Zu ihr gehört die Verehrung von Pseudo-Göttlichem wie Idolen des Sports und der Unterhaltungsindustrie. Zu ihr gehört die für die pluralistische Gesellschaft überhaupt typische privatisierte „Bastelreligiosität“ (U. Beck), die sich aus Versatzstücken der Weltreligionen, aus Mystik und Esoterik einen „eigenen Gott“ zurechtreimt. Zu ihr gehören die religiösen Dimensionen der Kunst, aber dann eben auch echte Erlebnisse von Lebenserhöhung und der Erschütterung durch ein „mysterium fascinosum et tremdendum“.
Wenn sich also unsere kirchliche Verkündigung auf dieses diffuse Feld von Religiosität begibt, um aufzuweisen, wo und wie Menschen es schon immer mit Gott zu tun haben oder zu tun haben können, dann bedarf sie eines Kriteriums, um zu unterscheiden, was Gotteserfahrung zu heißen verdient und was nicht. Dieses Kriterium aber ist die Erfahrung des in Jesus Christus begegnenden Gottes. An das, was passiert, wenn dieses Kriterium das christliche Reden von Gott nicht mehr leitet, haben wir uns aus Anlass 80. Jubiläums der Barmer Theologischen Erklärung gerade erinnert. Die Kirche geriet 1933 unter die Herrschaft der deutsch-christlichen Rasse-Religion, so dass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als dagegen Jesus Christus als das eine Wort Gottes geltend zu machen, das überall Geltung hat.
Dieses Kriterium muss angesichts dessen, dass Menschen immer schon der Macht von Ideologien, dem Geist des Konsums, der Sogkraft der öffentlichen Meinung, Bildungsmustern, Stimmungen usw. ausgesetzt sind, erst Recht gelten, wenn man den Geist Gottes als diejenige Macht Gottes versteht, mit der Menschen schon immer Erfahrungen machen können. Das hat Michael Welker in seinem Vortrag zum 60. Geburtstag von Markus Dröge zu sagen versucht. Der Geist Gottes ist nicht ein Geist des religiösen Ungefähr, der Menschlichstes und Abscheulichstes hervorbringen kann. Es ist der Geist des Christus präsens, der lebendig machende Geist, zu dem Jesus durch seine Auferstehung nach 1. Kor. 15, 45 wurde.
Welker legt das Wirken dieses „pneumatischen Christus“ am Leitfaden der Lehre von den drei Ämtern Christi als König, Prophet und Priester aus. Der Grundgedanke dabei ist, das Jesus in seinem irdischen, „königlichen“ Wirken für uns ein Vorbild bei der „Revolutionierung von Herrschaftsvorstellungen und Herrschaftsverhältnissen“ ist. Als Prophet ist er ein Vorbild beim gewaltlosen Widerstand gegen Ungerechtigkeit. Und als Priester bei Taufe und Abendmahl ist er Vorbild bei der Einladung zur „Feier des Herrschaftswechsels von den Mächten der Welt zur Macht Gottes“. Kraft seines göttlichen Geistes aber zieht er Menschen in dieses Wirken hinein und ist so mehr als menschliches Vorbild. Er „materialisiert“ sich in den Menschen, die ihm auf diese Weise nachfolgen, heißt es mit einer etwas unangemessenen spiritistischen Begrifflichkeit.
Ich diskutiere jetzt nicht die Frage, ob Welkers stark ethisch-politisch oder befreiungstheologisch akzentuiertes Verständnis des Wirkens des Geistes Gottes bei Menschen, die für gerechte Weltverhältnisse eintreten, Gottesgewissheit aufleben lassen kann. Kann man von ihnen – auch zu ihnen ! – sagen, sie stünden faktisch unter der Wirkung des Geistes Gottes, wenn sie das tun? Die DDR-Bürgerinnen und -Bürger, welche sich bei der „friedlichen Revolution“ des „materialisierten“ Geistes in der Kirche bedienten, sprechen in ihrer andauernden Gottesvergessenheit sicherlich nicht dafür.
Was bei Welker aber deutlich wird, ist, dass die Konzentration auf das Wirken des Geistes Gottes identisch ist mit christologischer Konzentration. Der Geist, von dem hier die Rede ist, ist der Geist Jesu Christi. Dieser Geist aber führt nicht die Enge einer speziell abgeschotteten Christus-Frömmigkeit, sondern erschließt – mit Dietrich Bonhoeffer geredet – die „Weite“ des „Herrschaftsbereiches“ Jesu Christi (DBW 6, 347). Die Christologie führt in diesem Sinne nicht in die „Enge“, sondern in die Weite und Aktualität des Wirkens des in Jesus Christus begegnenden Gottes. Sie eröffnet einen weiten Raum der Gotteserfahrung Warum aber hat sich an die christologische Konzentration in diesem weiten Sinne dann das Diktum von der „christologischen Engführung“ geheftet?
2. Metamorphosen der Wendung gegen eine „christologische Engführung“
Jenes Diktum ist an erster Stelle auf die Theologie Karl Barths gezielt, in deren Windschatten auch Welker – beflügelt durch Jürgen Moltmann – seine Anschauung vom „pneumatischen Christus“ entwickelt hat. Geprägt hat dieses Diktum der römisch-katholische Theologe Hans Urs von Balthasar in seiner Darstellung und Interpretation der Barthschen Theologie im Jahre 1951 (vgl. Karl Barth. Darstellung und Deutung seiner Theologie, Köln 21961, 255). Im Vorwort der 2. Auflage dieses Buches hat er auch erklärt, woher er dieser Begriff stammt, nämlich aus der Theorie der Kunst der „musikalischen Fuge“ (II).
Dazu muss man wissen, dass eine Fuge ein dialogisches musikalisches Geschehen ist. In ihr stehen verschiedene musikalische Themen in einem Gespräch miteinander, variieren sich gegenseitig, ahmen sich nach, fügen Neues hinzu und „fliehen“ so von einer Stimme zur anderen. „Fuga“ heißt auf lateinisch „Flucht“. Wird ein Thema eine Note höher oder niedriger wiederholt, dann nennt man das Sequenz. Türmen sich aber bei der Antwort gleich mehrere Stimmen aufeinander, dann nennt man das „Engführung“. Es wird alles auf einmal geantwortet, statt auf das Thema Schritt für Schritt einzugehen. Eine „Engführung“ verschmälert also ein Thema nicht, sie überfüllt es.
Von Balthasars Vorwurf an Karl Barth war, dass er sich in der christologischen Konzentration seines Denkens solcher Überfüllung schuldig gemacht habe, statt der Sequenz zu folgen, in welcher Gott uns Schritt für Schritt begegnet. Der Beleg für diesen Vorwurf war die Erwählungslehre Karl Barths, die von Balthasar ganz richtig als Herzstück oder „Schlüssel“ der Theologie Karl Barths verstanden hat (vgl. 186). Barth hat in ihr das, was Gott in Jesus Christus für die Menschheit getan hat, in einem ewigen Erwählungsratschluss Gottes begründet gesehen. Danach hat Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit alle Menschen zum Bunde mit sich als seine Partnerinnen und Partner erwählt, sich selbst aber dazu bestimmt, in Jesus Christus die Schuld auf sich zu nehmen, die Menschen im Verfehlen dieser Partnerschaft auf sich laden.
Damit sei – so lautete von Balthasars Einwand gegen Barths christologisches Verständnis des ewigen, erwählenden Gottes – eigentlich schon alles entschieden, was sich in der Geschichte zwischen Gott und uns Menschen abspielt. Es ist „alles in der Ewigkeit schon immer geschehen“ (380), so dass die Differenziertheit, Spannung und Offenheit der Wege Gottes mit der Menschenwelt verloren gehe. Unter der römisch-katholischen Leitvorstellung, dass Gott sich durch die Ordnung der Natur einerseits und die Gnadenordnung in Christus andererseits auf Menschen bezieht, wird dafür plädiert, die „Übergänge zwischen Glauben und Unglauben“ ernst zu nehmen, „Ansätze der Natur zum Glauben […] hin, Fortschritte und Rückschritte, unendliche Formen der Widerstrebung und deshalb auch der echten Aneignung und Mitwirkung“ von Menschen an Gottes Gnade zur Geltung zu bringen (372).
Bleiben wir im Bilde der Begrifflichkeit aus der „Kunst der Fuge“, dann wird hier also für die theologische Sequenz plädiert. Es soll nacheinander in einem offenen Horizont entfaltet werden, wie differenziert Gott mit uns Menschen Geschichte macht und wie vielfältig er von Menschen erfahren wird. Der theologischen „Engführung“ wird dagegen angelastet, dass sie all das Gute, was Gott für uns Menschen in Christus getan hat, viel zu früh und zu schnell ins Spiel bringt. Sie gewichtet es mit Gottes Ewigkeit so schwer, dass Menschen, wie sie wirklich sind, gar nicht hinterher zu kommen vermögen. Ihre Erfahrungs- und Erlebniswelt wird sozusagen weggedrückt.
Auch auf evangelischer Seite ist schon früher ein damit verwandter Einwand gegen Barths christozentrische Theologie erhoben worden. Paul Althaus hat diese Theologie „Christomonismus“ genannt und damit vor allem in der lutherischen Theologie Schule gemacht (vgl. Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, Gütersloh 1947, 61962, 57). Ein „wirkliches Nacheinander und die Stufen in der Geschichte Gottes mit der Menschheit“ (59) könne Barth vom christologischen Einheitsprinzip her nicht denken. Die Erfahrungsebene, auf der sich Gott in der Existenz von Menschen, in der Geschichte, im Denken und in der Natur in einer „Ur-Offenbarung“ schon immer vielfältig und auch widersprüchlich in Zorn und Gnade selbst bezeugt, werde ausgeblendet.
Althaus hat deshalb die 1. These der Barmer Theologischen Erklärung regelrecht „häretisch“ genannt, weil sie andere Offenbarungen neben dem „einen Wort Gottes Jesus Christus“ als „Quelle der Verkündigung“ ausschließt. Verschwiegen wird dabei freilich, was Althaus zusammen mit Werner Elert, Emanuel Hirsch, Wilhelm Stapel u.a. selber in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts über die Offenbarung Gottes in der deutschen Geschichte, in der „Schöpfungsordnung“ von „Rasse, Blut und Boden“ und in Adolf Hitler von sich gegeben hat (vgl. hierzu meinen Aufsatz: Zur Wirkungsgeschichte von Barmen 1 in der „lutherischen Theologie“, in: Wilhelm Hüffmeier [Hg.], Das eine Wort Gottes – Botschaft für alle, Barmen I und VI, Band 1, Gütersloh 1994, 312-338).
Aber auch abgesehen von dieser schlimmen Konkretion der Behauptung einer „Uroffenbarung Gottes“ in einem verbrecherischen Regime und seiner Ideologie hält sich in der besonders an Martin Luthers Denken verpflichteten Theologie der Einwand durch, „Christozentrismus“ im Sinne von Barth oder auch von Barmen blockiere den Zugang zu menschlicher Gotteserfahrung aus den Zusammenhängen menschlichen Lebens heraus. Selbst Dietrich Bonhoeffer, der nun wahrlich ein Christozentriker erster Güte war, hat diesem Einwand Nahrung gegeben, indem er Barth „Offenbarungspositivismus“ vorwarf (Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, DBW 8, 404). Unter der unausgesprochenen Devise „Friß Vogel oder stirb“ wolle Barth Menschen immer gleich mit dem Ganzen der christlichen Gotteserkenntnis konfrontieren („Engführung“ als Überfüllung!). Er lasse dabei aber außer Acht, dass es für Menschen in Bezug auf Gott „Stufen (Althaus!) der Erkenntnis und […] der Bedeutsamkeit“ gebe (415). Bonhoeffer zielte jedoch darauf, solche „Stufen der Erkenntnis und […] der Bedeutsamkeit“ für Christus reklamieren, so dass Christus sogar der „Herr der Religionslosen“ zu werden vermag. Ein theologischer Gegner der „Christozentrik“ ist Bonhoeffer also keinesfalls gewesen, sondern – wie schon gesagt – ein Anwalt der „Weite“ des „Herrschaftsbereiches“ Jesu Christi.
Im Unterschied dazu wurde von Bonhoeffers weitläufigem Schüler Gerhard Ebeling jenes Argument des „Offenbarungspositivismus“ bei Barth unter Berufung auf Luthers Anschauungen vom Deus absconditus und von Gesetz und Evangelium aufgenommen. Mit der Menschen immer schon dunkel und vielfältig angehenden und fordernden Macht Gottes müssen Menschen Erfahrungen gemacht haben, um Gott in Jesus Christus begegnen zu können. In der christozentrischen Theologie herrsche dagegen ein „christologisches Prinzip“ „unter Ausklammerung des Subjektiven“. Dieses Prinzip werde „unabhängig davon“ exerziert, „ob und wie es vom Menschen aufgenommen wird“ (vgl. Karl Barths Ringen mit Luther, in: Lutherstudien, Band III. Begriffsuntersuchungen – Textinterpretationen – Wirkungsgeschichtliches, Tübingen 1985, 546.).
Ebeling hat sich mit dieser Kritik an der „Christozentrik“ im Namen der subjektiven Möglichkeiten von Menschen, Gott zu erfahren, in eine Phalanx der Barth-Kritik eingereiht, deren Opfer er dann allerdings schlussendlich selbst geworden ist. Diese Phalanx formierte sich in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in München. Zunächst holte Wolfhart Pannenberg den Hammer heraus und behauptete, Christozentrik führe zur „Auflösung des Gottesgedankens“ und damit zum Atheismus (Gottesgedanke und menschliche Freiheit Göttingen 1972, 32f.). Die sog. „Gott-ist-tot-Theologie“ der sechziger Jahre war ihm dafür der Beleg. Wenn nicht gezeigt werden könne, dass Menschen schon immer auf eine auf eine „alles Endliche übersteigende […] geheimnisvolle Wirklichkeit, die wir Gott nennen“ bezogen seien, dann bleibe wie bei Dorothee Sölle und Herbert Braun am Ende nur der Mensch Jesus als Vertreter eine Menschlichkeit auf dem Plan, die man auch ohne Gott haben kann.
Demgegenüber meinte Pannenberg nachweisen zu können, dass jeder Mensch schon immer einen „Gottesgedanken“ mit sich herum trage, der es ihm ermögliche, zu verstehen, wer Gott in Jesus Christus ist. Dieser Gottesgedanke, den die Theologie herausarbeitet, sei mit der menschlichen Freiheit gegeben. Denn Menschen können sich ihrer Freiheit in der Welt des Vorhandenen und der Unfreiheit nur bewusst werden, wenn sie einen personalen Gott als Ursprung ihrer Freiheit „in der außersubjektiven Wirklichkeit“ voraussetzen (26). Barth aber wird ein autoritäres Gottesverständnis vorgeworfen, dass von Menschen nur Gehorsam fordere und darum unfrei mache – ein Argument, dass sich dann später durch die ganze „Systematische Theologie“ Pannenbergs zieht.
Doch es kommt noch schlimmer. In dem von Trutz Rendtorff herausgegeben Band „Die Realisierung der Freiheit“ (Gütersloh 1975) haben Friedrich Wilhelm Graf und Falk Wagner die Denkstrukturen die Theologie Karl Barths als „faschistisch“ denunziert (41, 116). Sie denke Gott von Christus her als „absolutes Subjekt“, das darauf ziele, Menschen seiner Herrschaft „gleichzuschalten“, ja sie als „starkes Anderes“ ihm gegenüber auszuschalten. Barth wird vorgeworfen, dass er bloß seine eigene autoritäre Subjektivität expliziere, wenn er Gott als ein absolutes Subjekt denkt.
Als Alternative dazu wurde für eine „Entpositivierung“ oder „Entsubstanzialisierung“ der Theologie plädiert. Nach der Darstellung von Notger Slenczka ist solche „Entpositivierung“ oder „Entsubstanzialisierung“ heute in der systematischen Theologie, wie sie an den Theologischen Fakultäten Deutschlands vertreten wird, dominant (vgl. Flucht aus den dogmatischen Loci, 8/ 2013, 45-48). Nicht eine Menschen voran gehende, ihnen begegnende Wirklichkeit ist ihr Thema, sondern die „Selbstthematisierung des Subjekts“ (48). Sie „verabschiedet“ die loci, die Gott, Christus, den Heiligen Geist als von Menschen unabhängigen Ursprung des Glaubens verstehen (45). Sie betreibt anstelle dessen die Selbstauslegung des religiösen Subjekts, das, indem es sich seiner bewusst wird, auch „Gott“ die Funktion „transzendentaler“ Ermöglichung der Subjektivität zuspricht und so ein Bewusstsein von Gott „produziert“.
In Wagners Explikation seiner religiösen Subjektivität führt das zu einem – wie er sagt – „symmetrischen“ Gottesverständnis, in dem Gott und Mensch in einem Verhältnis „wechselseitiger Anerkennung“ stehen (vgl. Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh 1995, 62). Man wird sich Gottes so bewusst, dass ihm zwar zugebilligt wird, dass er meine Subjektivität ermöglicht, aber selbst davon abhängig ist, dass ich ihm diese Funktion zuspreche. Das jedoch ist ein schon den Begriff „Gott“ ad absurdum führende Gottesverständnis. Ein vom Menschen abhängiger Gott verdient überhaupt nicht „Gott“ zu heißen. Ein „Gottesgedanke“, der ihn so denkt, denkt – mit Ludwig Feuerbach geredet – allenfalls eine „Projektion“ von Menschen. Zwar rechnet es sich die Diskussion um die Selbstbegründung religiöser Subjektivität als Fortschritt an, dass sie auch in Erwägung zieht, dass „das Subjekt von Voraussetzungen bestimmt ist, die es übersteigen, ohne gegenständlich zu sein“ (Slenczka, 48). Aber auch dann ist die Frage, wie Menschen Gott begegnen und Erfahrungen mit ihm machen können – weil mit und ohne Christus „positionell“ orientiert – gar keine Frage mehr. Der Überlieferungsbestand des christlichen Glaubens wird vielmehr zur Spielwiese, auf der sich die religiöse Subjektivität ziemlich beliebig tummelt.
Michael Welker hat schon vor 10 Jahren in scharfer Auseinandersetzung mit Wilhelm Gräb auf die „religiöse Falle“ hingewiesen, in welche dieses Denken unsere Kirche eine in sich selbst kreiselnde religiöse Subjektivität treibt (vgl. Subjektivistischer Glaube als religiöse Falle, EvTh 64, 2004, 239-248). Gotteserfahrungen, Begegnungen mit Gottes Geist, sollen demnach überhaupt nicht mehr möglich sein, weder in Christus noch außerhalb Christi. Nur was zur „Selbstthematisierung“ eines „religiösen Subjekts“, das z.B. im religionslosen Osten gar nicht vorhanden ist, passt, soll die christliche Verkündigung leiten. Da bleiben nur ziemlich wenige übrig, die ihre eigene religiöse Subjektivität für stärker und bedeutungsvoller halten als den Geist Jesu Christi und die christliche Gemeinde noch dazu von den Kanzeln mit ihren religiösen Privatproblemen nerven.
Ich will jetzt nicht weiter ausbreiten, was die „Selbstthematisierung“ religiöser Subjektivität als Basis der Verkündigung in unserer Kirche anrichtet. Unsere Frage ist ja, wie Paul Tillich aus Starzeddel im Landkreis Guben mit seinem philosophisch-theologischen Denken in dieser Landschaft zu stehen kommt. Ginge es nach dem derzeitigen Vorsitzenden der Paul-Tillich Gesellschaft, Christian Danz aus Göttingen, dann wäre auch er unter die religiösen Subjektivitätstheoretiker zu rechnen. Seine Habilitationsschrift aus dem Jahre 2000 „Religion als Freiheitsbewusstsein“ trägt den Untertitel „Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität“ (Berlin-New York 2000).
Ich halte das mit der Mehrzahl der Tillich-Interpreten – kurz gesagt – für eine Fehlinterpretation der „Systematischen Theologie“. Diese Theologie, die zugleich Philosophie zu sein beansprucht, versteht sich ausdrücklich als Ontologie, als Lehre vom Sein oder der Wirklichkeit, in der Gott uns „unbedingt angeht“. Die religiöse Subjektivität kann uns dagegen nur relativ und bedingt angehen. Tillich hat sich immer wieder ausdrücklich dagegen gewehrt, die Theologie auf das zu reduzieren, was die religiöse Subjektivität Gott zuspricht. Ja mehr noch: Er ist durchgehend ein theologisch-philosophischer Denker, der Gotteserfahrung aufgrund von Offenbarung auf die religiöse Selbstexplikation bezieht, sie aber nicht in der Reduktion auf sie verstanden hat. Er steht der Christozentrik in ihrer weiten Dynamik darum unvergleichlich näher, als den Sackgassen des religiösen Subjektivismus, für die man sich gerade nach Tillich zu Unrecht auf Friedrich Schleiermacher beruft (vgl. Vorlesungen über die Geschichte des christlichen Denkens, Teil II, Aspekte des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1972, 73-92).
Ich kann das alles hier nicht ausführlich begründen und begnüge mich deshalb mit dem Unterstreichen von vier charakteristischen Grundzügen des theologischen Denkens von Tillich, die heute allerdings auch zu problematischen Konsequenzen führen können.
3. Christologisch-ontologische Konzentration bei Paul Tillich
3.1. Die Methode der Korrelation
In der „Systematischen Theologie“ Tillichs wird die existenzielle Verfassung von Menschen grundlegend als Frage verstanden, auf welche die Offenbarung Gottes im christlichen Sinne die Antwort ist. Diese Frage arbeitet die Theologie mit Hilfe einer ontologischen Begrifflichkeit heraus, die verstehen lässt, warum sie als Frage in der Struktur menschlicher Existenz begründet ist. Die Antwort der Offenbarung auf diese Frage wird dann so gegeben, dass sie in diese Begrifflichkeit gefasst wird.
Dieses Verfahren nannte Tillich die Methode der Korrelation. Die christliche Botschaft antwortet auf Fragen, die in der Existenz von Menschen beschlossen sind. Sie formuliert die Fragen aber unter dem Eindruck der Offenbarung und stellt die Offenbarung mit der Begrifflichkeit der Fragen dar.
Das Wesen der Frage, welche wir selbst sind, ist die „Erschütterung der Vergänglichkeit […], die Angst, […], die Drohung des Nichtseins“ (Syst. Theologie I, 76). Nur wer seiner Endlichkeit gewahrt wird, kann verstehen, „was der Gottesgedanke meint“. Er bringt die Macht zur Geltung, die dem drohenden Nicht-Sein, vor dem Menschen sich ängsten, standhält. Darum gilt: „Wenn der Begriff Gott […] in Korrelation mit der in der Existenz liegenden Bedrohung durch das Nicht-Sein erscheint, dann muß Gott die unendliche Macht des Seins genannt werden, die der Bedrohung durch das Nichts widersteht“ (78f.). Er ist das „Sein-selbst“ und insofern das, „was uns unbedingt angeht“ (134).
3.2. Die Offenbarung
Gott geht Menschen nur unbedingt durch eine „Manifestation“ an, wie Tillich die Offenbarung nennt. Denn aus der Existenz heraus kann die Antwort auf die Frage, welche die Vernunft als Frage nach ihrem eigenen Grund stellt, nicht gegeben werden, da sie dabei auf ihren eigenen Abgrund stößt. Sie kann Schellings Frage: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts“? nicht beantworten. Die Offenbarung gibt die Antwort; freilich so, dass sie ein Mysterium, ein von der Vernunft nicht aufzuschlüsselndes Geheimnis bleibt. Wie kann sie dann erfahren werden? Antwort: In einer Ekstase der Vernunft (135), welche die Subjekt-Objekt-Struktur der Welt transzendiert und sich so mit dem Seinsgeheimnis vereint.
Veranlasst wird die Vernunft zu solcher Ekstase durch die Medien der Offenbarung. Das sind „zeichengebende Ereignisse“, die „Grund und Abgrund“ manifestieren. Der Mensch Jesus ist ein solches Medium der Offenbarung. Die Manifestation des Seinsgrundes in ihm wird von Tillich als letztgültige Offenbarung verstanden, die allerdings in eine Offenbarungsgeschichte gehört, die sie vorbereitet. Die vorbereitenden Offenbarungen können darum nicht als letztgültig angesehen werden, weil sie mit Entstellungen und Verzerrungen der Manifestation des Mysteriums verbunden sind. Das heißt, die Träger oder die Medien der Offenbarungen verhindern dort noch die Überwindung der Konflikte der Vernunft, indem sie das Mysterium im Kultus, in den Sakramenten, aber auch in Personen fixieren und so verendlichen.
Die letztgültige Offenbarung ist dagegen konkret und universal in einem. Konkret ist sie darin, dass das Medium der Offenbarung der Mensch Jesus von Nazareth ist. Universal ist sie darin, dass die Endlichkeit Jesu uns nicht wieder in die Zweideutigkeiten der Endlichkeit führt. Denn – das ist die entscheidende Behauptung Tillichs! – Jesus erfüllt die Bedingungen einer letztgültigen Offenbarung, indem er seine Endlichkeit aufopfert! Der Anspruch einer endlichen Größe, letztgültig zu sein, ist an sich dämonisch (vgl. 161). Jesus aber besiegte die dämonischen Mächte, indem er „sich selbst“ als Medium der Offenbarung opferte. Als solchen nahm ihn Petrus ihn in einer „originalen Offenbarungsekstase“ das erste Mal auf, indem er ihm das Symbol „Christus“ als Ausdruck der Universalität der Offenbarung, der Einheit mit dem Grunde des Seins, zusprach. In diese erste Offenbarungsekstase traten dann „die nachfolgenden Generationen“ ein, so dass sich „in der Kirchengeschichte immer neue Offenbarung“ ereignen kann (152).
3.3. Gott über Gott
Gott muss nach dem Gesagten als Grund und Macht des Seins verstanden werden, die das Nicht-Sein überwindet, die Angst besiegt und Mut zum Sein stiftet (243). Doch unsere Begriffe, mit denen wir „Gott“ näherhin charakterisieren, können nur symbolisch sein, da wir sie der Erfahrung der endlichen Welt entnehmen. „Person“ ist z.B. ein solches Symbol, mit welchem der Theismus Gott zur Sprache bringt. Dieses Symbol wird aber bei der Beantwortung der Frage nach Sein und dem Mut relativiert, da der Grund und die Macht des Seins nur „überpersönlich“ verstanden werden kann. (Syst. Theol. II, 18). Gott ist in diesem Sinne Gott über dem Gott des Theismus. Er ist das Sein-Selbst als die einzige Definition, die wir für Gott verwenden können. Als dieses Sein selbst wirkt er „auch noch in denen […], die keinen Namen für sie haben, nicht einmal den Namen Gott“ (ebd.).
3.4. Jesus als das „Neue Sein“
Für Tillichs Christologie ist die Unterscheidung zwischen der Essenz und der Existenz alles Seins fundamental. Die Essenz ist das Wesen des Seins, das mit dem Seinsgrund geeignet ist; sein wahres Wesen. In der Existenz entfremden sich Menschen von diesem ihrem Wesen, das dann nur noch in der Potentialität haben. Sie existieren nicht in der Wahrheit des Wesens. Sie verwandeln ihre Freiheit in Willkür und ihr Schicksal in ein Fatum. Ihr Begehren zu sein findet kein Ziel. Sie müssen sich und die Welt formen. Aber die Form erstarrt zum fremden Gesetz. Statt Individuen zu sein, verfallen sie der Objektivation. Statt mit anderen zu partizipieren, geraten sie unter die Macht der Dinge. In dem allen ergreift sie unausweichlich die Angst.
Theologisch gesprochen bedeutet das: Beim Übergang von der Essenz zur Existenz fallen Menschen in die Sünde als Entfremdung von der Essenz, ja fällt sogar die ganze Schöpfung. Denn Schöpfung und Fall sind identisch. Tillich interpretiert den Übergang von der Essenz zur Existenz als Sprung (Syst.Theol. II, 52). Im Anschluss an S. Kierkegaards Auslegung von Gen. 3 wird ein Bewusstseinszustand „träumender Unschuld“ angenommen, in welchem die Essenz nicht entfremdet ist (42). Die „Erregung“ der Freiheit angesichts ihrer Möglichkeiten aber verursacht Angst. Mit ihr „springen“ Menschen in die schuldhafte Verwirklichung ihrer Essenz. Sie hat Verzweiflung zur Folge, d.h. das Gefühl, „dass man für den Verlust des Sinnes der eigenen Existenz selbst verantwortlich ist und doch unfähig, ihn wieder zu gewinnen“ (84). Aus dieser Verzweiflung erwächst die Frage nach dem Neuen Sein, in dem die Entfremdung überwunden ist.
Die christliche Antwort auf diese Frage nach dem Neuen Sein ist Jesus als Christus. In ihm ist „in einem personhaften Leben das Bild wesenhaften Menschseins unter den Bedingungen der Existenz erschienen […], ohne von ihnen überwältigt zu werden“ (104). Er ist die letztgültige Manifestation des Neuen Seins, „das Ende der Existenz, deren Kennzeichen Entfremdung, Konflikt und Selbstzerstörung sind.“ Fortan kann die Geschichte nichts hervorbringen, was nicht im Neuen Sein in Jesus als dem Christus schon enthalten wäre (130f.).
In Jesus als dem Christus ereignete sich demnach grundlegend, was auch unsere Erlösung sein soll: Die Vereinigung mit der Essenz. Von ihm geht eine erlösende Macht aus, die in aller Geschichte schon angelegt ist. Denn in ihm kommt zu „vollkommener Darstellung, was an erlösender Kraft in der Geschichte der Menschheit vorhanden ist“ (181). Diese Erlösung setzt sich aber nicht vollkommen durch. Niemand ist völlig erlöst, da er den entfremdenden Mächten noch ausgesetzt ist. Es gibt also in der Aufnahme des Neuen Seins darum ein Mehr oder Minder der Erlösung, weshalb das Christentum zu eschatologischen Symbolen der Zukunft genötigt ist. Im 3. Band der „Systematischen Theologie“ hat Tillich die Realisierung der Erlösung dann als einen universalen Prozess des Geistes dargestellt, der die Menschheit in der Macht des „Neuen Seins“ durch die Überwindung der Verzerrungen der Existenz zum Existieren eines nicht entfremdeten essentiellen Seins vorantreibt.
Wir können also durchaus sagen, dass Tillichs philosophische Theologie oder theologische Philosophie „christozentrisch“ ist. Sie bringt zur Geltung, dass Menschen nur aufgrund von Offenbarung Gottes inne werden können. Sie versteht das Wesen der Offenbarung von der letztgültigen Offenbarung in Jesus als dem Christus her, welcher sich die vorbereitenden Offenbarungen zuordnen. Das bedeutet auch, dass die Fragen nach Gott, die in der Existenz liegen, als Fragen nach der letztgültigen Offenbarung verstanden werden müssen. Sie werden gemäß der „Methode der Korrelation“ deshalb auf die Antwort hin, welche die Offenbarung gibt, zugespitzt. Die korrelative Christozentrik ermöglicht insofern eine Weite des Eingehens auf den Erfahrungshorizont von Menschen. Probleme bereitet dagegen die ontologische Begrifflichkeit der Existenzanalyse, die nach Tillich den Rahmen bereit stellt, in dem die Fragen profiliert werden in welchen die christologische Wahrheit – Jesus als der Christus – eingezeichnet wird.
4. Christozentrik – Grundlage für ein personales Gottesverständnis
Tillichs Absicht war es zweifellos, den Vorwurf der Vernunftfeindlichkeit des Glaubens an den in Christus offenbaren Gott zu entkräften. Menschen, die ihre Vernunft gebrauchen, können erkennen, dass das Mysterium der Offenbarung die Konflikte, in welche die Vernunft für sich alleine gerät, überwindet. Tillichs Theologie ist in dieser Hinsicht eine Apologie des christlichen Glaubens, die es Menschen des aufgeklärten 20. Jahrhunderts ermöglichen soll, aus den Symbolen des christlichen Glaubens Kraft für die Bewältigung der Grundprobleme ihres Lebens zu schöpfen. Sie legt dar, dass die Vernunft in ihrer „Ekstase“ die Wahrheit des Glaubens an Gott und Jesus bestätigt. Drei Problemkreise sind es jedoch, die theologische Bedenken gegenüber der ganzen Konstruktion von Tillich wach rufen.
Erstens: Alle Fragen, die Tillich aus der Existenz als Fragen nach der Offenbarung und dem „Neuen Sein“ erhebt, sind Fragen, die in der Angst, ja in der Verzweiflung am eigenen Existieren gründen. Nur wenn Menschen diese Angst tatsächlich haben, kann ihnen die „Manifestation des Neuen Seins“ tatsächlich Antwort sein. Dietrich Bonhoeffer hat in seinen Gefängnisbriefen kritisiert, dass Gott hier zum „Lückenbüßer“ für die unbeantworteten Fragen unseres Lebens gemacht wird (vgl. besonders den Brief vom 08.06.1944, DBW 8, 474-482). „Wo Gesundheit, Kraft, Sicherheit, Einfachheit ist“, legen die „Existenzphilosophen“ ihre „verderblichen Eier“, um Menschen in Verzweiflung zu treiben und ihnen dann Gott als Ausweg anzubieten (478). Theologiegeschichtlich gesehen steht Tillich hier in der Tradition der lutherischen Lehre von Gesetz und Evangelium. Erst wenn das Gesetz uns an Gott verzweifeln lässt, kann uns das Evangelium treffen. Nach Tillich müssen Menschen mit Notwendigkeit verzweifeln, weil ihre Existenz per se entfremdete, sündige Existenz ist. Das ist eine verschärfte Form der Erbsündenlehre, die von einer gut geschaffenen Natur der Menschen nur noch in der Potentialität, die nie Wirklichkeit wird, nur im „Traum“ bleibt, reden kann. Weil Schöpfung und Fall faktisch identisch sind, wird Gott sogar zur Ursache der Entfremdung. Er heißt darum in der Traditionslinie von Luthers Anschauung vom Deus absconditus nicht nur „Grund“, sondern „Abgrund“ des Seins. Kann unsere Verkündigung unter Menschen, die dem Glauben an Gott in der Tat „entfremdet“ sind und für die, deren Glauben gestärkt werden muss, diese Grundlage haben?
Zweitens: Die Christologie Tillichs ist keine Lehre von der Person Jesu Christi, sondern eine Lehre vom „Neuen Sein“, das sich in Jesus von Nazareth durch das Aufgeben oder „Aufopfern“ seiner Existenz manifestiert. Im Grunde stellt diese Christologie, die auf biblische Zeugnisse nur ganz schmal angewiesen ist, eine vollendete Aporie dar. Denn nach Tillichs Verständnis menschlicher Existenz kann es ein nicht entfremdetes Sein, das existiert, eigentlich gar nicht geben. Existiert Jesus, in dem sich „Neues Sein“ manifestiert, doch, dann muss Jesus seine Existenz negieren. Aber er muss sie im Existieren negieren, was ontologisch eigentlich gar nicht möglich ist.
Es geht m.E. nur um einen Trend zu dieser Aufopferung, den Petrus als entscheidend für die Manifestation des „Neuen Seins“ erkennt. Aus ihr sollen die an ihn Glaubenden „Mut zum Sein“, der aber eigentlich auch Mut zum Aufgeben ihrer Existenz sein müsste, schöpfen. Tillich verschleiert das, indem er in Umkehrung seiner Logik vom Geist, der von Jesus als dem Christus ausgeht, den Anstoß zu unentfremdeten Existieren jedenfalls in Ansätzen erwartet. Kann – so ist wiederum zu fragen – eine solche Christologie unsere Verkündigung von Jesus Christus leiten, die das Fest der Menschwerdung Gottes, des Kommens Gottes in die menschliche Existenz, dann eigentlich streichen müsste?
Drittens: Noch problematischer als das Festlegen von Menschen auf die Angst und das Verständnis Jesu Christi als Manifestation „Neuen Seins“ ist das Verständnis Gottes als „Sein-Selbst“ in der Weise von „Grund“ und „Abgrund“. Gott wird hier einerseits mit dem Sein der Welt als ihrer „Substanz“, welche ihre „Tiefe“ ausmacht, identifiziert. Das tangiert die Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf, die für das biblische Gottesverständnis unabdingbar ist. Nicht weniger gewichtig ist andererseits, dass der „Gott über Gott“ als unpersonale „Macht“ einer letztlich namenlosen „Tiefe des Seins“ verstanden wird.
Damit hat Tillich eine religiöse Einstellung zum Gottesglauben aufgenommen, die heute im Zuge der sogenannten „Wiederkehr der Religion“ mehr denn je zu beobachten ist. Menschen können sich zwar vorstellen, dass irgendeine Macht über ihnen waltet, aber dass sie ihnen konkret in der Weise einer Person, die man anreden kann, begegnet, halten sie für unmöglich. Tillichianer wie der Kirchenhistoriker und Lutherforscher Matthias Kroeger haben deshalb gefordert, dass die Kirche das personale Gottesverständnis aufgeben müsse. In seinem Buch „Im religiösen Umbruch der Welt: Der fällige Ruck in den Köpfen der Kirche“, Stuttgart 2004, heißt es: Das theistische Gottesbild einer existierenden „Person“ müsse durch ein Gottesverständnis ersetzt werden, welches das Göttliche als die „unbedingte Qualität und Dimension aller Dinge“ (83), als das ungegenständliche „Geheimnis in allen Dingen“ (89), das wir vielfältig „projektiv“ (100) ausdrücken, ersetzt werden.
Der Theologische Ausschuss der Union Evangelischer Kirchen in Deutschland hat dieser Außerkraftsetzung des christlichen Glaubens an Gott als „Du“, den wir im Vaterunser anrufen, eine Studie über das „Personsein des dreieinigen Gottes“ mit dem Titel „Mit Gott reden – von Gott reden“ (Neukirchen 2011) entgegen gesetzt. In ihr wird gezeigt, dass der Name Gottes, mit dem Jesus selbst Gott anruft, nicht bloß eine symbolische Redeform ist, die eigentlich eine namenlose göttliche Kraft anzielt. Das Reden von und mit Gott als Person ist zwar bildhafte, metaphorische Rede. Doch sie schiebt das, wovon die Rede ist, nicht eine unendliche Ferne. Denn sie hat ihren Ort in der Anrede und intensiviert das Anwesendwerden dessen, wovon die Rede ist. In diesem Sinne wird Jesus in jener Studie der „bleibende Bürge personaler Gottesrede“ genannt (91). Er „blockiert […] alle religiösen Versuche, den Namen Gottes in ein unpersonales Jenseits zu schieben“ (94). Ja er wird in seinem personalen Menschsein durch die Auferstehungserfahrung selbst zur Anrede Gottes an uns. Das im einzelnen zu begründen, würde uns hier jedoch zu weit führen.
Unsere Frage aber, ob christologische Konzentration unseres Redens von Gott die Möglichkeiten von Gotteserfahrung „verengt“, sollte angesichts des von Paul Tillich beförderten Gottesverständnisses als des „Seins-selbst“ noch einmal anders gewendet werden. Wie wir gesehen haben, kann Tillichs Denken durchaus „christozentrisch“ genannt werden. „Christozentrik“ alleine aber garantiert noch lange nicht, dass wirklich Jesus Christus selbst zur Sprache kommt. Die Frage ist vielmehr, welche Christozentrik mit biblischem Recht und angesichts der Herausforderungen durch die religiöse und nicht-religiöse Landschaft unserer Zeit beanspruchen kann, unsere Verkündigung zu leiten.