Kategorie: Theologiegeschichte des 20. Jh.
§ 1 Bleibende Fragen des 19. Jahrhunderts
1. Wissenschaft und Religion – Das Erbe Immanuel Kants (1724-1804)
„Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen; das Christentum mit der Barbarei und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“ – diese Frage D. F. E. Schleiermachers aus seinem „Zweiten Sendschreiben an Lücke“ annonciert ein Problem, das die Theologie seit der Aufklärungszeit umtreibt.
Aufklärung ist nach Immanuel Kant „der Ausgang des Menschen aus seinerselbst verschuldeten Unmündigkeit“ und die Entwicklung der Fähigkeit, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (Was ist Aufklärung? Werke 9, 53).
Die fremde Bestimmung des Denkens durch die Kirche oder den Staat (Heteronomie) wird durch die Selbstbestimmung des Denkens in Wissenschaft und Ethik abgelöst (Autonomie).
Das Selbstdenken vollzieht sich im Verstand, der aufgrund empirischer Wahrnehmung Urteile über die „objektive“ Wirklichkeit unter den Bedingungen von Raum und Zeit fällt; andererseits vollzieht es sich als Vernunft, die Ideen für das Zusammenleben der Menschheit entwirft.
Das Problem, dem sich Kant gestellt hat, war, dass die Erweiterung des Verstandeswissens durch die Wissenschaften keineswegs ein Leben von Menschen unter der Leitung der Vernunft nach sich zieht, sondern dass Menschen ihre Lebensführung von ihren sinnlichen Neigungen bestimmen lassen, wodurch sie in Konflikt miteinander geraten.
Man kann sich“, hat Kant 1784 in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ im Blick die menschliche Gattung geschrieben, „eines gewissen Unwillens nicht erwehren, wenn man ihr Tun und Lassen auf der großen Weltbühne aufgestellt sieht; und, bei hin und wieder anscheinender Weisheit im einzelnen, doch endlich alles im großen aus Torheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt findet: wobei man am Ende nicht weiß, was man sich von unserer auf ihre Vorzüge so eingebildeten Gattung für einen Begriff machen soll“.
Wenn die praktische Vernunft der Menschheit einen Weg zu einem vernunftgemäßen Handeln und Verhalten weisen will, dann kann sie sich überhaupt nicht auf die empirischen Bestimmungsgründe stützen, die das faktische Handeln und Verhalten von Menschen bestimmen. Sie entwirft vielmehr die Idee eines völlig freien Willens von Menschen, der ihnen das einzig vernunftgemäße Handeln zum Gesetz macht.
Dieses Gesetz (der „kategorische Imperativ“) lautet: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (Werke 6, 140).
Bei der Verwirklichung dieses Gesetzes kommt die Religion ins Spiel.
Denn wer dem kategorischen Imperativ gemäß handelt, wird die Erfahrung machen, dass er keine „Glückseligkeit“ (Eudaimonie) erlangen kann und dass die „erhabene, nie völlig erreichbare Idee eines ethischen gemeinen Wesens [...] sich sehr unter menschlichen Händen verkleinert und unter den Bedingungen der sinnlichen Menschennatur sehr eingeschränkt ist“, so dass man nicht erwarten kann, „dass aus solchem so krummen Holze etwas völlig Gerades gezimmert werde“ (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Werke 7, 649f.).
Um das Ziel der Übereinstimmung von vernunftgeleitetem Handeln und Glückseligkeit zu wahren, postuliert die Kritik der „praktischen Vernunft“ darum Gott, der für diese Übereinstimmung gut steht, Freiheit als Voraussetzung alles ethischen Handelns und Unsterblichkeit , in der Menschen das Ziel eines von der Vernunft geleiteten Lebens erreichen.
Diese „Postulate“ sind keine Behauptungen einer „jenseitigen“, transzendenten Wirklichkeit, sondern vernunftgemäße, „transzendentale“ Annahmen, die der Realisierung eines von der Vernunft geleiteten Lebens so zu Gute kommen, dass sie uns unsere im „kategorischen Imperativ“ begründeten Pflichten als „göttliche Gebote“ einprägen.
Kant hat darum darauf gezielt, den „Kirchenglauben“ an eine tranzendente Wirklichkeit Gottes in einen Glauben „aus bloßer Vernunft“ zu überführen, aber dem Kirchenglauben dennoch eine wichtige Funktion zuzusprechen, nämlich die Einübung in die Relativität aller Erkenntnisse des Verstandes und aller Verwirklichungen der praktischen Vernunft.
Die Religion der Kirche bewahrt den Verstand wie die Vernunft davor, sich selbst wie eine Religion mit absoluten Wahrheitsansprüchen zu gebärden. Sie stimmt mit der Einsicht zusammen, dass in dieser Welt nur relative Verwirklichungen menschlicher Freiheit möglich sind.
Kant hat diese Demut der Vernunft – u.a. Goethe und Schiller empörend – mit seiner Lehre vom „radikalen Bösen“, zu der die sinnengeleitete Menschheit einen „Hang“ habe, noch unterstrichen.
Schule in der Theologie aber hat er gemacht, indem er die Ethik als Feld, in das die Religion gehört, profiliert hat. Das hat die Denkweisen der „liberalen Theologie“ begründet und wirkt bis heute nach.
Bis heute wird aber in der Theologie aber zu wenig Kants Einsicht berücksichtigt, dass die Erweiterung unseres Verstandeswissens durch die Wissenschaft und ihr Einfluss auf das Leben durch die Technik die Gefahr in sich birgt, dass Menschen ihrem „Hang zum Bösen“ mit Hilfe von Wissenschaft und Technik freien Lauf lassen und sich so „eine Hölle von Übeln“ bereiten.
Als optimistische Variante bleibt dann, dass die Menschheit „durch Kriege [...], durch die Not [...], nach vielen Verwüstungen, Umkippungen, und selbst durchgängiger innerer Erschöpfung ihrer Kräfte, zu dem (kommen wird), was ihnen die Vernunft auch ohne so viel traurige Erfahrung hätte sagen können“ (Idee zu einer allgemeinen Geschichte, Werke 9, 42).
Die pessimistische Variante aber ist, dass die Menschen dann auf wissenschaftlichem Niveau „dennoch durch die Natur [...] unterworfen sein (werden) und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie insgesamt [...] verschlingt, und sie, die da glauben konnten, Endzweck der Schöpfung zu sein, in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurückwirft, aus welchem sie gezogen waren“ (Kritik der Urteilskraft, Werke 8, 579f.).
Kants Philosophie bleibt für die Kirche und die Theologie ein Aufruf, mit dem Glauben an Gott Verantwortung für die Möglichkeiten und Grenzen einer Gesellschaft, die von Wissenschaft und Technik bestimmt wird, zu übernehmen.
2. Die Wirklichkeit als Bewegung des Geistes – Das Erbe des deutschen Idealismus
In Abgrenzung gegen das „bescheidene“ Verständnis der Möglichkeiten der Vernunft bei Kant hat der deutsche Idealismus – allem voran Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) – das menschliche Denken als Teilhaben am Denken des „absoluten Geistes“ (= Gottes) verstanden.
Geist „ist dies, dass der Gegensatz ewig entsteht und ebenso ewig sich aufhebt, dass ebenso das ewige Versöhnen ist. Dass dies die Wahrheit ist, sehen wir in der ewigen göttliche Idee, dass Gott dies ist, als lebendiger Geist sich von sich zu unterscheiden, ein Anderes zu setzen und in diesem Andern mit sich identisch zu bleiben, in diesem Andern die Identität seiner mit sich selbst zu haben. Das ist die Wahrheit“ („Vorlesungen über die Philosophie der Religion“).
Der absolute Geist wird hier von Hegel am Modell des sich selbst denkenden Menschen verstanden. Wer sich selbst denkt, tritt sich gegenüber, um dann vor der Aufgabe zu stehen, dieses „Andere“ des Selbst mit sich zu versöhnen. Das Wesen des Denkens und somit des Geistes besteht also in einer Geschichte, in einem Prozess des Unterscheidens des Denkenden von sich selbst und des sich wieder Vereinigens mit sich selbst.
Hegel hat die Weltgeschichte, die Natur, das Recht, die Kunst und natürlich auch die Religion so interpretiert, das sich hier der „absolute Geist“ im Unterschied, ja in der Entfremdung von sich selbst manifestiert, um das Andere seiner selbst mit sich zu versöhnen. Auch das Negative, das zerstörend Böse, ist nur der Schmerz, in den der Geist sich begibt, um ihn zu überwinden.
Der christlichen Religion mit ihrem Zentrum des Glaubens an die Menschwerdung Gottes bis zum Tode Jesu am Kreuz hat Hegel darum eine große Bedeutung für das Realisieren des Geistes in der Geschichte zuerkannt: Gott der Vater geht im Sohn, dem Anderen seiner selbst, in die Entfremdung, um in dieser Tiefe mit dem Heiligen Geist die mit Gott versöhnte Gemeinde ins Leben zu rufen.
Der TheologePhilipp Conrad Marheinicke hat deshalb in seiner Trauerrede im großen Hörsaal der Berliner Universität am 16.11.1831 von Hegel gesagt: „Unserem Erlöser ähnlich, dessen Namen er stets verherrlicht hat in allem seinem Denken und Tun, in dessen göttlicher Lehre er das tiefste Wesen des menschlichen Geistes wiedererkannte und der als der Sohn Gottes sich selbst in Leiden und Tod begab, um ewig als Geist zu seiner Gemeinde zurückzukehren, ist auch er in seine wahre Heimat zurückgegangen und durch den Tod zur Auferstehung und Herrlichkeit hindurchgedrungen“ (Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, herausgegeben von G.Nikolei, Berlin 1971).
Dennoch ist Hegel im 19. Jahrhundert sehr bald marginalisiert worden. Das lag einerseits an seiner Unfähigkeit, die Newtonsche Physik zu akzeptieren, in der für eine Einwirkung des Geistes auf die Naturgesetze kein Platz war. Andererseits wurde ihm von der „Hegelschen Linken“ (David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach, Karl Marx) vorgeworfen, nur eine Versöhnung im Denken, aber nicht in der Realität der Gesellschaft zu propagieren.
Dennoch gehen von Hegel wichtige Impulse für die Theologie des 20. Jahrhunderts aus. Er hat ein geschichtliches Gottesverständnis befördert, das metaphysische Dogma von der Leidenslosigkeit Gottes in Frage gestellt und die Schöpfung als Prozess verstanden, der seiner Vollendung noch entgegen geht.
Dies alles wird in der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts wieder begegnen und legt sogar einen Grundstein für das Gespräch der Theologie mit den Naturwissenschaften, welche heute die Natur als Geschichte verstehen.
3. Die „Religion“ als „Drittes“ neben der Wissenschaft und der Ethik – Das Erbe Daniel Friedrich Ernst Schleiermachers (1768-1834)
Schleiermacher wollte der Religion einen eigenständigen, unangreifbarenOrt im wissenschaftlichen Zeitalter sichern. Seine „Reden über die Religion. An die Gebildeten unter ihren Verächtern“ (1799) haben dafür den Grundstein gelegt.
3.1.Religion als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“
Negativ legen die „Reden“ dar: Die Religion gehört weder in den Bereich einer vernünftigen Theorie der Welt (da ist Kant zuzustimmen) noch in den Bereich der Ethik (da ist Kant nicht zuzustimmen). Sie ist neben der Metaphysik der Vernunft und der Moralphilosophie vielmehr ein „notwendiges und unentbehrliches Drittes“ (Reden, 97).
„Religion“ ist beheimatet im „Reiche des Gefühls“. Ihr gehört eine „eigene Provinz im Gemüte“ an, in der sie sich betätigt als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ (107).
„Gefühl“ ist hier nicht primär der subjektive Gefühlszustand. Den gibt es zwar, aber er ist die Folge eines noch ursprünglicheren Erlebens, nämlich eines Augenblickes vorbewusster, unmittelbarer Anschauung. „Ihr müßt es verstehen, euch selbst gleichsam vor eurem Bewußtsein zu belauschen“, sagt Schleiermacher. Dann liegt ihr „unmittelbar an dem Busen der unendlichen Welt, ihr seid in diesem Augenblick ihre Seele, denn ihr fühlt, wenngleich nur durch einen ihrer Teile, dort alle ihre Kräfte und ihr unendliches Leben wie euer eigenes“(113).
Man kann ein solches praesubjektives Gefühl der Einheit mit dem Unendlichen oder mit dem Universum deshalb auch nicht als Dauerzustand haben, sondern nur im Augenblick „flüchtig und durchsichtig wie jener Duft, den der Tau Blüten und Früchten anhaucht“ oder „schamhaft und zart wie ein jungfräulicher Kuß und heilig und fruchtbar wie eine bräutliche Umarmung“ (ebd.). Das Subjektive des Gefühls wird in diesem Augenblick hineingenommen in einen Akt, in dem kein Subjekt und Objekt mehr unterscheidbar ist. Es ist das „ein und alles der Religion, alles im Gefühl uns Bewegende in seiner höchsten Einheit als eines und dasselbe zu fühlen [...], also unser Sein und Leben als ein Sein und Leben in und durch Gott“ (122).
Das unmittelbare Anschauen des All-Einen im Gefühl ist Gotteserfahrung. Schleiermacher kann deshalb Gott nicht als ein bloßes Gegenüber zur Welt oder etwas außerhalb der Welt denken „Wer [...] einen Unterschied macht zwischen dieser und jener Welt bethört sich selbst“, heißt es am Ende der 1. Rede; „alle wenigstens, welche Religion haben, kennen nur eine“ Wirklichkeit (87).
Mit solchen pantheistisch klingenden Formulierungen wollte Schleiermacher den „Gebildeten unter den Verächtern der Religion“ klar machen, dass Religion eine unausweichliche, eigene Dimension Menschseins ist, die sowohl dem freien wissenschaftlichen Forschen wie einer menschendienlichen Ethik zu Gute kommt.
3.2.Theologie als „positive Wissenschaft“
Theologie kann demnach keine „spekulative“ Wissenschaft sein, die einen transzendenten Gegenstand unabhängig vom religiösen Akt erforscht. Sie ist vielmehr eine „positive Wissenschaft", deren Theile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise“ (sc. die Kirche). „ Nicht eine Idee macht sie zur Wissenschaft, sondern die Notwendigkeit der „Lösung einer praktischen Aufgabe“.
Schleiermachers berühmte Definition der Theologie lautet darum: „Die christliche Theologie ist […] der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besiz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d. h. ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist“ (Kurze Darstellung2, § 1, 1).
Die eigentliche theologische Disziplin oder die „Krone“ der Theologie ist demnach die Praktische Theologie. Sie besteht in der Einübung der Technik, das Wesen des Christentums geschichtlich darzustellen.
Von ihr sind die philosophische und die historische Theologie zu unterscheiden. Beide gehören eigentlich dem Hause der Wissenschaft im Allgemeinen an. Sie werden nur durch die Beziehung auf die Praktische Theologie bzw. auf die Kirche zu theologischen Disziplinen.
Die philosophische Theologie hat es im Wesentlichen mit „Begriffsbestimmungen zu tun“ (§ 24,11). Sie bestimmt das Wesen der Frömmigkeit und der frommen Gemeinschaften im Zusammenhang der Tätigkeiten des menschlichen Geistes überhaupt.
Zur historischen Theologie gehören die Exegese (Kenntnis des Urchristentums), die Kirchengeschichte (Kenntnis von dem Gesamtverlauf des Christentums) und die Dogmatik (mit Statistik). Statistik ist die Zusammenstellung aller Äußerungen der frommen Gemeinschaft in einem Augenblick. Dogmatik ist dagegen die Erfassung des gegenwärtigen christlichen Bewusstseins.
Nur in der Beziehung auf die Kirche als „positivem Faktum“ einer bestimmten Religion einerseits und auf die Wissenschaft andererseits kann die Theologie einen Ort an der Universität beanspruchen.
3.3.Das „christlich fromme Selbstbewusstsein“
In seiner Glaubenslehre (18302) definiert Schleiermacher mit „Lehnsätzen aus der Ethik“ die Religion als „Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit“ (§ 4).Schleiermacher begründet das mit einer Theorie des Selbstbewusstseins folgendermaßen:
Wir sind uns in der Welt unserer selbst in doppelter Weise bewusst. Einerseits sind wir abhängig von der Welt und insofern rezeptiv. Andererseits sind wir frei und uns insofern selbsttätig. Indem wir frei sind, können wir uns von der Welt nicht schlechthin abhängig fühlen. Unsere Freiheit lässt darum unser Bewusstsein von der Welt ein teilweises Abhängigkeitsgefühl sein.
Dem steht aber unsere Freiheitserfahrung keinesfalls als schlechthinniges Freiheitsgefühl gegenüber. Denn indem wir selbsttätig sind, fühlen wir uns bezogen auf ein unobjektivierbares Woher. Es ist so etwas wie das „ganze ungeteilte Dasein“. Von ihm fühlen wir uns schlechthin abhängig, aber so, dass gerade dieses Woher unsere Freiheit ermöglicht. Wir sind uns unserer selbst bewusst als schlechthin abhängig und gerade so relativ frei und relativ abhängig in der Welt.
Die Religion drückt das so aus, dass wir uns als „in Beziehung zu Gott“ stehend bewusst sind. Gott ist also das Woher unseres schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls. Es gibt kein Selbstbewusstsein ohne das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott, selbst wenn jenes Woher ausdrücklich gar nicht „Gott“ genannt wird.
In einer konkreten Religion begegnet das Gottesbewusstsein als Erregung des Gemüts, das mit sinnlichen Empfindungen wie Lust und Unlust verbunden ist. Je stärker das sinnliche Moment, also die Abhängigkeit von der Welt in unserem Gottesbewusstsein vorhanden ist, umso mehr haben wir in Bezug auf Gott Gemütszustände der Unlust. Je deutlicher wir uns in unserer Freiheit von Gott schlechthinnig abhängig wissen, umso mehr drückt sich das Gottesbewusstsein in Gemütszuständen der Lust aus. Diese Lust nennt Schleiermacher Frömmigkeit. Frömmigkeit als Gemütszustand ist das je größere lustvolle Zusammenstimmen mit dem Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit unter den Bedingungen der sinnlichen Welt.
Gegenstand der Glaubenslehre ist die christliche Frömmigkeit, in welcher „alles in derselben bezogen“ ist „auf die durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung“ (§ 11). Folglich handelt die Glaubenslehre einerseits von dem Zustand des frommen Selbstbewusstseins, sofern es noch nicht hinreichend von der durch Jesus von Nazareth vollbrachten Erlösung bestimmt ist. Es handelt also vom Bewusstsein der Sünde.
Andererseits handelt es von der Frömmigkeit, sofern es hinreichend von diesem Bewusstsein der Erlösung bestimmt ist, also vom Bewusstsein der Gnade.
Darüber hinaus enthält das durch diesen Gegensatz bestimmte christlich-fromme Selbstbewusstsein Momente, die in jedem religiösen Selbstbewusstsein vorkommen und also im christlichen Selbstbewusstsein vorausgesetzt werden, wie z.B. dass Gott der Schöpfer ist. Dementsprechend handelt die Glaubenslehre in ihrem ersten Teil von der „Entwicklung des frommen Selbstbewusstseins, wie es in jeder christlichen frommen Gemütsregung immer schon vorausgesetzt wird, aber auch immer mit enthalten ist“.
Jeder Teil von Schleiermachers Glaubenslehre ist im Dreischritt von Selbstbewusstsein, Weltbewusstsein und Gottesbewusstsein durchstrukturiert.
Dieses religionsphilosophisch-theologische Konzept hat seine Pointe in der freien Selbsttätigkeit von Menschen, die glauben. Sein Beitrag zu Liberalisierung der Gesellschaft wird heute mit Recht betont. Wie es mit diesem Konzept allerdings alsTheologie steht, ist nun fast schon 200 Jahre lang umstritten. Die Frage ist: Sind theologische Wahrheiten nichts weiter als Wahrheiten unseres Bewusstseins?
Die einen sagen: „Ja“! Das ist gerade das Besondere der Religion, dass ihre Wahrheit nur dem religiösen Akt zugänglich ist. Die anderen sagen: „Nein“. Die Theologie verliert auf diese Weise das Gegenüber desGottes, der in der Bibel begegnet und den Glauben in der Kraft seines Geistes inspiriert. Auch Jesus Christus wird hier zu einer bloßen Bewusstseinstatsache.
In der Tat hat Schleiermacher in einer ziemlich abenteuerlichen Weise das wahre Gottsein Jesu so verstanden, dass bei ihm das Gottesbewusstsein auf vollkommene Weise entwickelt war. Er war ein Mensch wie wir. Nur in der „stetigen Kräftigkeit“ seines Gottesbewusstseins (in seiner „männlichen Vollkräftigkeit“) unterschied er sich von uns. Denn die sinnlichen Momente bestimmten beim kleinen Jesus nicht die Entwicklung seines Gottesbewusstseins. Darum konnte er in „unsündlicher Vollkommenheit“. existieren.
Dieses (konstruierte) Phänomen seines Bewusstseins nennt Schleiermacher ein „eigentliches Sein Gottes in ihm“. In ihm ist „urbildlich“ verwirklicht, wohin sich unser Gottesbewusstsein noch entwickeln soll. Es kann sich entwickeln, indem von Jesus der Impuls der Kräftigung unseres Gottesbewusstseins ausgeht. Die Wirkung dieses Impulses auf uns heißt „Erlösung“. Sie besteht darin, dass der Erlöser die Gläubigen in die Kräftigkeit seines Gottesbewusstseins aufnimmt (vgl. § 100). Das Kreuz und die Auferstehung haben von daher eigentlich gar keine Heilsbedeutung. Die Verwurzelung Jesu in Israel und damit die Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben wird marginalisiert.
Es ist am Beispiel der Christologie Schleiermachers schwerlich zu bestreiten, dass seine Selbstbewusstseinstheorie das biblische Zeugnis zensiert und kanalisiert. Schleiermachers Anliegen, das fromme Selbstbewusstsein von einem Woher außerhalb des Menschen bestimmt sein zu lassen, fädelt dieses Woher im Falle der christlichen Religion erkennbar in die Möglichkeiten ein, die dieses Selbstbewusstsein ihm gestattet.
Dennoch bleibt Schleiermachers bewusstseins-theoretische Kanalisierung des christlichen Glaubens an Gott ein Meilenstein in der Theologiegeschichte, der ihr den Weg zu einer zeitgemäßen Verantwortung des christlichen Glaubens weisen möchte. Das Gespräch mit Schleiermacher bestimmt darum alle Etappen der neueren Theologiegeschichte bis heute.
4. Religion und sittlicher Zweck – Das Erbe Albrecht Ritschls (1822-1889)
Adolf von Harnack hat von Albrecht Ritschl in einer Gedenkrede zu seinem 100. Geburtstag am 30.4.1922 in Bonn gesagt: Es sei „kein Theologe in dem letzten Menschenalter erstanden, der ihm an Bedeutung gleichkäme“. Er habe durch seine historische und dogmatische Arbeit die christliche Religion dem Leben, dem „schlichten Leben“, zurückzugeben und ihr „ursprüngliches Wesen“ ans Licht gestellt.
Ritschls Hauptwerk, die dreibändige „Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung“ (Bonn 1870/1874, 41895), ist in der Tat ein Gemenge von historischer Forschung und theologischem Urteilen. Eine Dogmatik hat Ritschl, der von 1846 - 1864 in Bonn, und von 1864 - 1874 in Göttingen systematischer Theologe war, nicht geschrieben. Sein „Unterricht in der christlichen Religion“ von 1875 (31886) erschließt aber ganz gut, woran ihm theologisch gelegen war.
Negativ geht um die Verabschiedung der „Dogmatik“ als spekulativem Unternehmen, als Metaphysik. Darin ist Ritschl Schleiermacher verhaftet.
Ritschl teilt aber nicht das Verständnis der Religion als frommem Gemütszustand. Er verstand das Religiöse vielmehr als Ausdruck Werturteilen, die Menschen abgegeben, wenn sie einen bestimmten (sittlichen) Zweck verfolgen. Im religiösen Akt urteilen Menschen, dass und wie Gott ihnen für die Verwirklichung eines Zweckes wertvoll erscheint oder nicht. Das Religiöse ist darum immer verbunden mit dem Sittlichen, Ethischen. Es gehört mit dem Ethischen zusammen wie zwei Brennpunkte einer Ellipse (Rechtfertigung und Versöhnung, 11).
Das religiöse Werturteil über Gott entsteht nun aber nicht an einer Idee Gottes, die Menschen entwerfen, sondern an einer Gottesmanifestation in der Geschichte, wie sie sich im irdischen Jesus ereignete. Hier wird uns Gotteserkenntnis bei der Ausübung des „Berufes“ Jesu vermittelt. Dieser Beruf war die „Einführung des Reiches Gottes [...] im Reden der Wahrheit und im liebevollen Handeln ohne Lücken und Abweichungen“ sowie „in bereitwilliger Geduld als Proben seiner Standhaftigkeit“ (Unterricht, 49). Die Einführung dieses Reiches durch „gerechtes Handeln“ hat Jesus nach Ritschl als Endzweck der Welt verstanden. Zu diesem Zweck vergewissert er seine Nachfolger der Liebe Gottes, die ihnen ihr Versagen bei der Errichtung des Reiches Gottes verzeiht. Er macht ihnen die Geduld, diesem Reiche nachzustreben, zur Berufsaufgabe.
Ritschl war darum ein entschiedener Gegner aller juridischen Auffassungen der Rechtfertigungslehre und der Vorstellung vom Zorne Gottes. Rechtfertigung und Sündenvergebung heißt, dass „wir von Gott berechtigt werden, in die engste Gemeinschaft mit ihm und in die Mittätigkeit an seinem eigenen Endzweck, dem Reiche Gottes einzutreten“ (Unterricht, 69). Ein Christenmensch lebt bei seiner Berufsarbeit am Reiche Gottes in dieser Welt in echter Weltlichkeit (so können wir vielleicht modern sagen).
Die die neuzeitliche Entwicklung eines sich autonom verstehenden sittlichen Bewusstseins wird dabei als wichtiger Faktor der Verwirklichung des Reiches Gottes angesehen. „Die sittliche Selbständigkeit und die Erzielung der innigsten wie der weitgreifendsten Verbindung mit den anderen“ ist das Ideal einer abendländisch-christlichen Kultur, für das die Kirche eintritt (Unterricht, 54).
Dieses Konzept war zündend, weil es in einem Zeitalter der beginnenden massenhaften Entfremdung der Menschen von der Kirche und vom Glauben der Kirche ein eindeutiges, der Gesellschaft zu Gute kommendes Profil zu geben versuchte. In der Beförderung einer sittlichen und geistigen Kultur der Gesellschaft hat das Christentum demnach seinen Sinn. Es wird als unentbehrlich für das Entstehen und Wachsen einer humanen Sittlichkeit dargestellt.
Literatur:
Barth, Karl, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Berlin 31961
Fichte, Johann Gottlieb, Deduzierter Plan einer in Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt, in: Heinz Schuffenhauer (Hg.), Johann Gottlieb Fichte, Über patriotische Erziehung. Pädagogische Schriften und reden, Berlin 1960, 197-285
Frank, Fr. H. R. von, Geschichte und Kritik der neueren Theologie, insbesondere der systematischen, hg. von Schaarschmidt, P., Erlangen/Leipzig 1895
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, hg. von W. Jaeschke, in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Hamburg 1984
Kähler, Martin, Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert, hg. von Kähler, Ernst, Berlin 1962
Kant, Immanuel, Werke in zehn Bänden, hg. von Weischedel, Wilhelm, Darmstadt 1983
Ders., Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), in: Band 9, 53 - 61
Ders., Der Streit der Fakultäten, in Werke, Band 9, 265 - 393
Löwith, Karl, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, Frankfurt 1969
Ritschl, Albrecht, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bonn 1870/174, 41895
Ders., Unterricht in der christlichen Religion, Bonn 1875, 31886 (krit. Ausgabe, hg. von C. Fabricius, Leipzig 1924)
Ritschl, Otto, Albrecht Ritschls Leben, 2 Bde. Freiburg 1892 - 1896
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Sendschreiben über seine Glaubenslehre an Lücke, neu hrsg. von H. Mulert, Gießen 1908
Ders., Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behufe einleitender Vorlesungen, Berlin 21830
Ders., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Zweite Auflage (1830/31), Teilband 1+2, hg. von Rolf Schäfer, Kritische Gesamtausgabe, Band 13/1, Berlin/New York 2003
Ders., Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Bibliothek theologischer Klassiker, Band IV, Gotha 1888
Ders., Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn, in: Die Idee der Universität, Darmstadt 1956, 219ff.