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Offene Tore für Gottes Geist
Was es bedeutet, eine reformatorische Kirche zu sein (Die Kirche Nr. 44 vom 1.11.2015)
Reformation und Reform sind nicht dasselbe, obwohl beides „Erneuerung“ bedeutet. Dass Reformation und Reform leicht verwechselt werden können, ist darum verständlich. In unserer Kirche stehen beide Worte derzeit hoch im Kurs.
Im Zugehen auf das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 wird die Reformation der Kirche im 16. Jahrhundert derzeit mit einer kaum noch zu verkraftenden Flut von Büchern, Broschüren, Ausstellungen, Filmen, Veranstaltungen, medialen Präsentationen usw. von allen Seiten beleuchtet. Für jemand, der sich nicht mit der Reformationsforschung und der Popularisierung der Reformation beschäftigt, ist es ziemlich schwierig, sich da durchzufinden. Darum wird unsere Kirchenzeitung das nächste Jahr hindurch einen „Glaubenskurs Reformation“ gestalten. Er zielt darauf, den Gliedern der Gemeinde und am Christentum interessierten Menschen die Bedeutung der Reformation überschaubar für unser Kirche- und Christsein heute zu erhellen.
Zugleich haben sich alle Evangelischen Landeskirchen in Deutschland einen „Reformprozess“ verordnet, in dem es darum geht, unsere Kirche auf die Herausforderungen einzustellen, die durch den beständig wachsenden Mitgliederschwund in den kommenden Jahren auf sie zukommen. Unsere EKBO hat mit den Papieren „Salz der Erde“ und „Welche Kirche morgen“? das Ihrige dazu beigetragen. Viel Nützliches und Bedenkenswertes ist darin zweifellos zu lesen! Aber je länger je mehr vermischen sich dann doch das, was zu tun erforderlich ist, mit dem Bekenntnis zu dem, für das wir gar nichts tun können.
Reformation der Kirche heißt zu Luthers, Zwinglis und Calvins Zeiten wie heute, der Gotteskraft des Evangeliums (Römer 1, 16) Raum lassen, für die wir gar nichts tun können. Reform der Kirche aber bedeutet, sich anstrengen, eine ererbte Gestalt der Kirche am Leben zu erhalten. Reformation heißt Evangelium. Reform aber heißt auch Gesetz mit Forderungen, Bedingungen, Zielvorgaben. Reformation macht frei und fröhlich. Reform legt bei allen guten Absichten Lasten auf unsere Schultern und lässt uns stöhnen.
Gesetz und Evangelium zu unterscheiden, war darum für Luther die höchste Begabung, die der Heilige Geist der Christenheit verleiht. „Wer das Gesetz vom Evangelium zu unterscheiden weiß, der danke Gott und darf wissen, dass er ein Theologe ist“, hat gesagt. Wir können getrost hinzufügen: Er darf Gott danken, dass er ein Christenmensch ist.
Das Problem von uns fehlsamen Christinnen und Christen ist, dass Gottes Liebe zu einer von uns verwalteten Liebe wird, an die sich immer wieder Eisklumpen gesetzlicher Vorschriften hängen, die lähmen, statt zu beflügeln. Beispiele dafür aus dem Leben unserer Kirche kann ich mir wohl sparen. Bei der Einkehr ins Evangelium aber schmelzen diese Eisklumpen. Da werden die „Reformen“ zu etwas Vorletztem mit offenen Toren für den Geist der Menschenliebe Gottes. Da stöhnt die Christenheit nicht. Da geht sie frisch und fröhlich ans Werk, dem Kommen Gottes in unser Leben den Weg zu bereiten. Freude an Gott, wie er uns in Jesus Christus begegnet – das bedeutet, eine reformatorische Kirche zu sein, in welcher das Evangelium der Leitstern aller ihrer Glieder ist.