Kategorie: Vorträge
Nach 25 Jahren. Was bleibt von der Bonhoeffer-Rezeption in der DDR?
Vortrag zum 25-jährigen Bestehen des Bonhoeffer-Freundeskreises Berlin-Brandenburg im Bonhoeffer-Haus Berlin am 16.11.2013
1. Doppelte Bonhoeffer-Rezeption
In den ersten Jahren nach dem politischen Umbruch des Jahres 1989 habe ich eine ganze Reihe von Vorträgen gehalten und von Aufsätzen geschrieben, die sich mit der Bonhoeffer-Rezeption in der DDR befassten. Einer dieser Aufsätze trug den ein bisschen provozierenden Titel: „Dietrich Bonhoeffer als ‚Theologe der DDR‘ – ein kritischer Rückblick“ (in: Die Kirche im Umbruch der Gesellschaft. Tübingen 1994, 163-177). Dazu hatte ich erläutert: „Ich kann mir vorstellen, dass es Menschen, Christen und Theologen gibt, für die diese Themenformulierung etwas Kränkendes oder Verletzendes hat. Denn sie scheint von vornherein sagen zu wollen, dass es mit der Berufung auf Dietrich Bonhoeffer in der DDR nicht seine Ordnung hatte; die Ordnung einer freien, unzweideutigen Aneignung nämlich, die auch heute noch Zukunft hat. Als ‚Theologe der DDR‘ würde er, bzw. das, was von ihm damals aufgenommen wurde, ja mit der DDR stehen und fallen. Da aber die DDR fiel und nicht stand, wäre damit auch hinfällig, was er für viele in der DDR bedeutet hat; mehr noch: Der Versuch, Bonhoeffer für den Weg der Kirche und damit für die Theologie in der DDR in Anspruch zu nehmen, geriete in den Verdacht mindestens untergründiger Unredlichkeit. Denn ‚Bonhoeffer als Theologe der DDR‘ das klingt ja nun wie ein der Macht der DDR angedienter Bonhoeffer, dessen Theologie nur allzu durchsichtig funktionalisiert wurde, um auch die Kirche an die Kette zu legen“.
„Kränken“, habe ich weiter gesagt, „muss ein solches rückblickend erstelltes Szenarium der Bonhoeffer-Rezeption in der DDR aber auch notwendig diejenigen, für die Bonhoeffer existentiell tatsächlich so etwas wie ein Halt gewesen ist. Was sie bei ihm lasen, hat ihnen geholfen, eine unabsehbar schwierige Situation nicht nur auszuhalten, sondern auch zu gestalten und zu reflektieren. Ich war seit Beginn der Gründung des Bonhoeffer-Komitees der DDR im Jahre 1977 in der Leitung dieses Komitees. Die meisten, mit denen ich dort zusammen gewirkt habe, passen in keiner Weise in das gerade grob gezeichnete Bild, obgleich sie da alle in der Erwartung versammelt waren, bei Bonhoeffer etwas ganz besonderes für ihr Christsein und das Kirchesein in der DDR zu entdecken. Wollte ich kennzeichnen, was da alles für Interessen zusammen kamen und was an Einfällen produziert wurde, dann würde eher ein teils buntes, teils wirres Bild entstehen. Das wäre aber immerhin viel charakteristischer für den Umgang mit Dietrich Bonhoeffers Theologie in der DDR als die Vermutung, eine gezielte Funktionalisierung seiner Theologie für die Machtinteressen der DDR habe das Denken und Urteilen beherrscht“.
Die Erklärung für den unschwer zu erhebenden Tatbestand einer großen Aufmerksamkeit auf Dietrich Bonhoeffer ist einfach. Wie in der alten Bundesrepublik, ja wie weltweit, verdankt sich die Breitenwirkung Dietrich Bonhoeffers ganz anderen Impulsen als denjenigen, die in der Theologie und in kirchenpolitischen Zusammenhängen dann eine so auffällige Rolle spielten. In der Gemeindepraxis, in der Predigt, im Unterricht, in der Jugendarbeit usw. war es vor allem der aufrechte Märtyrer für den christlichen Glauben, der beeindruckte: Bonhoeffer in seiner Frömmigkeit, der auf Kalenderblättern und Spruchkarten redete, dessen frisiertes Lied „Von guten Mächten wunderbar umgeben...“ man nach einer lockeren Melodie sang, dessen idealisierte Geschichte man erzählte. Man darf diesen Nährboden der Beschäftigung mit Bonhoeffer nicht als unwesentlich abtun. Aus ihm stammt die Motivation für viele, sich auch theologisch mit Bonhoeffer zu befassen, während ein bloßes theologisch-ideologisches Programm für die DDR-Christenheit sicher gar keine Chance auf eine derartige kirchliche Breitenwirkung gehabt hätte. Die angedeutete Motivation trug im Gegenteil sehr starke Momente einer gesellschaftlichen Desintegration in sich, die durch die vielen Möglichkeiten, an die verschiedenen Denkansätze Bonhoeffers anzuknüpfen, auch theologisch mittransportiert wurde.
Ganz ohne den Einfluss der Macht, ganz ohne einen Bezug zur DDR, wie sie sich selbst verstand, ist das alles aber auch nicht gewesen. Schlaglichtartig kann das daran deutlich werden, dass sich auf meinen Aufsatz hin ein wichtiger Repräsentant der Bonhoeffer-Rezeption in der DDR zu Worte gemeldet und erklärt hat: Ja, er fühle sich gekränkt, wenn ihm unterstellt werde, für Bonhoeffer als „Theologen der DDR“ eingetreten zu sein. Diese Repräsentant war der Sekretär des Leitungsgremiums des Bonhoeffer-Komitees, der Teterower Pfarrer Martin Kuske (vgl. Bonhoeffer-Rundbrief 44, 1994: Dietrich Bonhoeffer in der Wendezeit. Eine persönliche Replik auf W. Krötkes „kritischen Rückblick“). Obwohl Kuske im Fortgang seiner Replik meinen Einschätzungen über den kirchlichen und theologischen Umgang mit Bonhoeffer mehr und mehr zustimmt, führt er den Dissens mit mir doch auf einen Vorgang in der Wendezeit zurück. Die SED wollte ihm nämlich 1989 wegen seiner Funktion als Sekretär des Bonhoeffer-Komitees die Verdienstmedaille der DDR verleihen. Ich war darüber entsetzt und es kam im Vorstand des Komitees zu einer harten Auseinandersetzung, die schließlich damit endete, dass Kuske die Medaille nicht entgegen nahm. An der Festveranstaltung, an der ganzen Massen diese Medaille verliehen wurden, u.a. an allen Professoren und Dozenten der Sektion Theologie der Humboldt-Universität, hat er jedoch teilgenommen. Warum hat er das getan?
Die Bereitschaft, jene Medaille anzunehmen, verdankte sich offenkundig der Überzeugung, dass unser Komitee irgendwie mit dem staatlich beförderten Bonhoeffer-Bild zusammen passt. Bonhoeffer gehörte nämlich zu denen, die als „antifaschistische Widerstandskämpfer“ für die historische Rechtmäßigkeit des Aufbaus des Sozialismus in Anspruch genommen wurden. Bei dem Greifswalder Marxisten Gerhard Winter, der in Bezug auf Bonhoeffer ein besonderes Sprachrohr der Partei war, lesen wir z.B. Sätze wie diese: „Heute führen Christen, die sich dem humanistischen Erbe Dietrich Bonhoeffers verpflichtet fühlen, den Kampf dieses Mannes unter neuartigen Bedingungen mit gleicher Entschiedenheit fort“ (Dietrich Bonhoeffer - Kämpfer gegen Krieg und Faschismus, in: Beiträge zur Geschichte der Humboldt-Universität Nr.5, Berlin 1981, 1). Oder: „Bonhoeffers Kampf wird fortgeführt, wenn die christlichen Mitbürger, die wie alle anderen in der DDR Sicherheit und Geborgenheit finden, die auf Frieden, Entspannung und das Wohl des Volkes ausgerichtete Politik unseres Staates unterstützen“ 17).
Man muss solche Aussagen durchaus so hören, dass sie nicht einfach selbstverständlich waren. Denn die DDR-Ideologen haben nicht ohne weiteres einen jeden in die Reihe ihrer für sich beanspruchten Vorkämpfer aufgenommen, der im Widerstand gegen Hitler stand. Insbesondere zu den Verschwörern des 20. Juli 1944 hatte man einen ziemlich großen und auch immer wieder betonten Abstand. Des 20. Juli ist überhaupt nie in offiziellen Akten gedacht worden. An Gedenktagen für Dietrich Bonhoeffer aber wurden auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof von Funktionären riesengroße Kränze niedergelegt. Diese positive Würdigung Bonhoeffers überrascht heute viele, wo doch der 20. Juli 1944 in der DDR als ein reaktionärer Putsch galt, der – wie die marxistische Geschichtsschreibung in ihrer Weisheit wusste – mit „historischer Notwendigkeit“ zum Scheitern verurteilt war, weil er nicht den Interessen der Arbeiterklasse diente. Bonhoeffer aber wurde in den Kreis der kommunistischen „Widerstandskämpfer“ aufgenommen – wie die Gedenkwand von Johanna Jura aus dem Jahre 1976 mit der Aufschrift „Dem im Kampf gegen den Hitlerfaschismus Gefallenen. Ihr Tod ist uns Verpflichtung“ noch heute im Hof der Berliner Humboldt-Universität dokumentiert.
Dass Bonhoeffers Tod den Erbauern des Sozialismus in der DDR „Verpflichtung“ sei, ist allerdings ein Pleonasmus, der sich nicht von Anfang an von selbst verstand. Man kann das noch daran ablesen kann, dass in den 50er bis 70er Jahren ganz wenige von Bonhoeffers Schriften in der DDR veröffentlicht werden durften. Um die Veröffentlichung von „Widerstand und Ergebung“ im Jahre 1957 gab es große Auseinandersetzungen hinter den Kulissen. Der Leipziger Zensor Christoph Haufe hatte schwere Bedenken dagegen geltend gemacht. „Widerstand und Ergebung“ könne auch als Devise für „Widerstand und Ergebung“ von Christen in der DDR verstanden werden, hat er gemeint. Doch damit hat er sich nicht durchgesetzt (vgl. zu dem ganzen Vorgang meinen Aufsatz: „Der zensierte Bonhoeffer. Zu einem schwierigen Kapitel der Theologiegeschichte in der DDR“, ZThK 92 1995, 329-356). Für die „Ethik“ und insbesondere für die „Gesammelten Schriften“ aber ist nie eine Druckerlaubnis erteilt worden. Erst die neue Bonhoeffer-Werkausgabe, die auch in der DDR erscheinen sollte, versprach Ende der 80er Jahre die Zulassung des ganzen Werkes Bonhoeffers. Aber da war Bonhoeffer schon in die im ganzen außergewöhnliche Position eines den Kommunisten nahestehenden „Widerstandskämpfers“ gehoben worden, von dessen Zielen kühn behauptet wurde, sie seien oder würden in der DDR verwirklicht. Den Gesprächsfaden zu den Mächtigen in der DDR, der sich dadurch ergab, wollte unser Sekretär des Komitees offenkundig pflegen, obwohl er wahrlich nicht blind dafür war, wie künstlich der gesponnen war.
Denn nüchtern gesehen muss man sagen: Auf Bonhoeffer als Wegbereiter des DDR-Sozialismus konnte auch ein noch so wohlwollender Marxist selbst bei intensivstem Studium Bonhoeffers im Ernst kaum von sich aus kommen. Diese Lesart ist – das lässt sich leicht belegen – vielmehr eine theologische, das heißt von Theologen vorbereitete Behauptung. Wir müssen einen kurzen Blick darauf werden, wie diese Vorbereitung aussah.
2. Mit Bonhoeffer für die marxistisch-leninistische Weltanschauung
Bei der Frage, wie die SED auf die Idee kommen konnte, Bonhoeffer als Vorbereiter des DDR-Sozialismus zu verstehen, spielt ein in den fünfziger Jahren aus Göttingen in die DDR gekommener Theologe eine nicht unwichtige Rolle. Sein Name war Hanfried Müller. Er machte an der Theologischen Fakultät, der späteren Sektion Theologie der Humboldt-Universität ziemlich rasch Karriere und wurde Professor für systematische Theologie (vgl. hierzu meine Darstellung in: Die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin 1945-2010, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810-2010, Band 6: Selbstbehauptung einer Vision, Berlin 2010, 47-87). Ihm ist auch im Westen ziemlich große Aufmerksamkeit zuteil geworden. Denn aus seiner Feder stammt die erste Gesamtdarstellung der Theologie Dietrich Bonhoeffers. Sie trägt den Titel: „Von der Kirche zur Welt“ (Halle 1961).
Müller hat aus Bonhoeffers Entwicklung, wie er sie sah, geschlussfolgert, dass die Aufgabe der Kirche in der Welt die Aneignung einer religionslosen, wissenschaftlichen Weltanschauung wie die des Marxismus-Leninismus inklusive des Atheismus sei. Die Richtigkeit dieser Weltanschauung sei objektiv bewiesen. Aller kirchlicher oder im Glauben begründete Anspruch, die Welt zu gestalten, wird von daher als Versuch gewertet, eine religiöse Herrschaft über die Welt aufzurichten. Mit dem Kreuz Jesu Christi sei es unvereinbar, dass die Kirche als Kirche öffentlich-politisch redet. Eine „christliche Ethik“ gilt als „natürliche Theologie“, das heißt nach Müller, eine Herrschaftsanmaßung gegenüber der Welt. Was bleibt dann der Kirche zu tun? Antwort: Sie hat Buße zu tun und zwar angesichts ihrer Herrschaftsanmaßung ohne Unterlass. Wie soll sie und wie sollen die Christen dann in der Welt leben, wenn dem Marxismus-Leninismus in jeder Hinsicht „augenscheinliche Richtigkeit“ bestätigt wird? Antwort: Sie glaubt und lebt „gegen den Augenschein“. So bleibt sie wahre, rechte Kirche allein aus dem Glauben.
Man hat, wenn man diese Aufstellungen liest, tatsächlich Mühe, hinterher wieder den Knoten aus dem Kopf zu bekommen und man ist froh, nicht in der Haut eines Menschen stecken zu müssen, der so etwas auch noch leben muss. Es kann darum nicht genug verwundern, dass tatsächlich der Versuch unternommen wurde, mit dieser kniffligen Absurdität die Kirche zu beeinflussen. Müller hat dieses Anliegen als IM der Stasi „Hans Meier“ mit großem Eifer verfolgt. Die, wie er selbst bekannt hat, mit Hilfe der Stasi angefertigten „Weißenseeer Blätter“ waren sein Organ. Aus der Sicht sehr vieler in der Kirche aber war hier ein Punkt erreicht, an dem die Berufung auf Bonhoeffer in verächtlichen Obskurantismus umschlug.
Vielleicht hat es eben deshalb keine wirklich intensive Auseinandersetzung mit dieser Berliner Bonhoeffer-Auslegung gegeben, obwohl sie für das Bonhoeffer-Bild des SED-Staates Schrittmacherdienste geleistet hat. Man hat sie gar nicht richtig ernst genommen. Meine Besprechung von Müllers „Evangelischer Dogmatik im Überblick“ aus dem Jahre 1980 in den „Zeichen der Zeit“ ist so weit ich sehe die einzige in der DDR veröffentlichte umfängliche Auseinandersetzung mit dem ganzen Konzept geblieben („‘Christliche Glaubenslehre‘“ und „‘Evangelische Dogmatik‘. Der Umgang mit dem Problem der ‚natürlichen Theologie‘ bei Hans-Georg Fritzsche und Hanfried Müller“, ZdZ 34 1980, 16-30). Und das war auch nur möglich, weil die „Zeichen der Zeit“ nicht der Zensur durch das Amt für Literatur unterlagen, sondern dem Amt für Pressewesen, das nicht so genau auf theologisch eingepackte Gedankengänge achtete. Die Zensur des Amtes für Literatur in systematisch-theologischen Sachen war dagegen fest in der Hand von Rosemarie Müller-Streisand, der Ehefrau von Hanfried Müller, und die hätte diese Besprechung bestimmt nicht passieren lassen.
Wenn wir nach der Bonhoeffer-Rezeption in der DDR fragen, dann ist überhaupt zu berücksichtigen, dass diese Rezeption wegen der Zensur nur teilweise an dem abzulesen ist, was in der DDR veröffentlicht wurde. Das gilt z.B. auch für die „Bonhoeffer-Studien“, die ich im Jahre 1985 zusammen mit Albrecht Schönherr bei der Evangelischen Verlagsanstalt herausgegeben habe vgl. „Bonhoeffer-Studien. Beiträge zur Theologie und Wirkungsgeschichte Dietrich Bonhoeffers. Im Auftrage des Bonhoeffer-Komitees beim Bund der Evangelischen Kirche in der DDR, hg. von A.Schönherr, und W.Krötke, Berlin 1985). Das Ziel dieser Studien war, die gewisse Breite der Bonhoeffer-Rezeption in der DDR und auch in anderen sozialistischen Ländern zu spiegeln. Dazu gehörten dann auch Beiträge von jener Berliner Lesart, die nicht zu berücksichtigen als untunlich für das ganze Unternehmen galt. Auch Müller und Vertreter seiner coleur sind darin zu vernehmen. Alle anderen Beiträge aber mussten, nachdem Frau Müller-Streisand die Zensurschere angesetzt hatte, mehrere Male umgeschrieben werden. Den Beitrag von Martin Uhle-Wettler über „Bleibende Impulse Dietrich Bonhoeffers für das heutige Fragen nach Gott“, in: Bonhoeffer-Studien, 61ff.) habe ich am Ende sogar zur Hälfte selbst geschrieben, nachdem der Autor sich mit sachlichem Recht weigerte, noch ein drittes Mal in seinen Text einzugreifen. Der anderen wissenschaftlichen Unmöglichkeiten wie versteckten Zitaten, verborgenen Andeutungen und dergleichen will ich geschweigen. Es galt eben, auch unter solchen Bedingungen das größtmögliche Maß an Unabhängigkeit durchzusetzen. Für Außenstehende ist es heute darum gar nicht so leicht, derartige Texte so zu lesen, dass die Meinung ihrer Autoren durch verschwommen wirkende Formulierungen, mit denen der Zensur Rechnung getragen wurde, vernommen werden kann.
3. Die Inanspruchnahme Dietrich Bonhoeffers für die „Kirche im Sozialismus“
Albrecht Schönherr, der erste Vorsitzende des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, hat in seiner Biographie gesagt, es sei ein Fehler gewesen, sich für diesen Bund der Formel von der „Kirche im Sozialismus“ zu bedienen („...aber die Zeit war nicht verloren“, Berlin 1993). Denn das hätte das Missverständnis provoziert, die Kirche wolle sich auch in der sozialistischen Weltanschauung und Machtausübung positionieren. Zu diesem Missverständnis hat Schönherr allerdings auch selbst beigetragen, indem er Bonhoeffers Theologie der Gefängnisbriefe in Anspruch nahm, um die Evangelischen Kirchen spezifisch auf das Leben dieser Gesellschaft einzustellen und für die Aufgaben zu rüsten, vor denen sie hier standen. Entscheidend war dabei nach Schönherrs eigener Darstellung in der DDR-Zeit Bonhoeffers positive theologische Bewertung der „Religionslosigkeit“ in den Gefängnisbriefen.
Bezog man diese Bewertung auf die massenhafte Religionslosigkeit, wie sie in der DDR mit staatlicher Macht befördert wurde, dann musste das nicht als eigentlich als gegen die Kirche gerichtet verstanden werden. Es war nur eine Wendung gegen eine bestimmte Form des Glaubens, nämlich gegen die „Religion“, sofern sie in „Innerlichkeit“, „Apologetik“ und „Metaphysik“ verstrickt ist. Demgegenüber dürfte sich die Kirche nicht ängstlich in „Rückzugsgefechte“ verstricken, sondern sie habe zu erkennen, dass Christus auch der Herr der „Religionslosen“ ist, die ihre Weltverantwortung nun so wahrnahmen, dass sie den Sozialismus aufbauen. Das ist der Grundtenor schon der „Sieben Sätze“ des Weißenseeer Arbeitskreises mit dem Titel „Von der Freiheit der Kirche zum Dienen“ von 1963. Sie wurden den 10 Artikeln über „Freiheit und Dienst der Kirche“ entgegen gesetzt, denen mit ihrer Kritik an der Machtausübung der SED eben ein solches „Rückzugsgefecht“ vorgeworfen wurde. Der Grundtext der „Sieben Sätze“ stammt freilich von Hanfried Müller, der sie sorgfältig mit der Stasi beraten hat. Insofern verzahnen sich hier die guten Absichten von Theologen der Kirche, dem Sozialismus das Beste abzugewinnen, auf konspirativem Wege mit staatlichen Machtinteressen.
Was Schönherr von Bonhoeffer her dem Sozialismus Gutes zubilligen wollte, das auch der Kirche zu Gute kommt kann man seinem Aufsatz von 1975 „Impulse aus der Theologie Bonhoeffers für den Weg der Christen in der sozialistischen Gesellschaft der Deutschen demokratischen Republik“ (Theologische Versuche VI) entnehmen. Dort wird dieses Gute so beschrieben:
Erstens: Der sozialistische Staat mit seinem Totalanspruch auf die Macht in allen Bereichen des Lebens der Gesellschaft kann als Befreiung der Kirche von eigenen Machtansprüchen und gesellschaftlichen Privilegien verstanden werden. Seine radikale Klärung der Machtfrage hilft der Kirche, „allein ihren Herrn regieren (zu) lassen und auf alles eigene Regieren (zu) verzichten“(126). Sogar das vielbesprochene „Wächteramt“ steht der Kirche im Blick auf den Staat eigentlich nicht zu (vgl. 127Zweitens: Der historische und dialektische Materialismus ist als „militante Mündigkeitserklärung der Welt durch sich selbst und damit gerade als 'hoffnungsvolle Gottlosigkeit' zu interpretieren“ (143). Hoffnungsvoll ist er, weil ihm die Vorstellung des Aufbaus einer gerechten Gesellschaft zugrunde liegt. Am Aufbau dieser Gesellschaft als „Gestalt gerechteren Zusammenlebens“ können, ja müssen sich die Christen in „mündiger Mitarbeit“ beteiligen, wenn sie ernst nehmen, dass Christus die Gestaltung einer solchen Welt durch seinen Kreuzestod freigegeben hat.
Zweitens: Die Kirche ist kein „Rückzugsort“ aus der Gesellschaft, sondern „Kirche für andere“. Sie lebt in „Solidarität“ mit den anderen, sprich: Mit den Menschen, die als Religionslose den Sozialismus aufbauen. In diesem Sinne ist die Kirche für andere „nicht Kirche neben, nicht gegen, sondern im Sozialismus“.
Drittens: Die Kirche kann in dieser Gesellschaft ohne alle Angst um sich selbst sein, indem sie sich auf Jesus Christus konzentriert, der als Gekreuzigter der Herr der ganzen Welt ist und bleibt.
Schönherr hat das Ergebnis seiner Schilderung der Impulse Bonhoeffers für die „Kirche im Sozialismus in dem Satz zusammengefasst: Bonhoeffer ist „dabeigewesen, als es galt, den Weg in einer ungewohnten Umgebung, der sozialistischen Gesellschaft der DDR, zu finden“(152). Ist er dabeigewesen?
Schon damals haben viele in unserem Komitee, aber auch anderswo in Kirche und Gemeinde gefragt, ob die Identifizierung der Bonhoefferschen theologischen Denkfiguren mit der Realität des Staates, der Gesellschaft und der Weltanschauung der DDR überhaupt legitim sei. Konnte man von Bonhoeffer her überhaupt auf den Gedanken kommen, der „real existierende Sozialismus“ sei die „mündige Welt“, der militante Atheismus die „hoffnungsvolle Gottlosigkeit“ und der Aufbau des Sozialismus das „Tun des Gerechten“? War die Behauptung nicht richtig gruselig, die totale Machtausübung des Staates befreie die Kirche? Denn die Rede vom freiwilligen Verzicht auf Macht und Privilegien rieb sich mit der Macht, die gegenüber den Gemeinden und den einzelnen Christinnen und Christen das Unrecht nicht scheute. Das starre System der verfestigten Weltanschauung beförderte nicht die Mündigkeit, sondern im Gegenteil die Unmündigkeit. Und die „anderen“, für die die Kirche tagtäglich dazusein hatte, waren nicht die, die beim Aufbau des Sozialismus vorangingen.
Die andauernden schweren Probleme, die Christinnen, Christen und Nichtchristen mit dem Staat hatten, brachten von der Basis her eine ständige Gegenbewegung in das Bild von der „Kirche im Sozialismus“, die ihrerseits in diesem Bilde auch irgendwie untergebracht werden musste. Das schien möglich, weil durch die Formel zugleich so etwas wie eine gewisse Berechtigung der Kirche begründet war, in Sachen „Sozialismus“ mitzureden. Denn es nicht richtig, dass die Formel „Kirche im Sozialismus“ nur eine formale Ortsangabe für die Existenz der Kirche in der sozialistischen Gesellschaft war. Gerade mit jenen Bonhoefferschen Kategorien war „Sozialismus“ in dieser Formel auch theologisch qualifiziert, nämlich als eine Chance und Verheißung für das rechte Kirchesein. Was scheinbar gegen die Kirche gerichtet war, wurde als ihr in Wahrheit zugutekommend entdeckt. Darum wurde in Kirchen und Gemeinden darüber diskutiert, wie der Sozialismus besser, menschlicher ins Werk gesetzt werden kann.
Das jedoch war ganz und gar nicht im Sinne des Staates mit seinem Alleininterpretationsanspruch der Ideologie. Der „Sozialismus“ sollte in der Kirche ja gerade nicht der freien Interpretation anheimgegeben, sondern einfach akzeptiert werden. Es löste darum größte staatliche Besorgnis aus, als Heino Falcke 1972 auf der Bundessynode von Dresden Bonhoeffers Rede von der „Kirche für andere“ mit der Vorstellung von einem „verbesserlichen Sozialismus“ in Beziehung brachte (vgl. „Christus befreit – darum Kirche für andere“, in: Zum politischen Auftrag der christlichen Gemeinde, Barmen II, hg. von A. Burgsmüller, Gütersloh 1974, 226f.). Eine solche Vorstellung war für die Partei im Grunde noch gefährlicher als die offene Feindschaft des „Klassenfeindes“. Sie wurde als besonders raffiniertes, verborgenes Werk des Klassenfeindes angesehen, dem entgegenzuwirken war. Falckes Vortrag durfte in der DDR nicht veröffentlicht werden.
Deshalb war man auch damit sehr einverstanden, dass die Kirche nicht sagte, sie sei „für den Sozialismus“. Dennoch war es unvermeidlich, dass der unter solchen Kategorien wie „Gerechtigkeit“, „Mündigkeit“ und „Redlichkeit des Denkens“ verortete Sozialismus ausdauernd auf seine Verbesserlichkeit hin befragt wurde, sogar dann noch, als er sich schon selbst aufgegeben hatte. Man kann deshalb das Selbstverständnis der „Kirche im Sozialismus“ nicht einfach als Ausdruck der Anpassung an die bestehenden Verhältnisse werten. Gerade mit dem Hintergrund der Berufung auf Bonhoeffer war es ein Selbstverständnis, durch das sich die Kirche dem Staat auch immer wieder entzog und den Sozialismus drängte, das zu werden, um dessentwillen man „in ihm“ sein wollte.
4. Was bleibt
Wer die DDR-Zeit noch miterlebt hat, kann nach dem Gesagten vielleicht den Eindruck gewinnen, dass ich den Ton zu stark auf die kirchenpolitische und politische Beanspruchung Bonhoeffers in der DDR gelegt habe. Wenn wir darauf blicken, dann bleibt in der Tat nicht viel von der Bonhoeffer-Rezeption in der DDR, was uns heute in unserem Leben als Christinnen und Christen, als Gemeinde und Kirche orientieren kann. Es wäre bloß historisch, merkwürdig historisch sogar wie die fehlerhafte Gedenktafel an der Berliner Zionskirche, die mit Unterstützung der Ost-CDU, 1959 zunächst an der äußeren westlichen Sakristei und 1983 dann an der Eingangstür angebracht wurde. Die Sophiengemeinde diskutiert, ob sie diese Tafel als Zeugnis einer oberflächlichen Bonhoeffer-Rezeption in der DDR hängen lassen oder lieber abhängen soll.
Vergleichsweise können wir darüber reden, ob die Beanspruchung Bonhoeffers für den Weg der Kirche, aber auch der Gemeinden und den Lebensweg vieler Christinnen und Christen in der DDR „abzuhängen“, abzuhaken ist. Es gibt Stimmen aus westlicher Richtung, die das so sehen. Denn die ganze Bonhoeffer-Rezeption in der DDR habe auf dem Irrtum Bonhoeffers beruht, dass wir „einer völlig religionslosen Zeit entgegen gehen“. Die Kirche habe sich darum auf dem Holzweg befunden habe, als sie der machtvoll inszenierten Religionslosigkeit in der DDR so viel Kredit gegeben hat.
Albrecht Schönherr, dem zweifelsohne das größte Verdienst um die Verbreitung der Kenntnis des Lebens und Denkens Dietrich Bonhoeffers in der DDR zukommt, hat sich gegenüber diesem Vorwurf mit einem Bonhoeffer-Zitat gewehrt, unter das er seine Biographie gestellt hat. Es heißt: „…aber die Zeit war nicht verloren“. Dieses Zitat ist der Rechenschaft Bonhoeffers „Nach zehn Jahren“ an der Wende zum Jahre 1943 entnommen. Es lautet vollständig:
„Zehn Jahre sind im Leben jedes Menschen eine lange Zeit. Da die Zeit das kostbarste, weil unwiderbringlichste Gut ist, über das wir verfügen, beunruhigt uns bei jedem Rückblick der Gedanke etwa verlorener Zeit. Verloren wäre die Zeit, in der wir nicht als Menschen gelebt, Erfahrungen gemacht, gelernt, geschaffen, genossen und gelitten hätten. Verlorene Zeit ist unausgefüllte, leere Zeit. Das sind die vergangenen Jahre gewiß nicht gewesen. Vieles, Unermeßliches haben wir verloren, aber die Zeit war nicht verloren“ (Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, DBW 8, 11)
Die Verschiebung des Sinnes dieser Passage in ihrer Beanspruchung durch Schönherr ist klar. Bonhoeffer betrauert das, was verloren ging: die eine Kirche der Wahrheit und der politische Verhältnisse, in denen Menschen ihres Lebens sicher sein konnten. Er leidet unter dem Verlust der Redefreiheit und der Veröffentlichungsfreiheit, unter dem Verheimlichen, unter der Unmöglichkeit seinen Beruf auszuüben, unter der Enttäuschung über Freunde, eben unter allem, was ihn in dieser Rechenschaft fragen lässt, ob Menschen, die das erlebt haben und „mit vielen Wassern gewaschen“ sind, überhaupt für die Zukunft „noch brauchbar“ sind (Widerstand und Ergebung, 27). Hier ging verloren, was nicht verloren gehen sollte und durfte. Darum wird diesen Erfahrungen der Gewinn des eigenen Erlebens, der in einer Stabilisierung der eigenen Menschlichkeit im Glauben an Jesus Christus besteht, entgegengesetzt.
So aber meint es Schönherr in jenen von ihm zitierten Halbsatz aber nun gerade nicht. Was mit der DDR als Staats- und Gesellschaftssystem und damit an Zumutung für das Leben der Menschen und der Kirche verloren ging, ist ja nüchtern betrachtet nicht ernstlich zu betrauern. Zu betrauern wäre allenfalls, dass all die Zeit, die darauf verwendet wurde, die Kirche spezifisch auf die sozialistischen Verhältnisse einzustellen, wie vertane Zeit aussieht. Sie wurde für ein vergebliches Bemühen und nicht wie bei Bonhoeffer für ein gerechtfertigtes Bemühen um andere politische und kirchliche Verhältnisse eingesetzt. Demgegenüber will Schönherr sagen: Was die Kirche in den DDR-Zeiten geworden ist, ist deshalb keine verlorene Zeit, weil es auch unabhängig von den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen ein Zukunftspotential für die Kirche unter den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen in sich trägt. Bei ihm muss man Bonhoeffers Satz also so hören: „Vieles haben wir gewonnen, darum war die Zeit nicht verloren“.
Dieses Gewonnene wird freilich recht vage beschrieben. Schönherr sagt, wir sollten eine verbindliche, kritische und wahrhaftige Kirche sein und bleiben (vgl. „...aber die Zeit“, 419). Hintergrund dieser Aussage, der in ihrer Allgemeinheit ja jeder gerne zustimmen wird, ist jedoch, dass sich mindestens in einer Hinsicht die Situation der Kirche heute gegenüber ihrem Dransein in der DDR nicht geändert hat. Die Kirche im Osten Deutschlands lebt als gesellschaftliche Minderheit unter Menschen, die zu ihrem weitaus größten Teil (ca 80 % der Bevölkerung) dem Glauben und beiden Kirchen fundamental entfremdet sind. Nach den Erfahrungen der nun schon beinahe 25 Jahre nach der „friedlichen Revolution“ ist es nach menschlichem Ermessen unwahrscheinlich, dass sich das in absehbarer Zeit grundlegend ändern wird. Das Leben ohne Gott, das man sich in der DDR nicht bloß unter dem Druck der SED, sondern auch leicht und locker angewöhnt hat, ist zu einer machtvollen Gewohnheit geworden, in der die Verkündigung der Kirche und das Leben der Gemeinde keinen Ort zu finden vermögen. Für dieses Dransein der der Kirche spielt der Wechsel der politischen Systeme eigentlich keine grundlegende Rolle. Denn in der DDR wie heute bleibt die massenhafte atheistische Konfessionslosigkeit, wie es heute heißt, die entscheidende Herausforderung für die Kirche und für das Leben der Christenheit in unseren Breiten. Angesichts dessen nicht zu resignieren, ist damals wie heute die starke Ermutigung, die von Bonhoeffers Texten und dem Zeugnis seines Lebens für uns ausgeht.
Auf diese Ermutigung trifft man in den Zeugnissen der Bonhoeffer-Rezeption in der DDR auch und gerade unabhängig vom Griff der Staatsmacht nach dem Namen Dietrich Bonhoeffers in großer Breite. In den Gemeinden, in den Freundeskreisen, in den Seminaren an den Kirchlichen Hochschulen, mit Einschränkungen auch in ein paar Dissertationen an den Universitäten, im konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung wurde Bonhoeffer nicht als Legitimierung für die Mächtigen, sondern als Eröffnung einer Perspektive für eine Minderheit in der Gesellschaft rezipiert, die es dennoch wagen konnte, eine große Perspektive für die Menschheit zu haben. Es war deshalb auch kein Zufall, dass politische Oppositionsgruppen und Kreise, die sich in den 80ger Jahren unter dem Dach der Kirche ausbildeten oder dorthin kamen, sich mit Bonhoeffer relativ am unkompliziertesten klarmachen konnten, worum es in der Kirche ging. In den Friedensandachten am Ende der achtziger Jahre waren Bonhoeffers Texte als Stimme einer Kirche lebendig präsent, in der sich der Glaube an Gott selbstverständlich mit dem Eintreten für eine wirklich freie, mündige Gesellschaft verbindet.
Ich darf mit einer für das Aufarbeiten der Bonhoeffer-Rezeption nicht ganz nebensächlichen Bemerkung schließen. Denn die Frage, was von dieser Rezeption bleibt, ist natürlich auch die Frage an einen, der zu dieser Rezeption eine ganze Menge beigetragen hat. Ich habe darum Vorträge und Aufsätze hervor gekramt, die ich in der DDR-Zeit verfasst habe. Dabei musste ich freilich mit Erschrecken feststellen, dass eine nicht geringe Bedrohung für meine Bonhoeffer-Rezeption in der DDR von – „Ormig“ ausgeht. Die Vervielfältigung meiner Texte mit diesem System ist nämlich nach weit mehr als 25 Jahren drauf und dran, definitiv zu verblassen. Was ich aber noch lesen konnte, war so, dass ich es Ihnen auch heute als Orientierung für ein christliches Leben in einem „religionslosen“ Umfeld ohne Bedenken vortragen könnte.