Kategorie: Vorträge
Dietrich Bonhoeffers Verständnis des Staates. Theologische Begründung - Praktische Konsequenzen - Rezeption in Ost und West
Vortrag auf der XI. Internationalen Bonhoefferkonferenz am 29.06.2012 in Sigtuna (Schweden)
1. Bonhoeffers Staatsverständnis – Stolperstein für die Bonhoeffer-Rezeption?
Im vorigen Jahr ist eine deutsche Übersetzung des Bonhoeffer-Buches von Anna Morawska erschienen. Es trägt im Polnischen den Titel: „Ein Christ im Dritten Reich“ (Anna Morawska, Dietrich Bonhoeffer. Ein Christ im Dritten Reich. Aus dem Polnischen übertragen von Winfried Lipscher. Mit einem Vorwort von Tadeusz Mazowiecki, Münster 2011). Dieses Buch ist schon vor über 40 Jahren geschrieben worden. Es ist in Deutschland und weltweit – mit einigen Ausnahmen – aber ziemlich unbeachtet geblieben. Denn es lag bisher nur in polnischer Sprache vor. Dass es jetzt über die Grenzen Polens hinaus bekannt wird, ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Wie der ehemalige polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki in einem Vorwort schreibt, gehört es in die Geschichte „der um die Freiheit in Polen kämpfenden demokratischen Opposition“ hinein (a.a.O., 8). Diese Opposition hat bekanntlich das Ende der sozialistischen Diktaturen in Europa eingeläutet. Mit Erstaunen erfahren sehr Viele erst jetzt, dass ausgerechnet ein Deutscher in der polnischen Demokratiebewegung eine wichtige Rolle gespielt hat.
Was im Hinblick auf unser Thema nicht weniger erstaunt, ist, dass Bonhoeffer hier für die Errichtung eines demokratischen Staatswesens in Anspruch genommen wird. Denn das scheint in deutlichem Widerspruch zu dem zu stehen, wie Bonhoeffer selbst den Staat theologisch begründete, und zu dem, wie er sich nach dem Ende der Nazi-Herrschaft einen deutschen Staat vorgestellt hat. Denn das können wir gleich zu Beginn unseres Nachdenkens über Bonhoeffers Staatsverständnis vorweg nehmen: Sein Ideal eines Staates war der Obrigkeitsstaat, der von Gott und nicht vom Volke, „von oben“ und nicht „von unten“, gegeben und legitimiert ist. Wie ist es darum zu erklären, dass Bonhoeffer nicht bloß in Polen zu einem Begleiter auf dem Wege zur Demokratie wurde?
Zur Einstimmung auf diese Frage verweilen wir noch einen Moment lang bei Anna Morawkas Bonhoeffer-Interpretation! Mit den Augen einer Polin gesehen hat Bonhoeffer in einem Land gelebt, das durch einen intensiven „Kult der Obrigkeit“ geprägt war (a.a.O., 152). Ein geradezu „krankhaftes Verlangen nach vollkommener Ordnung“ sei regelrecht die deutsche „Mentalität“ durch Jahrhunderte hindurch gewesen. Sie habe sich sowohl im geistigen Streben nach „verschlungenen Abstraktionen“ wie im politischen Bedürfnis nach „formalistischer Machtausübung“ gezeigt. „Unrecht ist besser als Unordnung“, verallgemeinert Morawska ein bisschen ungenau Johann Wolfgang von Goethes Satz (vgl. a.a.O., 157), der im Original lautet: „Ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen als Unordnung ertragen“. Solch ein Satz gilt ihr neben Erinnerungen an Kants und Hegels Staatsverständnis als Beleg für das spezifisch deutsche „Unvermögen“, „dem gesunden Menschenverstand zu folgen“ und der „Wirklichkeit“ ethisch einfühlsam Rechnung zu tragen. Mit „düsterer, bedrohlicher Leidenschaft“ lieben es die Deutschen vielmehr, ihrem „Kult für Rechtsnormen und Machtverhältnisse“ zu frönen und dem ihre ethische Urteilskraft aufzuopfern (vgl. a.a.O., 158). Sie nehmen dabei Meinungen und Praktiken in Kauf, auf man in z.B. in England, in den USA und in Polen nicht erst in den Zeiten des Nationalsozialismus nur mit „Abscheu“ geblickt hat.
Morawska sieht auch Bonhoeffer im Klima jenes „Unvermögens“ der Deutschen befangen. Das erklärt für sie sein Träumen „von einer hierarchischen Ordnung, von einer [...] autoritären, doch würdevollen Obrigkeit und der Pflege der traditionellen Stände“ (a.a.O., 220). Aber das sei für uns heute nicht so wichtig, sagt sie dann (a.a.O., 221). Faszinierend an Bonhoeffer sei vielmehr, wie er im Vollzuge seines Lebens an den Fesseln jenes „deutschen Unvermögen“, in dem er selbst befangen war, gerüttelt habe. Sein Insistieren auf dem konkreten Leben und seinen ethischen Herausforderungen, sein Ringen um eine theologische Würdigung der ihn umgebenden säkularen, „religionslosen“ Welt habe jenes deutsche Unvermögen gewissermaßen überholt. Es weise nach vorne und nicht wie sein Theoretisieren über die „Obrigkeit“ zurück. Es ermutigt zum Widerstand, wo im Namen der Autorität des Staates die Menschenwürde der einzelnen Menschen mit Füßen getreten wird. „Mit Bonhoeffer über Bonhoeffer hinaus“, könnte man darum den Impuls nennen, der von Morwaskas Bonhoeffer-Bild aus auf die polnische Demokratiebewegung eingewirkt hat.
Ich gehe jetzt nicht auf die Urteile Morawkas über die sogenannte „deutsche Mentalität“ und ihre politischen Folgen ein. Derartige Verortungen ganzer Völker unter dem Diktat geistiger und kultureller Prägungen haben immer etwas ziemlich Problematisches. Für unser Thema bedeutsamer ist etwas anderes. Morawkas Bonhoeffer-Deutung läuft deutlich darauf hinaus, dass Bonhoeffers Lebenspraxis sein Verständnis des Staates und damit auch die Theologie, die ihr zugrunde liegt, eigentlich marginalisiert habe. Wenn wir uns die weltweite Bonhoeffer-Rezeption ansehen, dann stimmt sie durchaus mit einem Trend zusammen, der – wie ein Überblick über die Bonhoeffer-Rezeption in der Zeitschrift „Evangelische Theologie“ aus dem Jahre 2007 bestätigt (vgl. Bonhoeffer-Rezeption, EvTh 67, 2007) – auch sonst zu bemerken ist. So wie Bonhoeffers Theologie rezipiert wird, haben seine theologischen Beurteilungen des Staates bzw. der Obrigkeit keine wesentliche Bedeutung für uns heute. Sie stellen eher einen Stolperstein für die Bonhoeffer-Rezeption von heute dar. Ist das gerechtfertigt?
2. Der Staat als Erhaltungsordnung
Anna Morawska hat zweifellos Recht, wenn sie Bonhoeffers theologisches Verständnis des Staates im Banne der Frage nach „gegebenen Ordnungen“ sieht, die Gott dieser von der Sünde beherrschten Welt verordnet hat. Bonhoeffers erster bemerkenswerter Beitrag zum Staatsverständnis an der Schwelle des Endes der Weimarer Republik und dem Beginn der Hitler-Diktatur aus dem Jahre 1932 rühmt die Ordnung des Staates in fast prophetischem Ton. Von daher spannt sich ein großer Bogen zu seinem letzten Gutachten für die Bekennende Kirche im Jahre 1943. Er hatte es noch vor seiner Verhaftung fertig gestellt. In ihm ermutigte er die Synode der Bekennenden Kirche, die dann erst am 16./17. Oktober 1943 in Breslau stattfand, mitten in einem mörderischen Krieg für eine Ordnung des Staates die Stimme zu erheben, die das 5. Gebot achtet. „Ordnung“ scheint also ein durchgehendes Muster für Bonhoeffers theologisches Verständnis des Staates zu sein. Doch sehen wir etwas genauer hin!
Jener erste größere Beitrag zum theologischen Staatsverständnis Bonhoeffers ist der Vortrag „Dein Reich komme“ vom 19.11.1932. Bonhoeffer fasst hier für eine Gemeinde zusammen, was er zur gleichen Zeit an der Berliner Universität in seiner Vorlesung „Besprechung und Diskussion systematisch-theologischer Neuerscheinungen“ traktierte. Leider ist uns diese Vorlesung nur in einer ziemlich lückenhaften und weitgehend wirren Nachschrift überliefert (Vgl. Vorlesung „Besprechung und Diskussion systematisch-theologischer Neuerscheinungen [Mitschrift], DBW 12, 153-17). Aber so viel ist doch in ihr erkennbar: Das Thema der „Ordnung“, die der Staat in der Welt der Sünde mit Autorität darzustellen und zu schaffen habe, drängte in der Theologie jener unruhigen Zeit einer von Zerreißproben geschüttelten Demokratie massiv nach vorne. Fünf von den acht „theologischen Neuerscheinungen“, die Bonhoeffer in jener Vorlesung besprochen hat (Friedrich Gogarten, Hinrich Knittermeyer, Alfred de Quervain, Wilhelm Stapel, Emil Brunner), kreisen um die Frage, was die Ordnung des Staates theologisch bedeute. Sie wird Bonhoeffer durch die theologische Zunft jener Zeit gewissermaßen aufgedrängt. Er hat aber auf Grund der Prägung seines Denkens durch die reformatorische Theologie auch selbst die Meinung geteilt, dass Gott mit „Ordnungen“ die sündige Welt erhalte und regiere.
In der Parallelvorlesung des Wintersemesters 1932/33, die dann unter dem Titel „Schöpfung und Fall“ gedruckt wurde, wie schon in dem Vortrag „Zur theologischen Begründung der Weltbundarbeit“ vom Juli 1932 wird ansatzweise erkennbar, in welchem Sinne nach seiner Ansicht theologisch von „Ordnungen“ Gottes in dieser Welt zu reden ist (vgl. Schöpfung und Fall, DBW 3, 129f; Zur theologischen Begründung der Weltbundarbeit, DBW 11, 337). Es handelt sich nicht um „Schöpfungsordnungen“, die – um Melanchthon zu zitieren – zur Schöpfung gehören wie „Himmel, Erde, Sonne, Mond und Sterne“ (ApolCA VII/50, 246,43ff.). Es sind auch keine „Sündenordnungen“, die bloße Gewaltausübung zur Eindämmung der Sünde in der Welt legitimieren (vgl. Bonhoeffers Auseinandersetzung mit der „Politischen Ethik“ von Friedrich Gogarten: DBW 12, 162-168). Bonhoeffer hat das Thema der „Ordnungen“ vielmehr von Anfang an in einen christologischen Bezug gestellt. Sie sind im Lichte Jesu Christi als „Erhaltungsordnungen“ zu verstehen, die von „Christus her“ „ihren Wert“ gewinnen (Weltbundarbeit, DBW 11, 337). Nur „um ihrer Offenheit für das Evangelium“ willen gelten sie. Nur „wenn in einer Ordnung noch Evangelium gehört werden kann“, verdient sie „Erhaltungsordnung“ zu heißen (Thesen: Erkennbarkeit der Schöpfungsordnung, DBW 11, 237).
In jenem Gemeindevortrag am Ende des Jahres 1932 hat Bonhoeffer dann die Gelegenheit ergriffen, ein Gesamtkonzept des Verhältnisses von Kirche und staatlicher Ordnung zu entwerfen. Er redet hier beeindruckend schwungvoll, originell und ziemlich ungeschützt vor Einwänden. Vor allem aber ist dieser Vortrag bedeutungsvoll, weil er im deutschen Raum – soweit ich sehe – den ersten gesammelten Versuch darstellt, das Thema der Ordnung des Staates christologisch einzubinden. Darüber hinaus sind in ihm die besonderen Zuspitzungen der Staatsthematik zu erkennen, die für Bonhoeffer zeitlebens charakteristisch bleiben werden.
Das Grundmuster seiner Argumentation lässt Bonhoeffer sich in jenem Vortrag von der 2. Bitte des Vaterunsers „Dein Reich komme“ vorgeben. Er versteht dieses Reich als das „Reich des Christus“, das in den ob der Sünde der Menschheit „verfluchten Acker“ der Erde „von oben [...] hineingesenkt“ ist (Dein Reich komme. Das Gebet der Gemeinde um Gottes Reich auf Erden, DBW 12, 268). Es durchbricht die Mächte, welche die Welt der Sünde beherrschen. Bonhoeffer nennt sie: Das Sterben, das Alleinsein und den „Durst“ der Selbstsucht. Sie werden im Wunder der Auferstehung Jesu Christi durchbrochen. Doch die Auferstehung Jesu Christi hat dennoch mit dieser Sündenwelt nicht einfach Schluss gemacht. Sie wird vielmehr zugleich bejaht und erhalten. Christi Reich begründet deshalb auch das „Reich der Ordnung“ „mit ihren Gesetzen, Gemeinschaften und ihrer Geschichte“. Es begründet den Staat, welcher die Gewalt des Todes aufhält; welcher entgegen dem Alleinsein die „Ordnungen der Gemeinschaften, Ehe, Familie, Volk“ erhält und welcher den Durst der Eigensucht „bändigt“. Darum gilt: „Das Wunder und die Ordnung, das sind die beiden Gestalten, in denen sich das Reich Gottes auf der Erde darstellt“ (a.a.O., 273). In der Kirche bezeugt es sich als Wunder und im Staat bezeugt es sich als Ordnung. Bonhoeffer kann auch sagen: Das Reich Gottes nimmt in der Kirche und im Staat „Gestalt“ an (ebd).
Martin Luther hätte das sicherlich nicht unterschreiben können. Kann die Zwangsmacht des Staates mit ihrer „Schwertgewalt“ eine „Gestalt des Reiches Christi“, des gewaltlosen Reiches der Liebe, sein? Ist das nicht eine unheilvolle Vermischung der beiden Regimente und oder Reiche des Schöpfers und Erlösers, mit denen Gott die Welt regiert? Bonhoeffer war wohl bewusst, auf welchem heiklen Terrain er sich hier auch im Chor lutherischer Theologien seiner Zeit bewegte. Staat und Kirche dürfen nie ein „Ineinander“ werden, beteuert er darum (a.a.O., 275). Sie begrenzen sich gegenseitig und sind deshalb streng zu unterscheiden. Dass der Staat eine „Gestalt“ des Reiches Christi ist, sei an der Art und Weise, wie er in der „Welt des Fluches“ sein Amt mit Gewalt wahrnimmt, auch überhaupt nicht zu erkennen. Das „Wunder“ der Durchbrechung des Sündenfluches ist hier vielmehr „verhüllt“ (ebd.) in einem staatlichen Handeln, das selbst die Merkmale des Fluches trägt.
Bonhoeffer lässt hier nur vorsichtig seine Überzeugung anklingen, dass die „Ordnungen“ Gottes für diese Welt eigentlich Ordnungen des zornigen Gottes sind. „Nie sind Segen und Gnade Gottes mehr eindeutig sichtbar an dieser gefallenen Welt ablesbar. In der gefallenen Schöpfung wirken an jedem Geschehen Gott und der Teufel“, heißt es im erstem Entwurf des Betheler Bekenntnisses vom August 1933, der deutlich die Handschrift Bonhoeffers trägt. Das Bestreben der sogenannten „Deutschen Christen“, aus den „Ordnungen“ in der Schöpfung eine besondere Heilszusage Gottes für die Deutschen heraus zu lesen, wird mit dem Theologumenon abgewiesen, die vom zornigen Gott in der Welt installierten „Ordnungen“ ließen dergleichen nicht erkennen. Dass diese „Ordnungen“ und damit auch der Staat auf die Überwindung des Sündenfluches abzielen, wird vielmehr erst durch die Christusoffenbarung erkennbar. Um sich dessen bewusst zu sein, ist der Staat auf das Zeugnis der Kirche angewiesen. Aber ebenso muss die Kirche das äußerlich wenig Christus-konforme, den Fluch der Sünde mit Methoden der Sünde „bändigende“ Handeln des Staates anerkennen. Die Christenheit wird darum aufgerufen, sowohl dem Zeugnis der Kirche wie dem des Staates Gehorsam zu leisten.
Ich kann die Nichttheologin, Katholikin und Polin Anna Morawska ganz gut verstehen, dass sie einigermaßen ratlos vor dieser Begründung der in die Welt „von oben“ hinein gesenkten, vor allem Gehorsam verlangenden Ordnung Staates gestanden hat. Sie hat auch das Düstere erschreckt, das für ihre Wahrnehmung einen Staat charakterisiert, der zugleich als eine „Gestalt des Reiches Christi“ und als ein Instrument des Zornes Gottes verstanden wird. Vor allem aber konnte sie sich nicht erklären, wie die diesem Staatsverständnis zugrunde liegende Theologie dem Widerstand gegen das Hitlerregime Nachhaltigkeit sowohl in der Kirche wie in der Gesellschaft zu verleihen in der Lage war. Sie hat darum nach Quellen für Bonhoeffers Widerstand Ausschau gehalten, die außerhalb seiner theologischen Überzeugungen lagen. Doch damit darf man nicht zu früh anfangen.
3. Das Nein zum NS-Staat
Als das Unheil der „Machtergreifung“ der Nazis in der Weimarer Republik zu Beginn des Jahres 1933 seinen Lauf nahm, war Bonhoeffer sofort als entschiedener Gegner ihres totalitären Machtanspruches auf dem Plan. Er war das aufgrund und nicht trotz seiner theologischen Beurteilung des Wesens des Staates. Sein Rundfunkbeitrag vom 1. Februar 1933 „Der Führer und der Einzelne in der jungen Generation“ weist das aus (vgl. DBW 12, 242-260). Er bewegt sich hier ganz in den Bahnen seines Verständnisses der „von oben gegebenen Ordnungen“, die sich gegenseitig begrenzen. Ein „politischer Führer“ (Adolf Hitler wird nicht genannt, aber er ist gemeint!), der sich als Person im Namen des Volkes oder besser einer Ideologie des Volkstums – also von unten – letzte Autorität anmaßt, richtet die echte Autorität des Staatsamtes zugrunde. Diese echte Autorität würde darin bestehen, Menschen zur „Mündigkeit“ und „Verantwortlichkeit […] gegenüber den gegebenen Ordnungen“ der Gemeinschaft zu führen (DBE 12, 258). Der Führer, der seine einzelne Person über sein Amt stellt, statt ihm zu dienen, aber macht sich zum „Abgott“, der vor Gott seine Grenzen verkennt. Er greift in willkürlicher Machtanmaßung in die anderen Ordnungen des Lebens ein und nötigt Menschen zur „Selbstentrechtung“ und „Selbstentmündigung“ (ebd). Er lädt „übermenschliche Verantwortung auf sich“. Bonhoeffer sagt darum voraus: „Führer und Amt, die sich selbst vergotten, spotten Gottes und des vor ihm einsam werdenden einzelnen und müssen zerbrechen“ (a.a.O., 259f.).
In Bonhoeffers Verständnis des Staates ist also in seiner Wurzel und theologisch begründet definitiv kein Raum für ein totalitäres Staatswesen. Ein Staat, der die Grenzen missachtet, die seinem Amt gesetzt sind, ist gegen Gottes Ordnung für diese Welt. Ein Staat, der nicht die Grenzen beschützt und bewahrt, in denen sich das Leben in den anderen Erhaltungsordnungen rechtmäßig und von mündigen Menschen verantwortet entfalten kann, soll nicht sein. Was aber sagen Kirche und Theologie, wenn ein solcher Staat dennoch Realität wird? Kann er noch als Gottes Ordnung anerkannt werden?
Die Antwort auf diese Frage, welche Bonhoeffers viel zitiertem Aufsatz vom Sommer 1933 „Die Kirche vor der Judenfrage“ zu entnehmen ist, bewegt sich stringent im Rahmen seiner Auffassung von der wechselseitigen Begrenzung der „Ordnungen“ und ihrer „Ämter“ (vgl. DBW 12, 349-358). Das Amt des Staates ist es, „Ordnung und Recht“ für alle seine „Untertanen“ zu schaffen. Er begrenzt dieses sein Amt aber selbst illegitim, wenn er einer Gruppe von Menschen, nämlich den Juden, Ordnung und Recht verweigert. Er überschreitet seine Grenze, wenn er in das eigene „eigene Recht“ der Kirche – nämlich in ihre Verkündigung und ihren Glauben – mit seiner Ordnung einzudringen trachtet, so wie das beim „Arierparagraphen“ der Fall war. Ein „Zuwenig an Ordnung und Recht“ in Hinblick auf die Gesellschaft einerseits und ein „Zuviel an Ordnung und Recht“ in Hinblick auf die Kirche andererseits (a.a.O., 352) disqualifiziert den nationalsozialistischen Staat als rechten Staat. Es ist darum das Amt der Kirche, ihn erstens nach der rechten Verantwortung von Ordnung und Recht zu fragen und dabei den „Konflikt mit dem bestehenden Staat“ nicht zu scheuen. Zweitens hat sie ausnahmslos für alle „Opfer des Staatshandelns“ einzutreten, wobei an erster Stelle an die Juden zu denken ist.
Die dritte Möglichkeit der Reaktion der Kirche auf das Unrecht des nationalsozialistischen Staates hat Bonhoeffer mit der dramatischen Metapher zum Ausdruck gebracht: „dem Rad in die Speichen fallen“ und nicht nur „die Opfer unter dem Rad verbinden“ (a.a.O., 354). Diese Metapher wird häufig verkehrt oder verkürzend gedeutet, indem man in ihr Bonhoeffers eigenen Weg in den Widerstand präformiert sieht (vgl. Vgl. Renate Wind, Dem Rad in die Speichen fallen. Die Lebensgeschichte Dietrich Bonhoeffer, Gütersloh 1993). Doch dieser Weg ist in jenem Aufsatz von 1933 eher der Initiative „wissender christlicher Männer“ zuzuordnen, welche in eigener Verantwortlichkeit den Staat wegen seines unmoralischen Handelns verklagen (vgl. a.a.O., 351). Die Frage, ob es sich mit dem Amt der Kirche verträgt, zum Umsturz eines Unrechtsregimes aufzurufen oder diesen Umsturz gar selbst ins Werk zu setzen, hat Bonhoeffer dagegen als eine Lehrentscheidung verstanden, welche jeweils einem „Konzil“ der Kirche vorbehalten bleibt (vgl. a.a.O., 354). Warum Bonhoeffer sich selbst eines Urteils über diese Frage enthalten hat, werden wird noch sehen.
Dennoch sind Bonhoeffers theologische Stellungnahmen zum nationalsozialistischen Staat am Beginn seiner Herrschaft das Widerständigste, was diesem Staat aus dem Raum der Kirche heraus mit genuin theologischen Argumenten entgegen gesetzt wurde. Es ging entschieden weiter, als die sich konstituierende Bekennende Kirche auf der Barmer Synode im Mai 1934 zu sagen vermochte. Dort hatte Hans Asmussen ja versichert, die Synode protestiere nicht „gegen den neuen Staat“ (Hans Asmussen, Vortrag über die Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche, in: Alfred Burgsmüller/Rudolf Weth [Hg.], Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation, Neukirchen 1983, 48). Bonhoeffers Staatsverständnis machte dagegen den Protest der Kirche gegen einen solchen Staat unerlässlich.
4. Nicht „Staat“, sondern „Obrigkeit“
Wir machen nun einen Sprung in die Zeit hinein, in der Bonhoeffer von der Bekennenden Kirche zur „wissenschaftlichen Arbeit“ beurlaubt worden war und in der er als Agent der militärischen Abwehr in München konspirativ für den deutschen Widerstand gegen Hitler wirkte. Aus dieser Zeit, in der er in unregelmäßigen Abständen an seiner „Ethik“ geschrieben hat, stammt die wichtigste systematisch aufgebaute Darlegung seines Staatsverständnisses. Das ist das Gutachten „Staat und Kirche“. Bis heute ist unklar, wann Bonhoeffer dieses Gutachten geschrieben hat und welchem Zwecke es diente. Eberhard Bethge hat das Manuskript dieses Gutachtens nach seiner ersten Veröffentlichung an irgendjemand in den USA verliehen, an den er sich nicht mehr erinnern konnte. Seitdem ist es verschollen, so dass wir es nicht heran ziehen können, um daraus Indizien für die Zeit seiner Entstehung und seinen Zweck zu entnehmen. Was wir über dieses Gutachten wissen können und welche Probleme seiner Zuordnung zu Bonhoeffers Arbeit an der „Ethik“ zu klären sind, ist im Band 16 der Dietrich Bonhoeffer Werke dokumentiert. Doch die internationale Bonhoeffer-Forschung hat sich dadurch leider nicht reizen lassen, endlich heraus zu bekommen, was es mit diesem Gutachten auf sich hat. Es wird Zeit, dass dies geschieht.
Der Komplex der Texte Bonhoeffers über den Staat, die uns aus dieser Zeit überliefert sind, zeigen einerseits, dass Bonhoeffer hier in Kontinuität mit den theologischen Grundsätzen denkt, die für ihn schon 1932/33 bestimmend waren. Zum anderen war er mit dem, wie der Staat theologisch angemessen zu beurteilen ist, nicht fertig. Er hat in immer neuen Variationen, Zuspitzungen und auch Korrekturen versucht, inmitten einer zunehmend entfesselten, verbrecherischen Ausübung der Staatsgewalt durch die Nazis seiner Kirche den langen Atem zur Hochschätzung des Staates als einer Säule der Zukunft menschlichen Zusammenlebens zu vermitteln. Zweierlei bestimmt dabei die theologische Ausgangsposition:
Erstens: Bestimmend bleibt für Bonhoeffer, dass der Staat nur durch seine Zuordnung zu Jesus Christus legitimiert ist. Im Ethik-Fragment „Christus, die Wirklichkeit und das Gute“, das er teilweise mit dem Gutachten „Staat und Kirche“ verzahnt hat, wird das inkarnationstheologisch begründet. „Die in Christus (sc. nämlich als wahrem Gott und wahrem Menschen) gesetzte Einheit von Gottes- und Weltwirklichkeit“ weist dem Staat seinen Ort in dem „einen Raum“ zu, den Bonhoeffer jetzt „Christuswirklichkeit“ nennt (ebd). Im Glauben an Jesus Christus gehört zur Verantwortlichkeit der Glaubenden und damit der Kirche darum auch die Verantwortlichkeit für den Staat. Diese Verantwortung zielt nicht auf eine „Verchristlichung des Staates, der selbst ein Stück Kirche sein will“ („Personal“- und „Sach“ethos, DB W 16, 559). Im Sinne des Argumentationsmusters der Einheit von „Gottes- und Weltwirklichkeit“ handelt es sich bei der Herrschaft Christi über den Staat vielmehr um die „Befreiung zur echten Weltlichkeit, zum Staatsein des Staates“ (ebd.). „Echte Weltlichkeit“ wird dabei allerdings nicht als Entfaltung der autonomen Potenziale der Welt verstanden. Auf der Linie von Bonhoeffers Verständnis der „Ordnungen“ als Reaktionen des zornigen Gottes auf die Sünde geht hier es um die „Wahrung der strengen Gerechtigkeit […], der Gnadenlosigkeit staatlicher Ordnung“, die zur Erfüllung der „menschgewordenen Liebe“ in Jesus Christus gehört (a.a.O. 559f.).
Im Unterschied zu diesem Verständnis der Weltlichkeit des Staates redet das Gutachten „Staat und Kirche“ jedoch vom „göttlichen Charakter“, ja sogar vom „göttlichen Sein“ der Obrigkeit“ (Staat und Kirche, DBW 16, 517). Wie ist das zu verstehen?
Zweitens: In Kontinuität zu seinem Staatsverständnis zu Beginn der dreißiger Jahre bezeichnet Bonhoeffer die Begründung des Staates „von Christus her“ als Begründung „von oben“. Im Gutachten „Staat und Kirche“ führt das zur grundsätzlichen Ablehnung des Begriffs des „Staates“ (Die Überschrift „Staat und Kirche“ über dieses Gutachten ist darum irreführend. Sie weist allenfalls darauf hin, dass es sich hier um eine Auftragsarbeit handelt). „Theologisch ist nur der Begriff der Obrigkeit, nicht der des Staates verwertbar“, heißt es jetzt (Staat und Kirche, DBW 16, 508). „Staat“ bedeutet: Eigenmächtige menschliche Begründung der ordnenden Macht des Gemeinwesens „von unten“. „Obrigkeit“ aber entzieht sich aller menschlichen Begründung. Eben das macht ihren „göttlichen Charakter“ aus.
Bonhoeffer hat daraus weit reichende Konsequenzen gezogen. Der Obrigkeit ist Gehorsam zu leisten „unabhängig von ihrem Zustandegekommensein“ (a.a.O., 517) – eine Formulierung, die auch im Fragment „Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate“ aus dem Jahre 1943 aufgenommen wird, das sich in der Sache eng mit jenem Gutachten berührt (vgl. DBW 6, 394). Steht das „Sein der Obrigkeit“ aber „jenseits ihres irdischen Entstehens“, dann wird ihre von Gott legitimierte Würde auch nicht durch ihr noch so schuldhaftes empirisches Verhalten aufgehoben. Die Kirche kann in Ausübung ihres Auftrages darum nicht zum totalen Ungehorsam gegen eine solche „Obrigkeit“ in ihrem unaufhebbarem „göttlichen Charakter“ aufrufen. „Es gibt […] kein Recht auf Revolution“ (Staat und Kirche, 532), sagt Bonhoeffer, ohne auf ein „Konzil“ zu rekurrieren, das eine solche Option für die Kirche vielleicht legitimieren könnte. Er hat darum auch wiederholt davor gewarnt, in apokalyptischer Weise das NS-Regime als das „Tier aus dem Abgrund“ von Apokalypse 13 zu verstehen, demgegenüber die Kirche zu „totalem Ungehorsam“ aufzurufen hätte (a.a.O., 522; vgl. „Personal“- und „Sach“ethos, DBW 16, 555).
Die Schlussfolgerung, die aus dieser Sicht der „Obrigkeit“ folgt, ist stringent. Sie liegt auf der Linie, die Martin Luthers Verständnis der Obrigkeit vorgegeben hat. Konkreter Widerstand gegen eine Obrigkeit bleibt dem Einzelnen überlassen, der den Gehorsam gegen eine ungerechte Obrigkeit nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann. Solcher Ungehorsam ist, sagt Bonhoeffer, ein freies „Wagnis auf die eigene Verantwortung hin“ (a.a.O., 523), das bereit ist, die „Schuld der Gesetzesdurchbrechung“ auf sich zu nehmen (Die Geschichte und das Gute [Zweite Fassung], DBW 6, 299). Genau dies wurde Bonhoeffers eigener Weg im Widerstand gegen Hitler, für den er nicht beansprucht hat, im Dienst der Kirche zu stehen, wohl aber als ein vor Christus verantwortliches Glied der Kirche zu handeln.
5. Die Mandate
Ein Kontinuum des Obrigkeitsverständnisses Bonhoeffers ist weiter, dass er das Amt der Obrigkeit nur im Zusammenhang mit den anderen „Ordnungen“ sehen konnte, „durch die Gott […] seine Schöpfermacht ausübt“(Staat und Kirche, DBW 16 524). „Göttliche Ordnungen“ nennt er sie im Gutachten „Staat und Kirche“. Er rechnet dazu neben der Kirche die Ordnung der „Ehe“ und der „Arbeit“ (a.a.O., 525), also die Familien- und Wirtschaftsordnung inklusive von „Bildung, Wissenschaft und Kunst“ (ebd). Wie wir schon gesehen haben, ist es für Bonhoeffers Obrigkeitsverständnis wesentlich, dass die Macht der Obrigkeit von diesen Ordnungen begrenzt wird. Mehr noch: Sie sind von ihr als besondere Entfaltungsräume gesellschaftlichen Lebens, ja gesellschaftlicher Freiheit zu schützen.
Der Begriff der „Ordnung“ erschien Bonhoeffer während seiner Arbeit an der Ethik jedoch als unzureichend. Er bringt nicht die göttliche „Ermächtigung, Legitimierung“ und „Autorisierung“ der Obrigkeit und der Verantwortungsträger in den anderen Ordnungen zum Ausdruck (Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate, Ethik, DBW 6, S. 393). Er ist in Gefahr, bestimmte gewordene Zustände als göttlich gewollt zu verklären. Darum hat Bonhoeffer versucht, den Begriff der „Ordnung“ durch den des „Mandates“ Christi bzw. Gottes zu ersetzen. In den lutherischen Bekenntnisschriften wird dieser Begriff sowohl in der Sakramentenlehre wie in ethischen Zusammenhängen gebraucht. Er bezeichnet dort einen konkreten, biblisch bezeugten Befehl Jesu Christi. Bonhoeffer verwendet ihn im Sinne eines „konkreten in der Offenbarung begründeten und bezeugten göttlichen Auftrags“ („Personal“- und „Sachethos“, DBW 16, 561).
Unter den Bedingungen eines unruhigen Reiselebens und einer gefährlichen konspirativen Mission ist er jedoch nicht mehr dazu gekommen, die geplante Lehre von den vier Mandaten „Ehe und Familie, Arbeit, Obrigkeit, Kirche“ systematisch auszuführen. Sein Sprachgebrauch schwankt. Einmal redet er davon, dass diese Ordnungen „unter (!) einem […] Mandat“ stehen (Staat und Kirche, DBW 16, 525; vgl. Christus, die Wirklichkeit und das Gute, DBW 6, 55). Dann bezeichnet er sie aber auch selbst als „Mandate“ (a.a.O, 56). Die Reihenfolge, in der sie aufzählt, wechselt. Statt vom Mandat der „Arbeit“ kann er vom Mandat der „Kultur“ reden (vgl. Das konkrete Gebot, Ethik, DBW 6, S. 392). Im Fragment „Das ‚Ethische‘ und das ‚Christliche‘ als Thema“ verwendet er an Stelle des Begriffs des „Mandats“ den des „Gebotes“ Gottes (vgl.DBW 6, 383). Im Gutachten über den „primus usus legis“ kommt Begriff des Mandats überhaupt nicht vor. Kurz und gut: Bonhoeffer war damit, wie die „Mandate“ Christi im Einzelnen und in ihrem Zusammenhang zu verstehen sind, überhaupt nicht fertig. Wenn es sich in der Bonhoeffer-Rezeption eingebürgert hat, von „der Mandatenlehre Bonhoeffers“ zu reden, so ist das ein unzulässig.
Eines ist allerdings klar. Mit dem Begriff des „Mandats“ verfolgt Bonhoeffer die Absicht der an ein Amt gebundenen Personalisierung der obrigkeitlichen Verantwortung. Das erklärt für mein Verständnis, warum er trotz seiner Hochschätzung der Barmer Theologischen Erklärung nicht auf deren fünfte These zurückgegriffen hat. Dort wird der Staat mit Römer 13, 2 als ἐπιταγή, als „Anordnung“ einer Funktion beschrieben, die Menschen in der Welt wahrnehmen sollen. Bonhoeffer aber hatte sich Martin Luthers Ableitung der „Obrigkeit“ aus dem Elterngebot des Dekalogs zu Eigen gemacht (vgl. Luthers Auslegung des 4. Gebotes im Großen Katechismus [BSLK, S. 586–639]). Danach betraut Gott Personen wie den Familienvater und die Fürsten mit dem Amt seiner „Stellvertretung“. Sie repräsentieren seine Ordnung für die Schöpfung. Sie haben das Amt, diese Ordnung in der Gesellschaft durchzusetzen.
Es ist fast Originalton von Luther, wenn Bonhoeffer sagt: „Die Träger des Mandats sind […] Beauftragte, Stellvertreter, Platzhalter Gottes“ (Das konkrete Gebot, DBW 6, 394). Als solche geben sie der ganzen Struktur der Gesellschaft eine bestimmte Prägung. Es ist die Prägung „einer durch ein klares Oben und Unten bestimmten Ordnung“ (a.a.O. 395). Die Beispiele, die Bonhoeffer für die Mandate der Kirche, der Ehe und der Obrigkeit nennt, sind eindeutig: Oben sind in je ihrem Amt die Pfarrer, die Familienväter und die „obrigkeitlichen Personen“. Unten sind die Gemeinde, die Familienglieder und die Untertanen. Wie man sich solche „Autoritätsverhältnisse“ im Bereich von Wirtschaft vorzustellen hat, bleibt aber unklar.
Dagegen hat Bonhoeffer in den Gefängnisbriefen die Dimensionen von „Kultur und Bildung“ deutlich von den Mandaten unterschieden. Sie gehören zum „Spielraum der Freiheit“, der seine eigene „necessitas“ hat und durch die Bestimmung des ganzen Lebens durch die „Mandate“ nicht verkümmern darf (Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, DBW 8, 291f.). Hier meldet sich im Namen der Freiheit eine gewisse Distanzierung Bonhoeffers von der Konzeptionierung der Mandate. Das zeigt noch einmal, wie sehr ihr Verständnis in seinem Denken in Bewegung war. Der Plan Bonhoeffers für eine Mandatenlehre kann darum gar nicht anders rezipiert werden als in kritischem Weiterdenken.
Natürlich wird sich dieses Weiterdenken heute darauf richten, den schwer erträglichen Paternalismus zu überwinden, den sich Bonhoeffer aus der lutherischen Tradition zu Eigen gemacht hatte und an dem Karl Barth „einen kleinen Geschmack von norddeutschem Patriarchalismus“ wahrnahm (vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik III/4, Zollikon/Zürich 1951, 23). Wenn das kritisiert werden muss, ist jedoch darauf zu achten, dass die theologische Dynamik nicht verloren geht, in der für Bonhoeffer der Glaube an Jesus Christus die Verantwortlichkeit der Christenheit für den Staat, aber auch für die gesellschaftlichen Institutionen begründet, die seine Macht begrenzen. Wesentlich an Bonhoeffers theologischem Staatsverständnis war damals und ist heute, dass es aufgrund der Relativierung der Staatsmacht durch die anderen Mandate den totalitären Staat kategorisch ausschließt.
6. Vergangenes
Nüchtern gesehen haben sich Bonhoeffers konkrete Vorstellungen von einem künftigen deutschen Staat mit dem Scheitern des Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944 erledigt. Sein Gutachten über „Staat und Kirche“ mündete bekanntlich in die Option für ein „recht verstandenes Gottesgnadentums der Obrigkeit“, in der „ihr göttlicher Ursprung am hellsten durchscheint“ (Staat und Kirche, DBW 16, 534f.). Sicherlich spielt bei dieser Option für eine wie auch immer geartete monarchische Staatsform das Trauma eine Rolle, das wir auch bei anderen Beteiligten am 20. Juli 1944 bemerken. Hitler war „von unten“, ermöglicht durch demokratische Wahlen, an die Macht gekommen. Ob den Deutschen im Falle des Gelingens des Umsturzes auf demokratischem Wege die „restlose Beseitigung des NS-Systems“( vgl.Gedanken zur William Patons Schrift „The church and the new order in Europe“, DBW 16, 540), wie Bonhoeffer sie forderte, möglich gewesen wäre, kann man auch noch heute bezweifeln.
Bonhoeffer hat in seinen „Gedanken zur William Patons Schrift ‚The Church and the New order in Europe‘“ aufgrund dieses Zweifels damals bei den Alliierten um Verständnis für eine künftige deutsche Regierung geworben, die „zunächst (!) nicht im angelsächsischen Sinn des Wortes demokratisch aussieht“ (a.a.O., 541). Leider sind gerade die Seiten der Niederschrift dieser „Gedanken“, in denen er näher ausführt, wie er sich konkret eine solche deutsche Regierung vorgestellt hat, verloren gegangen. Überdauert hat dagegen die „Freiburger Denkschrift“, um die Bonhoeffer im Spätsommer 1942 im Auftrag der vorläufigen Leitung der Bekennenden Kirche den Kreis von Freiburger Professoren um Gerhard Ritter gebeten hatte. Sie sollte die Stellungnahme der deutschen Kirchen zur „Politischen Gemeinschaftsordnung“ auf einer von der Ökumene nach dem Kriege ins Auge gefassten Weltkirchenkonferenz vorbereiten vgl. In der Stunde Null. Die Denkschrift des Freiburger „Bonhoeffer-Kreises“: Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbestimmung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer Zeit, Eingeleitet von Helmut Thielicke, Tübingen 1979, 35). Es ist jedoch irreführend, wenn der Freiburger Kreis aufgrund von Bonhoeffers Anstoß zu seiner Arbeit „Bonhoeffer-Kreis“ genannt wird. Trotz mancher Berührungspunkte im Staatsverständnis, auf die in DBW 16 hingewiesen ist, entsprach die normative Bedeutung, welche die Freiburger dem „christlichen Gewissen“ für die „politische Gemeinschaftsordnung“ zusprachen, nicht Bonhoeffers theologischem Obrigkeitsverständnis. Constantin von Dietze, einer der Freiburger Professoren, hat nach einem Treffen mit Bonhoeffer in Berlin am 6./7. Februar 1943 in seinem Kalender notiert: „Bhf (sc. Bonhoeffer): „Gründung auf dem Gewissen ist Sache vergangener Theologie. Wird von den Theologen der Bekennenden Kirche nicht angenommen werden“. Der unsägliche Anhang 5 dieser Denkschrift „Zur Judenfrage“ lässt es auch sonst nicht geraten erscheinen, jene Denkschrift mit dem Namen Bonhoeffers zu verbinden.
So bleibt es also dabei, dass Bonhoeffers konkrete Vorstellungen von einem künftigen deutschen Staat nach 1945 zunächst ohne Einfluss auf die politischen Verhältnisse blieben, die sich nach 1945 heraus bildeten. Es waren gespaltene Verhältnisse. Auf der einen Seite entstand im Westen Deutschlands in Einklang mit den Demokratien des Westens die demokratische Ordnung eines Rechtsstaates auf der Grundlage der Menschenrechte. Auf der anderen Seite etablierte die Sowjetunion in ihrem Herrschaftsbereich einen an die marxistisch-leninistische Weltanschauung gebundenen Obrigkeitsstaat. Er nannte sich selbst „Diktatur des Proletariats“, – repräsentiert durch eine Staatspartei. Dieser Staat trug von Bonhoeffer her geurteilt alle Merkmale eines totalitären Staates. Denn seine Macht erstreckte sich auf alle Lebensbereiche wie Familie, Wirtschaft, Kultur, Bildung, Wissenschaft. Außerdem griff er massiv in das Leben und den Auftrag der Kirche ein.
Von Bonhoeffers Staatsverständnis her wäre darum nichts als Protest gegen einen solchen Staat zu erwarten gewesen. In den Kirchen der DDR und in Teilen der Theologie aber geschah etwas Erstaunliches: Unter Berufung auf Bonhoeffer kam es im Laufe der Zeit dazu, dass dieses Gesellschafts- und Staatssystem von den Kirchen in der DDR ziemlich weitgehend bejaht und begrüßt wurde. Das hatte wiederum zur Folge, dass der sozialistische Staat der DDR Bonhoeffer als einzigen der (ansonsten als „reaktionär“ gebrandmarkten) Verschwörer des 20. Juli 1944 in die Reihe der „antifaschistischen Widerstandskämpfer“ aufnahm und ihn quasi zu den Gründungsvätern der DDR rechnete. Die Schilderung dessen, wie es dazu kam, würde hier zu weit führen. Denn das würde uns nötigen, ein ganzes Kapitel deutscher Kirchengeschichte aufzuschlagen. Ich habe zu diesem Kapitel an anderen Stellen einige Beiträge verfasst (Vgl. z.B.: Dietrich Bonhoeffer als „Theologe der DDR“ – Ein kritischer Rückblick, in: Wolf Krötke, Die Kirche im Umbruch der Gesellschaft. Theologische Orientierungen im Übergang vom „real existierenden Sozialismus“ zur demokratischen, pluralistischen Gesellschaft, Tübingen 1994, 163-177; Karl Barths und Dietrich Bonhoeffer Bedeutung für die Theologie in der DDR, KZG 7 1994, 279-299; Der zensierte Bonhoeffer. Zu einem schwierigen Kapitel der Theologiegeschichte in der DDR, ZThK 92 1995, 329-356). Darin wird klar: Mit dem Ende der DDR ist die kirchliche, theologische und politische Inanspruchnahme Bonhoeffers für ein totalitäres Staats- und Gesellschaftswesen, wie es die DDR war, auch an ihr Ende gekommen. Dennoch haben wir mindestens zwei Sachverhalte zu würdigen, die über diese Inanspruchnahme hinaus weisen.
7. Perspektiven
Bevor die Berliner Mauer errichtet wurde, haben die deutschen Kirchen des Westens und des Osten in ihrer theologischen Beurteilung des DDR-Staates mit einer Stimme gesprochen. Ihr Urteil lautete: Auch der sozialistische Staat ist „Obrigkeit“ von Gott. Als der Berliner Bischof Otto Dibelius 1959 in Frage stellte, dass Christinnen und Christen dem DDR-Staat in ihrem Gewissen zum Gehorsam verpflichtet seien, erhob sich in allen Kirchen Deutschlands ein Sturm der Entrüstung. Geradezu klassisch wurde die Formel: „Das Evangelium rückt uns den Staat unter die gnädige Anordnung Gottes (Barmen V!), die wir in Geltung wissen, unabhängig von dem Zustandekommen der staatlichen Gewalt und ihrer politischen Gestalt“ (Theologische Erklärung der Evangelischen Kirche in Deutschland in Berlin 1956; abgedruckt in. Für Recht und Frieden sorgen. Auftrag der Kirche und Aufgabe des Staates nach Barmen V. Theologisches Votum der Evangelischen Kirche der Union, Gütersloh 1986, 110).
Die Wendung „unabhängig von dem Zustandekommen“ des Staates klingt wie ein Zitat aus Bonhoeffers „Staat und Kirche“. Die „Handreichung“ der Synode der Evangelischen Kirche der Union aus dem Jahre 1959 nimmt diese Formel auf, indem sie auffallender Weise (ohne Namensnennung) eine Denkfigur Bonhoeffers mit ihr verknüpft. Dass sich jeder Staat – auch der „Diktaturstaat“ – in „Gottes Hand“ befinde, sei ein „Letztes“. Welche „Form“ er annehme, sei ein „Vorletztes“ (a.a.O., 112). Das „Letzte“ macht den Christinnen und Christen den Gehorsam gegenüber dem Staat zur Pflicht, so dass – wie bei Bonhoeffer – die kirchliche Option für eine Revolution ausgeschlossen wird. Im „Vorletzten“ aber muss es ein gestaffeltes Verfahren der Kritik der Kirche am Missbrauch der sich in alle Lebensbereiche hinein erstreckenden Macht des sozialistischen Weltanschauungsstaates geben. Solche Kritik muss mit Leidensbereitschaft derer, die sie äußern, verbunden sein.
Es ist klar erkennbar, dass hier unter veränderten geschichtlichen Bedingungen Bonhoeffers Obrigkeitsverständnis in der Sache mit im Spiele ist. Nicht Revolution, können wir vielleicht sagen, Reformation im „Vorletzten“ ist der Weg, welcher der Kirche gewiesen ist, wenn sie mit einem totalitären, diktatorischen Staatswesen zu tun hat. Anders ausgedrückt: Die Energie der Gewaltlosigkeit und des Geistes der Freiheit Jesu Christi ist die Kraft der Kirche gegenüber solchen totalitären Systemen wie es die sozialistischen Staaten waren und wie es heutzutage z.B. noch die Volkrepublik China ist.
Liu Xiaobo, der bewunderungswürdige Friedensnobelpreisträger und Bürgerrechtler liest im Gefängnis Bonhoeffer. Er hat kein Attentat geplant. Er ist nicht in der Situation, in der wir in der DDR auch nicht waren, in der als ultima ratio nur bleibt, in persönlichem Wagnis dem „Rad in die Speichen zu fallen“. Er wählt den „normalen“ Weg der Kirche Jesu Christi, den wir als Kern des Staatsverständnisses Bonhoeffers erkennen können. Er besteht darin, dass der im Glauben an Jesus Christus begründete Gehorsam gegenüber dem Staat immer unlöslich mit dem engagierten Eintreten für die Rechte der Bürgerinnen und Bürger in den Dimensionen gesellschaftlichen Lebens verschränkt ist, die Bonhoeffer einmal „Ordnungen“ genannt hat. Dieser Gehorsam begründet keine „Untertanenmentalität“, sondern „Zivilcourage“. Man muss darum die Texte zum Obrigkeitsverständnis von 1942/43 mit dem Plädoyer für diese Tugend in der „Rechenschaft nach zehn Jahren“ aus der gleichen Zeit zusammen halten (vgl. Nach Zehn Jahren, DBW 8, 23f.).
Weil Christusdynamik in Bonhoeffers Obrigkeitsverständnis steckt, hatte sich die Staatspartei der DDR darum mit Bonhoeffer letztlich ein Kuckucksei ins real-sozialistische Nest setzen lassen. Es schlüpfte anderes heraus, als seine Bebrütung z.B. durch Hanfried Müller in seinem Buche „Von der Kirche zur Welt“ versprach (Von der Kirche zur Welt. Ein Beitrag zu der Beziehung des Wortes Gottes auf die societas in Dietrich Bonhoeffers theologischer Entwicklung, Leipzig 1961). Er hatte Bonhoeffers Frage nach einem „religionslosen Christentum“ so umgebogen, dass er sich für eine atheistische, nichtreligiöse „Weltanschauung“ geöffnet habe (a.a.O., 403), wie sie letztlich der Marxismus-Leninismus darstelle. Gänzliche Zustimmung zur sozialistischen Machtausübung und Verzicht auf das eigene politische Urteil aus Motiven des Glaubens war die Konsequenz jener abseitigen Bonhoeffer- Interpretation. Sie hat in den Kirchen der DDR nie Zustimmung gefunden. Aber es gab Berührungspunkte mit ihr, als der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR sich für das Selbstverständnis einer „Kirche im Sozialismus“ auf Bonhoeffer berief. Dafür wurden aus heutiger Sicht merkwürdige Argumente vorgebracht. Albrecht Schönherr hat z.B. den totalitären Machtanspruch des sozialistischen Staates so interpretiert, dass er die Kirche dazu befreie, „allein ihren Herrn regieren (zu) lassen und auf alles eigene Regieren“ oder auf das sogenannte „Wächteramt“ zu verzichten (vgl. Impulse aus der Theologie Bonhoeffers für den Weg der Christen in der sozialistischen Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik, Theologische Versuche VI, hg. von Joachim Rogge, und Gottfried Schille, Berlin 1975, 126f.). Denn die DDR-Gesellschaft sei doch mit ihrem Bestreben des Aufbaus einer gerechten Gesellschaft die „mündige Welt“, auf die Bonhoeffer gezielt habe und an deren Gedeihen Christinnen und Christen tatkräftig mitwirken können.
Das alles hat den Mächtigen in der DDR wohl gefallen. Es kam – nüchtern betrachtet – auch dem Leben der bedrängten Christenheit zugute und minderte die Praktiken der Unterdrückung etwas. Doch als Heino Falcke auf der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen im Jahre 1972 mit Nachdruck betonte, dass Gott in Christus „seine Autorität dafür einsetze […], Autor unserer Autorität und Mündigkeit zu sein“, kam ein anderer Bonhoeffer zur Geltung (vgl. Heino Falcke, Christus befreit – darum Kirche für andere, in: Zum politischen Auftrag der christlichen Gemeinde (Barmen II), Votum des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union, Gütersloh 1974, 217). Unter Berufung auf ihn wurden Christinnen und Christen ermutigt, „gegen Unfreiheit und Ungerechtigkeit“ und für die Schwachen in dieser Gesellschaft zu kämpfen (a.a.O., 227). Sie sollten als mündige Bürgerinnen und Bürger beanspruchen, dass ihr eigenverantwortlicher Einsatz für die Menschen in dieser Gesellschaft „von einer besseren Gerechtigkeit getragen ist, als der Sozialismus sie geben kann“(a.a.O., 226).
Das Staatsverständnis Bonhoeffers spielte bei diesem mutigen Aufruf zur politischen Verantwortung der Christenheit und der Kirche keine Rolle. Das gilt auch für die oppositionellen Gruppen, die sich in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts unter dem Dach der Kirche in der DDR bildeten. Bei ihnen waren Bonhoeffers „Staats-Texte“, die in der DDR nicht veröffentlicht werden durften, weithin unbekannt. Jene Gruppen orientierten sich an „Widerstand und Ergebung“. Die „Spiritualität“ des Christusglaubens Bonhoeffers, die sich „mit gelebtem politischen Engagement“ verband, war der stärkste Impuls, sich für eine demokratische Veränderung der real-sozialistischen Machtverhältnisse einzusetzen (vgl. hierzu Ehrhard Neubert, Ethische und rechtliche Aspekte von Widerstand und Opposition in der DDR, in: Martin Leiner u.a. [Hg.], Gott mehr gehorchen als den Menschen. Christliche Wurzeln, Zeitgeschichte und Gegenstand des Widerstands, Göttingen 2005, 273). Es ist kein Zufall, dass dabei basisdemokratische Vorstellungen eines direkten Einflusses der Bürgerinnen und Bürger auf den Staat eine Rolle spielten. Das ist eine Tendenz, die man auch sonst beobachten kann, wo Bonhoeffers Frage nach einem „religionslosen“, „mündigen“ Christentum in der säkularen Welt politisch verstanden und rezipiert wird. Die Vorstellung eines Staates, der die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zur politischen Gestaltung der Gesellschaft stärkt und fördert, drängt sich in der Konsequenz von Bonhoeffers Inanspruchnahme einer „mündigen Welt“ für Christus förmlich auf. Die weltweite Berufung auf Bonhoeffer im Namen der Rechte der Armen, der rassisch Unterdrückten und oder aus nationalistischen Gründen Diskriminierten belegt die ermutigende Kraft, die in dieser Hinsicht von Bonhoeffers Texten ausgeht.
Nicht geraten ist es jedoch, Bonhoeffers Obrigkeitsverständnis ganz aus den Augen zu verlieren. Bonhoeffer ist in „Widerstand und Ergebung“ bekanntlich nicht darauf eingegangen, welche Konsequenzen die Befreiung der Welt zur Mündigkeit durch den am Kreuz ohnmächtigen Gott für das Verständnis des Staates hat. Aber natürlich kann die „mündige Welt“ nicht eine Welt ohne Staat sein. Er bleibt ein göttlicher Auftrag an die Welt seiner Geschöpfe, der nicht in das Belieben einer Willkürfreiheit von Menschen gestellt ist. Es bleibt seine Aufgabe, in seinen Grenzen für Recht und Frieden zu sorgen. Er hat die anderen Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens, die unter einem Auftrag Jesu Christi stehen, in ihrer relativen Selbständigkeit zu schützen und zu fördern. Die Klammer, welche Bonhoeffers Obrigkeitsverständnis mit seinen Vorstellungen einer mündigen Welt und eines mündigen Christentums verbindet, aber ist der christologische Ausgangpunkt.
Auch in „Widerstand und Ergebung“ denkt Bonhoeffer „von oben“ her. Aber es ist hier ein „Oben“, das „im Unten“, vom Kreuz Christi her, Raum für die Weltverantwortung aller Geschöpfe Gottes schafft. In politischer Hinsicht folgt daraus für die Kirche und die Theologie die Bevorzugung einer Staatsform, welche dieser Weltverantwortung Aller gerecht wird. Perspektivisch stellt sich also die Aufgabe, diejenigen Momente des Obrigkeitsverständnisses Bonhoeffers, die gültig bleiben, in Hinblick auf ein demokratisches Staatsverständnis weiter zu entwickeln.
Insofern ist Anna Morawskas Eindruck ganz richtig. Wir müssen beim Verständnis des Staates mit Bonhoeffer über Bonhoeffer hinausgehen. Aber wir müssen dabei – im Unterschied zu Morawskas Bonhoeffer-Deutung – den Quellgrund von Bonhoeffers theologischem Denken nicht verlassen. Der Gott, der die Welt zu mündiger Verantwortung befreit, ist zugleich der, welcher Alle beauftragt, den Staat hoch zu schätzen und für das rechte Handeln des Staates aktiv einzutreten.