Kategorie: Vorträge
Für uns gestorben
Vortrag beim Einkehrtag des Kirchenkreises Wismar in Tempzin am 13.04.2012
1. Jesu Christi Tod im Lichte der Auferstehung
Die Aussage, dass Jesus Christus für uns gestorben ist, findet sich in einem der ältesten Texte des Neuen Testaments. Paulus zitiert ihn in einer gleichsam offiziösen Weise zu Beginn des 15. Kapitels des 1. Korintherbriefes: „Ich habe euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass Christus für unsere Sünden gestorben ist nach der Schrift“. Das „für uns gestorben“ gehört also zum Urgestein des christlichen Bekenntnisses zu Jesus Christus. Es ist nicht erst eine Deutung des Todes Jesu, die ihr Paulus gegeben hat. Wir müssen vielmehr annehmen: Das Entstehen von christlichen Gemeinden war von Anfang an verbunden mit der Überzeugung, dass sein Tod „für uns“ eine heilsame Bedeutung hat.
Denn schon beim ersten Hinsehen auf jene kurze Bekenntnisformel ist klar: „Wir“ kommen hier nicht als irgendwie neutrale Wesen und unbeschriebene Blätter vor. Unser Leben, um das es hier geht, ist infiziert von der Sünde. „Für uns“ gestorben ist darum nur der verkürzte oder auf uns selbst konzentrierte Ausdruck dessen, dass Christus „für unsere Sünden“ gestorben ist. „Sünde“ aber ist nach der durchgängigen Anschauung des Neuen Testaments die Zersetzung unseres Lebens mit dem Tode, die nicht erst mit dem Sterben beginnt. Sünde ist die sinnlose Destruktion der Beziehungen, in denen wir Menschen sind: Die Zerstörung der Gottesbeziehung und der Beziehungen zu unseren Mitmenschen, die Zerrüttung unseres Selbstverhältnisses als Seele unseres Leibes, als Mensch und Natur. Das meint Paulus, wenn er den Tod „der Sünde Sold nennt“ (Römer 6, 23). Er ist das nicht erst, wenn wir sterben. Er ist das mitten in unserem Leben. „Für uns“ heißt also bei diesem ersten Hinblicken: Durch den Tod Jesu ist der Sog unseres Lebens in die Vernichtung, welchen die Sünde auslöst, unterbrochen. Er schafft die umgekehrte Ausgangsposition für uns: Nicht den Absturz unseres Lebens in den Tod, sondern die Wendung vom Tode zum Leben. Er – der Tod Christi – wird zum Anfang eines neuen, nicht mehr von der Sünde bestimmten Lebens im Gottesverhältnis und den anderen Beziehungen, in denen wir Menschen sind.
Die christliche Tradition hat diese Bedeutung des Todes Jesu „für uns“ mit dem Begriff der „Stellvertretung“ summiert. Das hat gemäß der Glaubenserfahrung, die das Neue Testament bezeugt, auch sein Recht. Wo wir selbst nichts mehr zu tun vermögen, um den Sog unseres Lebens in den Tod zu stoppen, tritt ein anderer an unserer Stelle für uns ein und schafft für uns die neue Situation, in welcher wir „in einem neuen Leben zu wandeln“ vermögen (Römer 6, 4). Die Frage, die dem christlichen Glauben nicht erst seit heute gestellt wird, lautet demgegenüber jedoch: Inwiefern kann der Tod eines Menschen, das Kreuz Jesu Christi, für uns eine „Gotteskraft“ (1. Korinther 1, 18) zu einem neuen Leben frei vom Sog des Todes sein? Von einem Lebenden können sich Menschen wohl vorstellen, dass er für sie eintritt, für sie da ist und ihnen hilft, ihr Leben zu ändern oder neu zu gestalten. Streng genommen ist – mit Dietrich Bonhoeffer geredet – sogar alles menschliche Leben – angefangen von der Geburt – auf Stellvertretung angewiesen. Auch das gewesene Leben eines Toten kann uns in gewisser zur Kraft eines neuen Lebensanfangs werden kann und uns schenken, was wir mit unseren eigenen Möglichkeiten nicht vermögen. Aber inwiefern vermag dergleichen das Sterben eines Menschen und damit sein Tod?
Das Urgestein des christlichen Bekenntnisses, das Paulus zitiert, hat darauf eine klare Antwort gegeben. Der Tod Jesu Christi ist ein Tod für uns, weil Jesus Christus nicht im Tode geblieben ist, weil er mit Lebensdynamik für uns aus diesem Tode hervor gegangen ist. Das „Für uns“ des Sterbens Jesu ist also in der Erfahrung der Auferstehung Jesu Christi begründet. Wäre Christus nicht auferstanden, so folgert Paulus, dann wären noch in unseren Sünden. Dann wäre die Botschaft von seinem Leiden und Sterben „für uns“ umsonst. Nur der Sieg Gottes über den Tod in der Auferstehung Jesu Christi von den Toten macht diesen Tod für uns zum „Heilsereignis“.
Ich gehe jetzt nicht auf die Fragen ein, wie das Bekenntnis zur Auferstehung Jesu Christi heute im Einzelnen von den Texten her und im Spiegel unserer Erfahrung theologisch zu verantworten ist. Ich setze vielmehr voraus, dass wir dieses Ereignis nicht als die Rückkehr Jesu in das sterbliche Leben zu verstehen haben, sondern als seine Verwandlung in eine unserem Zugriff entzogene Seinsweise göttlichen Lebens.
Eine christologische Implikation des Bekenntnisses zur Auferstehung Jesu Christi müssen wir allerdings gegenwärtig halten, wenn wir das „für uns“ seines Sterbens im Sinne des Neuen Testaments richtig verstehen wollen. Die Erscheinungen des Auferstandenen haben den Auferstehungszeugen die Gewissheit vermittelt, dass Gott sich mit dem ganzen Leben und Sterben Jesu verbunden hat. Der Lebensweg dieses Menschen war der Weg, den Gott mitgegangen ist. Es war der Weg, auf dem Gott mit in den Tod gegangen ist. Die frühe Christenheit hat das zum Ausdruck gebracht, indem sie Jesus Titel wie „Sohn Gottes“, Christus, ja „Kyrios“ (den alttestamentlichen Gottesnamen!) zulegte.
Natürlich bedeutet Gottes Verbundenheit mit diesem Jesus nicht, dass man ihn in diesem Menschen Gott sozusagen zu fassen bekommt. Er hat sich auf seine unsichtbare, göttliche Weise mit ihm verbunden. Deshalb bleibt die Kreuzigung Jesu aus menschlicher Perspektive eine Katastrophe seiner Verkündigung des Anbruchs des Reiches Gottes. „Da verließen ihn alle“, heißt in dem rätselhaften Bericht von der Verhaftung Jesu bei Markus (14, 50). Der Gebetsschrei von Psalm 22, 2, mit dem Jesus als einer, der von Gott verlassen ist, gestorben ist, gibt der Verborgenheit Gottes sogar für ihn selbst einen erschreckenden Ausdruck.
Wir wissen nicht, wie der sogenannte „historische Jesus“ seinen Tod, der ja letztlich auf dem Justizirrtum beruhte, er sein ein politische Aufrührer, verstanden hat. Übereinstimmung herrscht bei den Experten, dass Jesus angesichts der Gefährdung, in der er sich befand, und angesichts des drohenden Todes zu seiner Verkündigung gestanden hat. Darauf würde das Logion von Markus 14,25 hinweisen: „Amen ich sage Euch, dass ich nicht mehr von dem Gewächs des Weinstocks trinken werde bis zu jenem Tag, wenn ich es neu trinke in der Gottesherrschaft“. Jesus hätte demnach sein Vertrauen zum Kommen der Gottesherrschaft auch angesichts seines Todes nicht aufgegeben hat und sein Todesgeschick sozusagen in die Hände dieses Kommens, also Gottes, gelegt.
Die Überlieferung der Abendmahlsworte, in denen das „für euch“ in verschiedenen Variationen verankert ist, ist dagegen schon durchgehend von der Auferstehungserfahrung, dass Gott in diesem Tode dabei war und handelt, geprägt. Alle Evangelien, die den Weg Jesu bis in seinen Tod hinein erzählen, sind im Grunde Auferstehungsgeschichten mit verlängerter Einleitung. Sie legen dem Tode Jesu den Sinn zu, dass in diesem Menschen Gott selbst in die sündige Todesgeschichte der Menschheit eingetreten sei, um ihr von innen her das Wasser abzugraben. Doch in welchem Sinne und mit welchem Ziel hat er das getan, um den Tod Jesu zu einem Tod „für uns“ werden zu lassen? Das Neue Testament gibt darauf keine einheitliche Antwort, sondern verwendet verschiedene Deutungsmuster, um Gottes Einsatz für uns im Leben und Sterben des Menschen Jesus zu verstehen. Wir beschränken uns hier auf zwei der am wirksamsten gewordenen Deutungsmuster, nämlich das kultische und das juridische (rechtliche) Verständnis des Todes Jesu für uns.
2. Die kultische Deutung des Todes Jesu
Hierunter ist eine Deutung des Lebens und vor allem des Todes Jesu Christi im Rahmen der jüdischen Opfervorstellungen zu verstehen. Um sie zu würdigen, müssen wir uns von ihrer Interpretation durch Anselm von Canterbury ganz frei machen. Er hat sie in seiner Schrift „Cur Deus homo“ so verstanden, dass Gott um seiner durch die Sünde gekränkten Ehre willen von der Menschheit ein Opfer verlange, das seinen Zorn über die Sünde besänftigt. Da Menschen in ihrer Begrenztheit durch keinerlei Aktivität den unendlichen Gott versöhnen können, wird er selber Mensch und bringt als „Gott-Mensch“ ein Opfer dar, das sogar mehr leistet, als er in seiner gekränkten Ehre verlangt. Er erwirbt einen Schatz der Wiedergutmachung der Sünden der Menschheit, den die Kirche verwaltet und den Gläubigen zueignet.
Diese sogenannte „Satisfaktionstheorie“ hat eine eminente geschichtliche Wirkkraft gehabt. Viele unserer Gesangbuchlieder zur Passionszeit zeugen davon. „Die Straf ist schwer, der Zorn ist groß. Du kannst und sollst sie machen los durch Sterben und durch Bluten“. O Menschenkind bedenk das recht, wie Gottes Zorn die Sünde schlägt“ etc. Diese Theorie ist im Übrigen nicht erst heute zu einem starken moralischen Einwand gegen das Christentum geworden. Dass Gott ein Menschenopfer nötig hat, um sich mit uns versöhnen, sei „schauderhaftes Heidentum“ in der „barbarischsten Form“ hat F.Nietzsche gesagt.[1] Und Jürgen Habermas sieht geradezu den „normativen Kern“ der Aufklärungskultur darin, dass solche Vorstellungen sich erledigt haben.[2] Mein ehemaliger Berliner Kollege in der Praktischen Theologie, Klaus-Peter Jörns, macht zur Zeit in der Kirche viel von sich reden, indem er fordert, von der
Opfertodvorstellung ganz Abschied zu nehmen, weil sie einen Gott der Gewalt verherrliche, der Menschen anstifte, statt mit Liebe mit Gewalt auf menschliche Untaten zu reagieren. Er unterstellt, dass im Abendmahl die Gewalt Gottes verherrlicht wird und hat deshalb eine neue Abendmahlsfeier erfunden, die eine Art Dankbarkeitsmahl für die Schöpfungsgaben ist.
Nun wird jeder moralisch empfindende Mensch der Empörung zustimmen können, die hier laut wird. Wenn es so wäre, dass die Deutung des Todes Jesu als Opfer besagt, Gott benötige das Blutopfer des Menschen Jesus, dann sieht es – mit Ernst Bloch geredet – so aus, als würde über dem Leben Jesu ein furchtbarer Götze walten, „der nur durch Blutsopfer besänftigt werden kann“. Dann ist diese Vorstellung also ungeeignet, uns den Heilssinn des Todes Jesu aufzuschließen. Dann wird unser Mitgefühl mit dem Menschen Jesus gegen diesen Gott aufgerufen.
Verwenden wir aber die Vorstellung vom Opfer als Deutekategorie für den Heilssinn des Todes Jesu weiter, dann werden wir sehen müssen, wie wir mit dem Phänomen der Gewalt umgehen, das zweifellos mit dieser Kategorie verbunden ist. Ein Tier wird kultisch geschlachtet, nachdem auf es die Schuld von Menschen übertragen wurde. Das ist ein kultischer Gewaltakt. Wir reden heute jedoch auch unabhängig vom Kultus von Opfern der Gewalt durch Krieg, Terror, Verbrechen, den Verkehr, die Umweltverschmutzung usw. Auch die Vorstellung, dass Opfer gebracht werden müssen, um etwas Gutes für die Gesamtheit zu bewirken, ist uns nicht fremd. An diesen phänomenologischen Zusammenhang des heutigen Opferverständnisses mit der kultischen Opfervorstellung hat Raymund Schwager im Anschluss an Rene Girard angeknüpft. Er will damit zeigen, dass die Anwendung der Kategorie des Opfers auf den Tod Jesu durchaus einen gegen die Gewalt gerichteten Sinn gewinnen kann. Mehr noch: Er meint, uns würde für das Verständnis Jesu Entscheidendes verloren gehen, wenn wir auf die Kategorie des Opfers zur Deutung des Heilssinns seines Todes verzichten würden. Wir würden dann die heilenden Kräfte, die von seinem Leben und Sterben ausgehen, nicht mehr in einer Welt verständlich machen können, in der Menschen zum Opfer menschlicher Gewalt werden.
Um Christi Tod als Opfer mit heilender Kraft zu verstehen, wird von Schwager nicht die Vorstellung des geschlachteten Sühnopfers, sondern die des „Sündenbocks“ in den Vordergrund gestellt, auf den Menschen ihre Schuld abladen.[3] Nach Rene Girard liegt dieser Opferpraxis seit Urzeiten ein Muster menschlichen Verhaltens in einer Gemeinschaft zugrunde. Menschen projizieren in archaischen Gesellschaften die Schuld für negative Vorgänge oder gemeinsame Schuld in der Gesellschaft auf ein zufälliges Opfer, dem gegenüber sich dann Gewalt kollektiv entlädt. Später kann ein solches Opfer dann zum Gegenstand religiöser Verehrung werden und in dieser Verehrung zum Garanten sozialer Harmonie aufsteigen.
Ich diskutiere jetzt die im Einzelnen ziemlich komplizierte Theorie von Girad nicht, sondern konzentriere mich auf den Gesichtspunkt, den Schwager aus ihr aufgreift. Danach gilt: Jesus, der gewaltlos existierte, wurde zum Opfer der Gewalt von Menschen. Es handelt sich dabei um ein „Drama“ in verschiedenen Akten. Jesus verkündigt (1) den liebenden, zuvorkommenden Gott der Gottesherrschaft. Er erfährt (2) schon während seines Auftretens Ablehnung. Er wird (3), weil er die Lüge und die Gewaltmechanismen in der Gesellschaft und der Religion aufgedeckt hat, als Gotteslästerer angeklagt. Er reagiert aber nicht mit Gegengewalt. In der Auferweckung (4) bekennt sich Gott zu diesem Menschen und macht deutlich, dass er um der Freiheit der Menschen nicht mit Macht eingegriffen hat, um seinen Sohn zu retten, aber das von diesem Tode und damit von ihm der Geist der Verzeihung ausgeht. Seit Pfingsten werden die, die in diesem Geist leben, einen ähnlichen Weg gehen. Denn die Macht des Bösen „sollte nicht mit Macht besiegt“, „sondern von innen her, aus ihrem eigenen Kerker heraus besiegt werden“.[4] Gerade darin sollen ihn die Glaubenden nachahmen, indem sie durch Gewaltlosigkeit und Verzeihen den Geist der Gewalt von innen her ausdorren.
Die Opfervorstellung in dem so interpretierten Sinne verlangt uns demnach einen Wechsel der Perspektive ab. Sie setzt ein mit der Bezeugung und Darstellung des gewaltlosen Gottes, den Jesus verkündigte und für den er lebte. Er wird dadurch zum Opfer menschlicher Gewalt, aber er bleibt seiner Verkündigung treu, indem er diese Gewalt erträgt. Das ist ein Gedanke, der in der Passionsfrömmigkeit auch schon immer eine Rolle gespielt hat. Aber wir dürfen dabei nicht stehen bleiben. In der Perspektive des Jesus auferweckenden Gottes wird ein für allemal bestätigt, dass der sakralen und säkularen Gewalt durch die mitleidende Liebe des Sohnes Gottes der Boden der Zukunft entzogen wurde.
Wichtig ist außerdem, dass hier der Tod Jesu nicht isoliert in den Blick genommen wird. Das ganze Leben Jesu macht sein Opfer verständlich. Indem Jesus mitten unter uns Menschen der Mensch ist, der der Gewalt von innen das Wasser abgräbt, geht von seinem Opfer die Dynamis der Liebe Gottes aus. Indem Menschen sich auf dieses Opfer beziehen, ist in ihrem Leben schon der Anfang eines neuen Lebens gemacht. Das gibt der Vorstellung der Stellvertretung dann auch einen guten und unentbehrlichen Sinn. Es geht dabei nicht darum, dass die Schuld von Menschen auf einen anderen übertragen wird. Vielmehr wird in einer Situation, in der sich alle der Gewalt gegen Gott und die Menschen schuldig machen, durch diesen einen neuer Anfang des Lebens mitten im eigenen Leben eröffnet.
Können wir in dieser Weise mit Schwagers Interpretation des Opfers Christi zusammenstimmen, so macht theologisch doch ein wenig zu schaffen, dass der Sühnopfergedanke aufgegeben wird. Er spielt im Neuen Testament ja tatsächlich eine Rolle und wir sind gefragt, wie wir in unserer Verkündigung mit den Texten umgehen, die davon reden. Insbesondere der Hebräerbrief will einprägen, dass Christus das Opfer für die Sünde „ein für allemal“ und vollkommen vollzogen hat (vgl. Hbr 10,10). Es muss darum nicht wiederholt werden. Er ist der Opfernde, das Opfer und der Hohepriester, der sein Selbstopfer vor Gott bringt (vgl. hierzu Hebr 9 - 10). Er ist sowohl die vollkommene Form des Sündopfers am großen Versöhnungstag (Lev. 16,21f.), des Bundesopfers von Ex 24 und des Reinigungsopfers der rötlichen Kuh von Nu 19. Durch dieses Selbstopfer hat er eine vollkommenere Sühne undBefreiung vollbracht, als es je das Blut von Tieren sein könnte. Er hat sich geopfert, damit sein Leben ohne Sünde zur Kraft unseres Lebens werden kann. Es hat, weil er der ewige Hohepriester ist, einen endgültigen Zustand der Bereinigung unseres Verhältnisses zu Gott heraufgeführt.
Diese Pointe finden wir auch sonst im Neuen Testament, wo der Tod Christi mit dem Opfergedanken interpretiert wird. Er hat sein Blut für unsere Sünden als Sühne dahingegeben (Röm 5,9; Kol 1,20, Apk 5,9 u.ö.) Er wird als Opferlamm (Joh 1,29; I Petr 1,19, Eph 5, 2) und als Passahlamm (I Kor 5,7) bezeichnet, weil wir durch seine Hingabe aus der Todessitution der Sünde erlöst wurden.
Um ein Verständnis dieser Texte zu erlangen, ist es sinnvoll, sich das alttestamentlichen vom Sühnopfer und damit von Sühne zu vergegenwärtigen. Sühne ist demnach nicht verwechseln mit Wiedergutmachung. Gesühnt wird vielmehr – und das ist wichtig – was nicht wieder gutzumachen ist, was sich vom Schuldigen nicht tilgen lässt. Er steht darum vor Gott mit seinem ganzen Sein auf dem Spiel und kann seine Schuld nicht loswerden, indem er irgendetwas opfert. Er muss sich selbst opfern. Deshalb setzt Sühne – sagt Hartmut Gese – auf Seiten des Schuldigen „die Bereitschaft zum Tode“ voraus.[5] Diese Bereitschaft wird ihm Opferkultus nun so dokumentiert, dass sich der Schuldige in einem Akt der „Subjektübertragung“ selbst mit dem Opfertier identifiziert, sich selbst hingibt an das Heilige, das ihm Leben aus diesem Tode gewährt. Zum Sühnopfer gehören also die drei Akte: Subjektübertragung, Tötung des Opfertieres und Inkorporation in das Heilige.
I. U. Dalferth hat nun mit Recht darauf hingewiesen, dass sich bei der Deutung des Todes Christi als Sühnopfer diese Reihenfolge geradezu umkehrt.[6] Indem der Sohn Gottes, also der heilige Gott, laut der Auferstehung den Tod dieses Menschen, der in Gottes Augen für die ganze Menschheit steht, teilt, ist der grundlegende dieses Opfers Akt die Inkoporation der sündigen Menschen in sein eigenes Leben. Nicht Menschen tun etwas, um Gott nahe zu kommen, sondern Gott kommt ihnen so nahe, dass sie die neue Identität mit ihm versöhnter Menschen erhalten, die sie glaubend empfangen. Der Glaube ist also die Übertragung einer neuen Identität, für die Gott endgültig gut steht.
Darum ist fortan kein Opferkult mehr nötig. Mittels dieses Opfers wird im christlichen Glauben ein für allemal die Opferpraxis von Menschen verabschiedet. Ein Sühnopfer kann der Tod Jesu Christi also nicht darum heißen, weil hier ein Mensch im Namen aller Menschen Gott sein Leben opfert. In dieser Hinsicht bleibt es dabei, dass Menschen Jesus Christus Gewalt antun und hinrichten. Mit den Jesus hinrichtenden Menschen identifiziert Gott, der Vater, sich aber nicht, sondern mit dem Hingerichteten![7] Er - Gott - brachte sich selbst zum Opfer und hat dadurch alles menschliche Opfern - inclusive seiner gewalttätigen Seiten überflüssig gemacht.
Der Ent-Gewaltigung des Opfers, die bei Schwager vom Menschen Jesus her im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, tritt also in der zweiten Hinsicht unter der Leitung der Umkehrung der Sühnopfervorstellung von Gott her das Einströmen göttlichen Lebens in unser Leben zur Seite. Wo wir uns den Tod als der Sünde Sold zuziehen, lässt uns Gott in der Kraft seines Lebens aus dem Tode neues Leben zukommen. Wir stehen, wenn wir im Glauben auf diesen Gott und sein Opfern bezogen sind, nicht mehr unter der Macht der Sünde. Gott macht unsere Sündlosigkeit zum Ausgangpunkt unseres Lebens. Wir sollen unsere Leiber, sagt Paulus in Röm 12,1f. „zu einem lebendigen, heiligen und Gott wohlgefälligen Opfer geben.“ Hier und auch an anderen Stellen (I Pt 1, 15; 2,5f.) wird der Begriff des Opfers also zur Metapher dafür, dass unser ganzes Leben ein dem Leben Gottes menschlich entsprechender Vollzug sein soll.
3. Die juridische Deutung des Todes Jesu
Um die gegenwärtige Debatte um die Sühnopfertheologie zu entspannen, ist es geraten, das wir uns nicht verkrampft auf sie konzentrieren. Es ist nicht die einzige Deutungsmöglichkeit des Todes Jesu für uns im Neuen Testament und in der christlichen Tradition. Die umfangreichste Versöhnungslehre des vorigen Jahrhunderts, nämlich die Karl Barths, kommt ganz ohne sie aus und behandelt sie lediglich in einem Exkurs. Leitend ist bei ihm aus dem Neuen Testament die Deutung der Todes Jesu, die wir „juridisch“ nennen. Worum geht es dabeiß
Auch sie ist, wie die Verwendung des Kategorie des Opfers zur Deutung des Todes Jesu Christi mit dem Stellvertretungsgedanken verknüpft und wird deshalb häufig mit der Opfertodtheologie verwechselt. Dennoch liegt hier der Ton auf etwas anderem, nämlich, dass Jesus sich als Mensch unter das Gesetz begeben hat und dadurch, dass er den Fluch des Gesetzes auf sich genommen hat, das Gesetz an unserer Stelle erfüllt hat (vgl. Gal 3,13). Der von keiner Sünde wusste, wurde so für uns zur Sünde gemacht (II Kor 5,21). Er hat uns dadurch von der Sünde „losgekauft“ (vgl. Gal 3,11).
Vorausgesetzt ist hierbei (wie auch bei der Opfervorstellung), dass Jesus sündlos existiert hat. Das ist eine Aussage, die sich empirisch überhaupt nicht ausweisen lässt. Indem Jesus Mensch ist, ist er auch in die menschliche Sündensituation verwickelt. Er teilt diese Situation und das, was er tut, wird in den Relationen der von der Sünde geprägten Wirklichkeit wirksam, d. h. es gerät in die Zweideutigkeit aller unserer Verwirklichungen hinein. Die Sündlosigkeit Jesu kann darum im Nachsprechen des Auferstehungsurteils Gottes über diesen Menschen ausgesagt werden, wobei vorauszusetzen ist, dass Gott selbst ja im Weg und im Verhalten dieses Menschen als anwesend zu verstehen ist.
Unter dieser Voraussetzung gilt dann ebenfalls von Gottes Urteil in der Auferweckung her, dass Jesus den Willen Gottes gelebt hat, dass er als mit dem Gesetz in einer von Gott bejahten Weise verfahren ist und selbst nicht der Sünde Raum gegeben hat. Der Mensch Jesus nimmt unsere Situation an, die unter der Bestimmung steht, den Willen Gottes, sein Gebot, zu erfüllen. Diese Situation wird durch sein Verhalten grundlegend geändert, sofern Gott in seinem Menschsein das Menschsein aller Menschen annimmt. Es ist die Situation des erfüllten und nicht des noch zu erfüllenden Gotteswillens. Sieht Gott uns in diesem Menschen an, dann begegnet er uns nicht zuerst als Fordernder, sondern als mit uns ganz Einverstandener. Wir haben die Situation des Ausstandes gegenüber Gott hinter uns. Der erfüllte Wille Gottes ist unsere Lebensgrundlage.
Doch Paulus meint noch mehr, wenn er davon redet, dass Jesus „unter das Gesetz“ getan war (vgl. Gal 4, 4). Er hat sich dadurch auch den Fluch des Gesetzes zugezogen, er wurde zum Fluch für uns (Gal 3, 13). Der Fluch des Gesetzes ist, dass er Menschen unerbittlich ernten lässt, was sie mit ihrer Sünde anrichten. Er bringt ihnen den Tod. Das Verhalten Jesu Christi hat diese Folge aber gerade nicht. Erleidet er den Tod, dann teilt er unsere Situation so, dass er den Fluchtod über sich ergehen lässt, der denen zukommt, welche die Sündensituation schaffen. Während sündige Menschen den Konsequenzen ihres Handelns zu entkommen suchen, stellt sich Jesus in die reale Situation, in der sie sich befinden.
An dieser Stelle stoßen wir nun auch hier auf das gleiche Problem, was uns schon beim Verständnis des Opfers Christi zu schaffen gemacht hat. Warum muss dieser Mensch den Fluch, den alle verdient haben, nur nicht er, erleiden? Warum besteht Gott darauf, dass die Sünder und Sünderinnen für ihr Tun sterben müssen? Demgegenüber ist zweierlei zu bedenken.
Zum einen: Wie schon in Schwagers Konzeption deutlich wurde, muss auch hier berücksichtigt werden, dass Menschen sind für Gott keine unwichtigen Puppen sind, so dass es egal ist, was sie tun und lassen. Als Geschöpfe sind sie für sich verantwortlich und Gottes Gesetz hält fest, dass sie dieser Verantwortlichkeit nicht entfliehen können. Denn Menschen sind als Gottes Geschöpf gegenüber Gott nicht so verschwindend klein und unwesentlich, dass ihre Sünde gar nicht in Gewicht fällt. Wenn Gott in gewissermaßen nachlässiger Weise mit den Sünden und Verbrechen der Menschen umgehen würde, wäre er sich für die Menschen zu schade. Dann würde er gar nicht in ihre Situation eintreten. Dass er in Jesus Christus in diese Situation kommt, zeigt aber, wie er zutiefst davon betroffen ist. Dementsprechend ist auch all das, was vom Vergeben der Sünde gesagt werden muss, nicht mit einer Vertuschung der Situation erkauft, in der Menschen sich befinden. Es ist ein „Sein zum Tode“, das ebenso ernst genommen wird wie das Verhalten, dass es mit dem Menschsein dahin kommen ließ.
Gerhard Ebeling hat deshalb zu Recht gesagt, es würde „buchstäblich“ die „Menschenverachtung Gottes“ dokumentieren, wenn Gott mit uns Menschen und unseren Taten so umgehen würde, als seien die Konsequenzen unseres Tuns nicht der Rede wert.[8] Was Menschen tun, ist nicht eine Sache von ewiger Gleichgültigkeit. Darum ist sind Menschen nicht nur gerichtsfähig, sondern auch gerichtswürdig. Sie leben mit einer Instanz, die sie bei ihrer Verantwortung behaftet. Insofern ist die biblische Vorstellung vom Gesetz Gottes, das nach Erfüllung verlangt, eine Vorstellung zugunsten des eigenverantwortlichen Geschöpfs. Sie wird in Christus nicht aufgehoben, sondern bestätigt, indem Jesus sowohl den guten Sinn des Gesetzes erfüllt als auch die Situation erträgt, in die das Tun aller anderen ihn bringt.
Zum anderen muss auch hier gelten, was schon im Hinblick auf die Opfervorstellung geltend gemacht wurde. Schuld am Tode Jesu sind nur Menschen und nicht Gott. Aus dieser Perspektive kann nicht davon die Rede sein, dass Gott den Tod dieses Menschen wollte. Indem er aber diese schrecklich pervertierte Eigenständigkeit der Geschöpfe nicht mit Übermacht verhinderte, stellt er sich zu dem, macht er sich mit dem eins, der die Todeskonsequenzen des Gesetzes erträgt. Wie Menschen hier Gottes Gesetz in ihre Hände nehmen, ist ja in sich selbst schon ein Vergehen an seinem Lebensgesetz, das nun in einem Kreislauf der Todeslogik steckt und auf perverse Weise bestätigt, was das Gesetz sagt. Wenn Gott sich dieses Gerichts selbst für schuldig erklärt, indem er es mit Jesus erträgt, dann rechtfertigt er nicht die Täter, aber er bestätigt, dass es für sündige Menschen aus dieser Todeslogik kein Entrinnen gibt. Er selbst kann ihr nicht entrinnen, indem er so tut als gäbe es sie nicht. Darum identifiziert sich mit der verlorenen Situation unter dem Gesetz, die Menschen geschaffen haben.
Wohlgemerkt: Der Mensch Jesus als solcher ist einer unter vielen, dem in der Situation des Gesetzes von Menschen Gewalt angetan wird. Nur weil Gott sich selbst diese Gewalt angehen lässt, schreit sein Blut anders („besser“) als das Abels (vgl. Hebr 12, 24). Es hat gerade bei aller Ernstnahme der Sündensituation die Stimme der Versöhnung bekommen, die Menschen von der Anklage und Todesdrohung des Gesetzes frei macht. Insofern besteht, wenn wir auf Gott beziehen, der sich die Todesfolge des Gesetzes im Menschen Jesus selbst angehen lässt, für uns die neue Rechtsituation mit Gott versöhnter Menschen, von Gott mit Gott versöhnter Menschen.
„Gott war in Christus und versöhnte die Welt (!) mit sich selbst und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu“, sagt Paulus in II Kor 5, 19 pointiert und nicht: „Er ließ sich versöhnen“. Versöhnung heißt: Ein Feindschaftsverhältnis ist beendet, das Feindschaftsverhältnis nämlich, welches wir durch unsere Sünde zwischen uns und Gott aufgerichtet haben. Durch sein Dazwischentreten in dieses Feindschaftsverhältnis herrscht nun Friede zwischen Gott und Mensch, an dem wir im Glauben Anteil bekommen (vgl. Röm 5,1). Paulus hat das mit seiner Lehre von Rechtfertigung des sündigen Menschen aus Glauben ohne des Gesetzes Werke (Röm 3, 28) entfaltet. In ihr wird klar, dass Gott zur Sünde und ihren Folgen Nein sagen muss und dass er selbst für dieses Nein einsteht, weil er den Sünderinnen und Sündern eine versöhnte Wirklichkeit zuteil werden lassen will, in der die tödliche Kraft des Gesetzes nicht mehr wirksam ist. Wo immer Jesus Christus begegnet, kann Gottes Ja zu uns nicht ohne dieses Nein gehört werden. Es ist ein Nein, das uns gilt, das aber in Jesus Christus seine vernichtende Kraft für uns verloren hat, so dass wir von ihm her lauter Ja Gottes zu uns vernehmen. Die juridische Interpretation des Todes Jesu darf darum nicht bloß eine dem Umgang des Paulus mit dem Gesetz Israels geschuldete Sonderlehre angesehen werden. Sie gehört gerade heute zu den Fundamenten des christlichen Verständnisses der Menschlichkeit des Menschen!
4. Schlussbemerkung
Ich mache eine Schlussbemerkung, die kein Abschluss ist. „Für uns gestorben“ – so sagten wir zu Beginn – ist das Urgestein des christlichen Bekenntnisses zu Jesus Christus. Es speist sich aus Glaubenserfahrung der ersten Christenheit, dass der Tod Jesu Christi kein Abschluss, keine Ende seiner Verkündigung des Gottes der Liebe und seines Auftretens als mit allen Menschen solidarischer Mensch ist.
Er ist ein neuer Anfang für uns, weil dieser Tod uns im Unterschied zu all den Toden, die Menschen sterben, uns nicht in den Sog der Vernichtung hinein zieht oder uns die Sinnlosigkeit unseres Lebens predigt, wie es die vielen Tode der von Menschen Geopferten und Gemarterten tun. Wenn wir uns – ein Wort von Dietrich Bonhoeffer aufnehmend – in den Tod und das Sterben dieses Menschen so „versenken“, wie uns unsere eigene, glaubende Erfahrung des Auferstandenen anweist, dann strahlt von diesem Tode Mut zum Leben, aber auch – wenn es an der Zeit ist – Mut zum Sterben aus. Ob nun kultisch oder juridisch oder noch in anderen Akzentuierungen gedeutet: Am Ende kommt alles darauf an, ob wir mit Paul Gerhard diesen Tod in einen Gesang fürs Leben fassen können, der vom Opferlämmlein für uns, für mich singt:
Im Streite soll es sein mein Schutz/In Traurigkeit mein Lachen…/im Durst soll’s sein mein Wasserquell/in Einsamkeit meine Sprachgesell.
Vielleicht haben Sie damit wie ich auch einige Erfahrungen und sind darum gewillt, mit den neutestamentlichen Deutungen des Todes Jesu „für uns“ mit dem Willen zum Verständnis ihrer Wahrheit umzugehen.
[1]F.Nietzsche, Der Antichrist, Krit.Ausgabe Band 6, 215, vgl die schon erwähnte Kritik von Bloch
[2] Die postnationale Konstellation, Frankfurt 1998, 52.
[3] R. Schwager, Die Spannung aushalten. Zu einer christlichen Theologie des Opfers, in: Leo Karrer u.a., Gewaltige Opfer. Filmgespräche mit Rene Girad und Lars von Trier, Köln 2000, 24.
[4] Schwager, Spannung, 26
[5] Hartmut Gese, Die Sühne, in: Zur biblischen Theologie. Alttestamentliche Vorträge, Tübingen 1989, 90.
[6] Der auferweckte Gekreuzigte, 277.
[7] Vgl. E. Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, 1989, 139.
[8] G.Ebeling, Dogmatik Bd. 2, 194ff. - vgl. auch die ähnliche Argumentation im Hinblick auf das Jüngste Gericht