Theologiegeschichte des 20. Jh.
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20.03.2015 22:06 Alter: 9 yrs
Kategorie: Theologiegeschichte des 20. Jh.

§ 9 Die Barmer Theologische Erklärung


Alle Thesen sind so aufgebaut, das ihnen ein Schriftwort voran gestellt ist. Die Thesen wollen deshalb als Antwort auf das Hören auf die Schrift verstanden werden. Daraus ergibt sich folgerichtig die Verwerfung „falscher Lehre“.

Es fällt auf, dass keine alttestamentlichen Schriftworte gewählt wurden. Das weist auf ein gravierendes Versäumnis der Barmer Theologischen Erklärung hin. Sie enthält keine Stellungnahme zur Verfolgung der Juden, sondern ist vor allem auf die Selbsterhaltung der Kirche bedacht. Darum hat Hans Asmussen in seinem Einführungsvortrag zu diesen Thesen (der auf der Synode als legitimierter Kommentar verabschiedet wurde) auch beteuert: „Wir protestieren nicht als Volksglieder gegen die jüngste Geschichte des Volkes, nicht als Staatsbürger gegen den neuen Staat, nicht als Untertanen gegen die Obrigkeit.“

Die erste These:

Durch diese These mit ihren Anklängen an Luthers Auslegung des 1. Gebots („Wir sollen Gott über alle Dinge lieben und vertrauen“) und an die 1. Frage des Heidelberger Katechismus („Was ist dein einiger Trost im Leben und im Sterben“?) wird zweifellos die reformatorische Rechtfertigungslehre eingeprägt. In Sachen unseres Heils gilt: allein die Schrift, allein Christus, allein das Wort, allein der Glaube. Die „einzige und vordringliche Aufgabe der Kirche“ ist es dementsprechend, „Jesus Christus zu predigen“ (Asmussen).  Die erste These ist das Zentrum dieser Erklärung, von der her auch alle anderen Thesen verstanden werden müssen.

Doch ist dieses „eine Wort“ nun als einziges Wort zu hören oder ist es nur das entscheidendes Wort, so dass Spielraum bleibt, auch auf andere Worte Gottes außerhalb Jesu Christi zu hören?

Karl Barth hat „das eine Wort“ – wie die „Frankfurter Konkordie“ zeigt – als einziges Wort verstanden. Neben ihm können nicht „noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung“ anerkannt werden. Alle „natürliche Theologie“ wird in Barmen 1 darum aus der Verkündigung der Kirche ausgeschlossen  (KD II/1, 197), nicht bloß die der „Deutschen Christen“. „Wir erheben Protest gegen dieselbe Erscheinung, die seit mehr als 200 Jahren die Verwüstung der Kirche schon langsam vorbereitet hat“, sagte Hans Asmussen in diesem Sinne in seinem Synodalvortrag. Barth pflichtet ihm bei: „Man widersprach den Deutschen Christen, indem man der ganzen Entwicklung widersprach, an deren vorläufigem Ende die Deutschen Christen standen“ Barmen 1 ist „die Reinigung der Kirche [...] von aller natürlichen Theologie“ (ebd). Den willkürlichen und widersprüchlichen Gottesbildern, die auf Grund von Interpretationen der Geschichte, der Natur, des menschlichen Fragens konstruieren werden, soll die Kirche nicht ausliefert werden 

Die Aufklärungs- und Emanzipationsfeindlichkeit, die in Assmussens Polemik gegen die „Kultur, das ästhetische Empfinden, den Fortschritt“ etc. anklingt, hat Barth aber nicht geteilt. Sie gehörte eher zur Ideologie der Deutschen Christen.   

Viele „Lutheraner“, die Barmen 1 zustimmten und zustimmen, verstehen das „eine Wort“ als entscheidendes Wort, das andere Offenbarungen Gottes – wenn auch nicht solche wie die „deutsche Stunde“ etc. – aber durchaus nicht in jeder Hinsicht ausschließt. Dafür spricht, dass der Verwerfungssatz, andere „Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten“ nur als „Quelle Verkündigung“ der Kirche negiert.

Auch Barth hat gesagt: „Wir leugnen nicht den Satz, dass Gott die ganze Welt und also auch solche Gestalten, Ereignisse und Mächte in seinen Händen hält, ja wir leugnen nicht einmal, dass er sich auch in ihnen offenbart. Was hier gesagt werden soll, ist dieses: Wir erkennen Gott nicht so in diesen Gestalten, Ereignissen und Mächten, dass wir mit dem Finger darauf weisen könnten, […] dass dieses Erkennen zu einem Erkennen neben der Erkenntnis Gottes in Jesus Christus werden könnte“ (Texte, 19). Vgl. auch KD I/1,56: „Gott kann durch den russischen Kommunismus, durch ein Flötenkonzert, durch einen blühenden Strauch oder durch einen toten Hund zu uns reden.“ Wir sind aber nicht beauftragt, das zur Grundlage der Verkündigung der Kirche zu machen. „Wir sind nicht frei, 'Gott' zu nennen, was uns göttlich dünkt, sondern wir haben uns an Gottes Offenbarung in Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt ist, zu halten“ (K. Barth, Bekennende Kirche in Deutschland, ThExh NF 49, München 1956, 33).

Entscheidend bleibt darum, von woher sich das Gottesverständnis der Kirche konstituiert. In dieser Hinsicht steht Barmen 1 durchaus in der Tradition von Luthers, wie Hans-Joachim Iwand und Edmund Schlink, aber auch Heinrich Vogel und Ernst Wolf betont haben (vgl. Literaturverzeichnis). Gott ist zwar jedem Menschen gegenwärtig. Sofern sündige Menschen ihn aber mit Hilfe der „natürlichen Theologie“ zu erkennen oder gar zu verehren trachten, machen sie ihn zum Götzen.

Luther hat in seiner Genesisvorlesung gesagt: „Derartige Erwägungen, die über und außerhalb der Offenbarung Gottes noch etwas Höheres erforschen, sind durch und durch vom Teufel; es wird durch sie nichts weiter erreicht, als dass wir uns selbst ins Unglück stürzen, weil sie uns einen unerforschlichen Gegenstand vorlegen, nämlich den nicht offenbaren Gott“ (WA 43, 458f.). Nur der im Kreuz Jesu Christi begegnende Gott kann für den Menschen der sein, in dessen Erkenntnis sündige Menschen zu leben vermögen. An das Wort vom Kreuz, das uns unsere Sünden vergibt, sollen wir uns darum halten. Der Gott, der hier spricht, ist der Gott für uns. Den in seiner Majestät verborgenen Gott sollen wir dagegen unerforscht lassen: „Was über uns ist, geht uns nichts an“ (vgl. hierzu Eberhard Jüngel:  Quae supra nos, nihil ad nos. Eine Kurzformel der Lehre vom verborgenen Gott im Anschluß an Luther interpretiert, in: Entsprechungen. Gott - Wahrheit - Mensch, Münden 1980, 202-251). 

Auch lutherische Theologen, die Barmen ablehnen, sind sich in Sachen „natürliche Gotteserkenntnis nicht einig. Weil man den „verborgenen Gott!“ nicht erkennen kann, hat Werner Elert „natürliche Theologie“ im positiven Sinne abgelehnt: Gott außerhalb Christi ist „unerkennbar [...] im furchtbarsten Sinne des Wortes [...] Er ist der absolut Fremde, zu dem es keine Brücke, keinen Weg, keine Verständigungsmöglichkeit gibt“ (Der christliche Glaube, 155). Gotteserkenntnis  gewinnen wir nur durch das Evangelium im Glauben. Die Erfahrung Gottes unter dem Gesetz (die wir nach Elert allerdings machen müssen, wenn wir das Evangelium erfahren wollen) ist dagegen heillos. 

Paul Althaus hat im Unterschied dazu eine „Ur-Offenbarung“, eine „Selbstbezeugung und Selbsterschließung Gottes“ in der Geschichte, in der Existenz von Menschen und der Natur gelehrt, die uns existentiell an Gott „glauben“ lässt (Die christliche Wahrheit, 73). Edmund Schlink hat solche und ähnliche Versuche natürlicher Gotteserkenntnis „romantische Anläufe gegen die lutherische Lehre von der verderbten Schöpfung“ genannt. Es ist nicht möglich, „von irdischen Gegebenheiten her eine Treppe anzulegen“, die die „Lehre und Predigt vom Schöpfer zur allgemeinverständlichen Vorstufe der Versöhnungslehre“ macht (Die Verborgenheit des Schöpfers nach lutherischer Lehre, 220). Die unsicheren Wege der „natürlichen Theologie“ führen, wie es in extremer Weise bei den „Deutschen Christen“ geschah, dazu, die Dunkelheit natürlicher Gotteserkenntnis als Licht auszugeben.

Die zweite These:   

Diese These ist die konsequente Fortsetzung von Barmen 1. Der Rechtfertigung folgt die Heiligung, d.h. das Leben, Handeln und Verhalten der Glaubenden, das ganz vom Glauben an an das eine Wort bestimmt ist. Wir müssen nicht nach anderen Instanzen suchen, wenn wir recht handeln wollen. Gottes lebendiges Wort, sein Zu-Spruch, ist so konkret, dass es uns zugleich zum An-Spruch wird. Wir sind darum in keinen „Bereichen“ unseres Lebens aus diesem Anspruch entlassen. 

Werner Elert hat diese These ein „Schulbeispiel theologischer Verschleierung“ genannt, weil sie auf der einen Seite das Gesetz gar nicht erwähnt und auf der anderen Seite das Evangelium (den Zuspruch) faktisch zum Gesetz (zum Anspruch) macht (Confessio Barmensis, 601). In der Tat wurde auf der Synode der Begriff des „Gesetzes Gottes“ bewusst vermieden, um den Streit über das Verhältnis von „Gesetz und Evangelium“ zu umgehen. In der „Frankfurter Konkordie“  hieß es noch: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als gäbe es Gebiete unseres Lebens, auf denen wir nicht Jesus Christus, sondern Herren außer ihm gehören, nicht seinem, sondern einem von ihm unabhängigen Gesetz verantwortlich wären.“ 

Mit anderer Begrifflichkeit wird dennoch eine Gesetzeslehre verneint, die davon ausgeht, dass Gottes sich mit seinem Gesetz in gegebenen „natürlichen“ Ordnungen offenbare. Das geschieht hier jedoch so, dass das ganze Problem, wo und wie wir Gottes Anspruch (Gesetz) vernehmen, an einem anderen theologischen Ort festgemacht wird als dem politicus usus legis, nämlich im Rahmen der Lehre von Rechtfertigung und Heiligung. 

Jesus Christus beansprucht, indem er uns unsere Sünden vergibt, zugleich unser ganzes Leben und Handeln in der Welt. Das Auseinanderreißen von Rechtfertigung und Heiligung wird darum von Asmussen in seiner Kommentierung als die Grundform der Irrlehre angesprochen, gegen die sich diese These wendet.

Diese Reaktion auf die Gesetzlehre der „Deutschen Christen“ hat aber auch ihren Preis. Sie beschränkt die ganze Problematik auf das Leben der Glaubenden. Man kann auch sagen: Sie hat den tertius usus legis im Blick. Ungeklärt bleibt dann aber, was das Gesetz Gottes für die Welt überhaupt bedeutet. 

Das ist bei Barth selbst jedoch nicht der Fall. Für ihn muss das Gesetz Gottes vom Evangelium her verstanden werden, so dass er statt von „Gesetz und Evangelium“ von „Evangelium und Gesetz“ redet. Er hat aber das Verhältnis von Evangelium und Gesetz wenig glücklich zum Ausdruck gebracht, indem er das Gesetz die „notwendige Form des Evangeliums, dessen Inhalt die Gnade ist“, genannt hat (Evangelium und Gesetz, ThExh 32, 1935, 11). Das erweckt den Anschein, als habe das Evangelium nur in Gestalt der Forderung konkrete Bedeutung für uns. Der Begriff des Anspruchs ist besser. Gottes Zuspruch hat auch die Dimension einer Beanspruchung unserer Lebensführung. Es ist eine Beanspruchung, die ebenso wie das Evangelium allen Menschen gilt. 

Bei genauerem Hinsehen kann man bemerken, dass das auch der Textsinn der 2. These  ist: „[…] so und mit gleichem Ernst“ wie Gottes Zuspruch der Vergebung der Sünden gilt Gottes Anspruch. Das heißt einerseits: Mit gleicher Verbindlichkeit. Das „so“ ist aber nicht auf den Zuspruch, sondern auf den Anspruch zu beziehen! Denn „durch ihn“ widerfährt uns „frohe Befreiung“. Sein „richtender und uns rettender Anspruch (!)“, sagt Asmussen in seinem Kommentar, bedeutet uns „frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt“. Es geht also nicht um eine abstrakte Zwangsmacht, unter die Menschen hier zu stehen kommen. Vielmehr gilt: Gottes Gesetz ist für uns ebenso eine Wohltat wie die Vergebung der Sünden. Es gewährt uns Freiheit. Wir werden in den „freien Dienst an Gottes Geschöpfen“ gestellt. Das heißt: Wie Gott im Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden für uns eintritt, so sollen wir für eine bejahbare Geschöpflichkeit aller Menschen eintreten! Das ist der Sinn und Inhalt dieses Anspruchs. Das aber wird Christinnen und Christen hindern, irgendeinen „Bereich“ der Welt so zu betrachten, als gehöre Gottes gutes, befreiendes Gesetz nicht gerade hierher. Der Anspruch Gottes kann nicht auf Kirchengrenzen oder auf das christliche Leben fixiert werden. Er bezieht sich auf das Leben aller Geschöpfe Gottes. 

Das ist eine deutliche Abgrenzung gegenüber der sog. „Zwei- Reiche-Lehre“, nach der Gott im Bereich der Welt unter ganzen anderen Gesichtspunkten herrscht als im Bereich der Kirche, nämlich mit der Zwangsmacht des Gesetzes. Dem setzt Barmen 2 implizit die Vorstellung von der „Königsherrschaft Jesu Christi“ entgegen. Auch und gerade die Welt ist der Christusherrschaft nicht entzogen, sondern steht unter ihrem Anspruch. 

Der hervorgehobene Gebrauch des Wortes Freiheit macht sichtbar, worum es dabei geht. Es widerfährt uns „frohe Befreiung“ zu „freiem Dienst“. Die Befreiung besteht darin, dass wir von den „gottlosen Bindungen“ dieser Welt loskommen, d.h. von dem, was uns in der Welt und aus der Welt heraus mit dem „Anspruch göttlicher Bindung“ begegnet. Nichts jedoch hat in der Welt die Qualität, uns wie ein Gott binden zu dürfen. 

Im befreienden Glauben an Gott wird uns die Welt zum relativen, bejahbaren Ort unseres Daseins, zur nüchtern in ihrer Weltlichkeit ernst zu nehmenden Welt, in der wir als freie selbständige, verantwortlicher Subjekte in Entsprechung zur göttlichen Bejahung und Bewahrung der Geschöpfe Gottes handeln dürfen. Alle Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass Christinnen und Christen verlässliche Partnerinnen und Partner für Menschen sind, die in ihrer Menschlichkeit verletzt werden. Wir empfinden heute mit Schmerz und Scham, wie sehr die Christenheit in dieser Hinsicht in ihrer Geschichte und bis heute gesündigt hat. Umso wichtiger ist es, dass die „evangelische Wahrheit“ von Barmen 2 in Kirche und Theologie eine lebendige Wahrheit bleibt. 

Die dritte These: 

Von den sechs Thesen der Barmer Theologischen Erklärung handeln allein drei (3, 4, 6) von der Kirche. Das entspricht dem Anliegen, die Kirche von fremden Einflüssen frei zu halten. „Die Kirche muss Kirche bleiben“ (Asmussen).

Die Kirche wird  als „Gemeinde von Brüdern“ definiert. Wichtig ist, dass die Kirche von der Gemeinde, von der Gemeinschaft des Leibes Christi (Eph. 4,1), her verstanden wird. Schlecht ist, dass  die „Schwestern“ unerwähnt bleiben. Es sollte aber im Blick bleiben, dass „Bruderschaft“ damals der Begriff war, mit dem die Zugehörigkeit der Judenchristen zur christlichen Gemeinde ausgedrückt wurde. Als von der Liebe geprägte, in gegenseitiger Zuwendung der Glaubenden existierende Gemeinschaft ist die Kirche Zeugin Jesu Christi. Barmen 3 will den Zusammenhang zwischen dem gegenwärtigen Christus, der Gemeinde und ihrem Zeugnisauftrag zu Geltung bringen. 

Die Gemeinde besteht aus „begnadeten“ Sündern und Sünderinnen. Sie sind selbst noch in die Sünde verwickelt, geben aber dem Wort Christi, das sie von der Sünde frei spricht, in ihrem Reden und Handeln durchgehend die Priorität. Sie können ihr Zeugnis von ihm deshalb nicht von „ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen“ bestimmt sein lassen. 

Auch diese Kirchenordnung hat nach Barmen 3 Zeugnischarakter. Das ist umstritten, weil Kirchenordnungen im reformatorischen Verständnis als ein „weltlich Ding“ gelten. Dennoch müssen Kirchenordnungen eine innere Beziehung zum Evangelium aufweisen. Sie dürfen nicht zum Widerspruch gegen die Botschaft des Evangeliums werden und schon gar nicht das gleiche Recht aller Gemeindeglieder verletzen. Es geht um Kirchenstrukturen, die der Gemeinschaft der Schwestern und Brüder dienen.

Barmen 3 zielt nicht auf die Selbstverkündigung der Kirche. Dass sie sich als Christi „Eigentum“ darstellt, bedeutet vielmehr: Sie wendet sich als dieses „Eigentum“ durch ihr Reden, ihr Leben und ihre Ordnungen anderen Menschen zu.  

Die eschatologische Aussage von Barmen 3 unterstreicht, dass die Kirche ein „wanderndes Gottesvolk“ ist, das sich an keine weltliche Zeit klammern kann wie an einen Endpunkt. Jesu Christi Gegenwart ist für sie zugleich Zukunft. Sie lässt die Gemeinde eine Gemeinschaft des Weitblicks sein. 

Die vierte These:

Die 4. These ist in ihrer Sprachgestalt nicht glücklich. Sie will nicht sagen, dass die verschiedenen Ämter die Ausübung des Dienstes der ganzen Gemeinde „begründen“. Der Sinn des Textes ist genau umgekehrt. Die Ämter sind die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes. Alle Ämter sind Dienst. Wenn es in der Kirche „Ämter“, d. h. die Institutionalisierung bestimmter Funktionen geben muss, dann sind diese Ämter nur als Aspekte des einen Dienstes der Gemeinde zu verstehen. „Führer“ scheiden darum aus! 

Unter den „Ämtern“ sind alle Ämter zu verstehen, die in der Gemeinde im Vollzuge ihres Dienstes nötig werden. Dagegen wird eingewandt, das sei eine unzulässige Marginalisierung des von Gott „eingesetzten Predigtamtes“.  Das „Predigt- und Hirtenamt“ dürfe nicht vom sog. „allgemeinen Priestertum“  aller Gläubigen, d.h. von der Verantwortlichkeit aller Glaubenden für das Zeugnis von Jesus Christus her begründet werden. Es verdanke sich einer „Stiftung“ Jesu Christi für dafür von Gott besonders berufene Menschen. 

Barmen 4 stellt das nicht grundsätzlich in Frage, ordnet das Predigtamt aber dennoch in alle Dienste der Gemeinde ein, so dass es keinen Herrschaftsanspruch der einen über die anderen begründet. „In der christlichen Gemeinde sind entweder Alle Amtsträger oder Keiner – wenn aber Alle, dann alle als Dienstleute“, hat Karl Barth gesagt“ (KD IV/2, 787). Mit mit einem besonderen Verkündigungsamt wird in Barmen 4 sicherlich gerechnet. Die Verantwortung des Predigtamtes aber besteht darin, die Glieder der Gemeinde zum eigenen Zeugnis von Jesus Christus zu befähigen. Jede Auffassung kirchlicher Ämter, die das Entstehen einer gemeinsamen „Arbeits-, Dienst- und Zeugnisgemeinschaft“ behindert oder unmöglich macht, unterliegt von Barmen 4 her der Kritik.

Die fünfte These:

Wie die Verwerfungen zeigen, gibt Barmen 5 dem Anliegen der „Zwei-Reiche- Lehre“ Raum. Der Staat kann nicht „die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen“. Er würde dann zu einer Pseudokirche. Dieser Begrenzung der Aufgabe des Staates entspricht die Begrenzung der Aufgabe der Kirche. Die Kirche kann sich nicht „staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen“. Sie kann nicht zu einem „Organ“ des Staates werden. Übergriffe und Vermischungen von Staat und Kirche werden damit ausgeschlossen. 

Wie der Staat im Kontext der ganzen Erklärung theologisch zu verstehen ist, erschließt sich von der 2. These her. Alle Menschen tragen Verantwortung für die rechte Geschöpflichkeit von Menschen, auch in der Dimension des Politischen. Sie sind damit für die Aufgabe  des Staates, für Recht und Frieden zu sorgen, mit verantwortlich. Insofern tendiert die Barmer Theologische Erklärung zu einem demokratischen Staatsverständnis. 

Diese Tendenz war auf der Barmer Synode nicht mehrheitsfähig. Deshalb hat Barth die 5.These umformuliert und es damit ermöglicht, diese These im Sinne einer recht verstandenen „Zwei-Reiche-Lehre“ in Anspruch zu nehmen. Die christologische Konzentration auch beim Staatsverständnis bleibt aber mit dem indirekten Zitat von Hebr 1,3 erhalten. Alles, was über den Staat zu sagen ist, ist im Vertrauen auf das eine Wort, „durch das Gott alle Dinge (!) trägt“, zu sagen. 

Die politische Verantwortlichkeit der Kirche besteht von daher darin, dass sie den Staat „Gottes Reich“, „Gottes Gebot und Gerechtigkeit“ erinnert. Der Gesichtspunkt der Verantwortung aller unter dem Anspruch Jesu Christi wird dagegen mit dem Hinweis auf die „Verantwortung“ der „Regierenden und Regierten“ geltend gemacht. Leider ist aber der theologisch wichtige Sachverhalt der Fürbitte der Kirche für den Staat weggefallen. 

Das Zitat aus 1.Petrus 2,17 schärft: Wo Gott gefürchtet wird, wird die Aufgabe des Staates bejaht. Die Ehrerbietung für den Staat entspringt der Gottesfurcht. In diesem Gefälle gilt:_ 

a) Der Staat ist eine Anordnung Gottes (Röm.13,2: διαταγή). Er nach Gottes Willen zu einem bestimmten Zweck da. Er hat kein Wesen in sich selbst. Er ist nicht Selbstzweck. Nur indem er bestimmte Funktionen wahrnimmt, ist er nötig. 

b) Die Aufgabe des Staates ist es, „in der noch nicht erlösten Welt“ nach dem Maß „menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens“ zu handeln. Sein Tun ist ein relatives Tun. Das bringt die Kirche mit der Erinnerung an Gottes Reich zur Geltung. Allein Gottes Reich ist absolut

c) Mit menschlichem Vermögen und menschlicher Einsicht sorgt der Staat für Recht und Frieden. Recht und Frieden sind in der noch nicht erlösten Welt von der Sünde bedroht, welche die Verhältnisse zerstört, in denen alle ihr Leben bejahen und entfalten können. Die Erinnerung an Gottes Reich, Gottes Gebot und Gerechtigkeit lässt nicht bloß an den äußeren Frieden zu denken, der unter „Androhung und Ausübung von Gewalt“ gesichert wird, sondern an das Geschenk des „Friedens auf Erden“ (Luk.2,14), an die heilen Verhältnisse (schalom), die Christus gewährt. Von ihm her, der „unser Friede“ ist (vgl. Epheser 2,14), werden Christinnen und Christen darum immer zuerst an Mittel des schalom denken, wenn es gilt, Frieden zu schaffen, und nicht an die Androhung und Ausübung von Gewalt. „Nur im äußersten Notfall“(Karl Barth) kann Gewalt angewendet werden. 

d) Ohne Androhung und Ausübung von Gewalt kann der Staat in dieser unerlösten Welt allerdings seine Aufgabe nicht erfüllen. Polizei und Strafgesetze sind hier zum Wohle aller nötig. Darüber wird die christliche Kirche keine Illusionen verbreiten. Die staatliche Ausübung von Gewalt hat aber keine selbständige Bedeutung. Sie wird sie nur so begrenzt und angemessen eingesetzt werden dürfen, wie es die Verhinderung von Unrecht erfordert.

Von altersher gilt in der christlichen Ethik auch: Der Staat schützt seine Bürginnen und Bürger, indem er sich zur Verteidigung gegen fremde Staaten rüstet. Er kann also in diesem Notfall Krieg einen „gerechten Krieg“ zur Abwehr eines Angriffs führen. Diese Argumentation hat angesichts dessen, dass es immer solche angreifenden Staaten gegeben hat und gibt, eine nicht zu bestreitende Evidenz. Der militärische Widerstand, zu dem sich die Alliierten gegen den aggressiven Nationalsozialismus genötigt sahen, ist ein Beleg dafür. 

Angesichts des menschenmörderischen Charakters von Kriegen im 20. Jahrhundert haben die „Kirchlichen Bruderschaften“ in ihrer Aktualisierung von Barmen 5 schon 1958 in Frage gestellt, ob solche Kriege bejaht werden können. Es wurde gesagt: Atomwaffen seien die „Verleugnung aller drei Artikel des christlichen Glaubens“ auf einmal (vgl. Christusbekenntnis im Atomzeitalter. Im Auftrag des Arbeitskreises Kirchlicher Bruderschaften hg. von E. Wolf, ThExh NF 70, München 1959, 104). Auch Karl Barth hat gesagt: Die Androhung von Gewalt mit solchen Waffen kann „in keinem Sinn mehr verstanden werden als Dienst am Staate oder im Staate oder im Namen dieser göttlichen Anordnung, sondern das hebt ja das alles auf“ (Texte, 200). Angesichts der der atomaren Hochrüstung der Militärblöcke in den achtziger Jahren wurde in Kirche und Theologie gefordert, Massenvernichtungsmittel weltweit zu ächten und zu verbieten. Diese Forderung bleibt aktuell. 

Die sechste These: 

Die Schlussthese von Barmen versteht den „Missionsauftrag“ an die Kirche im Kontext von Freiheit. Das freie, „nicht gebundene“ Wort Jesu Christi (2. Tim.2, 9), dessen Inhalt „freie Gnade“ ist, begründet die Freiheit der Kirche zur Ausrichtung ihres Verkündigungsauftrages in Wort und Sakrament. 

Die Kirche ist demnach durch ihren Auftrag frei gegenüber allen Ansprüchen, die von der Welt her an sie herangetragen werden. Sie kann sich nicht in den Dienst solcher Ansprüche stellen. Tut sie es doch, kann sie nur „selbstherrlich“ werden. Eine selbstherrliche Kirche ist eine in der Welt eingerichtete Kirche, die auf irgendeine weltliche Weise der Welt imponieren möchte. Sie macht sich zur Funktion eines weltlichen Zweckes oder Wunsches, der sich durchaus als „fromm“ oder „christlich“ darstellen lässt.

Gründet die Freiheit der Kirche in einem Wort, dann ist sie grundlegend als eine Freiheit zum Hören zu verstehen. Nur im Hören kann sie eine ausdauernd freie Kirche bleiben. Das heißt: Die Kirche kann nur als Gottesdienstgemeinde eine freie Kirche sein. Der Gottesdienst ist nicht nur ihr Zentrum. Er ist ihre Lebensquelle bei ihrem Auftrag der Verkündigung an „alles Volk“. Erstirbt der Gottesdienst, erstirbt die Gemeinde. 

Aus der Verwendung des Begriffes „Volk“ kann schwerlich die Vorstellung einer „Volkskirche“ abgeleitet werden. Die „Volkskirche“, so wie sie sich heute darstellt, ist überwiegend die Kirche des Volks, das „nicht zur Kirche geht“ und sich um „Predigt und Sakrament“ versammelt.

Dennoch wendet sich der Gottesdienst öffentlich an alle Menschen. Denn die Gemeinde steht in dieser Welt „an Christi Statt“ (2. Kor. 5, 20), der „die Welt“ und damit alle Menschen mit sich versöhnte. Darum hat der Gottesdienst eine Dynamik über den Kirchenraum hinaus. Die Botschaft von der „freien Gnade Gottes“ soll von denen, die sie hören, hinausgetragen werden zu „allem Volk“. 

Dieser Dynamik der Botschaft werden in Barmen 6 auch die „Sakramente“ – die „sichtbaren Worte“ – zugeordnet. In Taufe und Abendmahl werden Menschen nicht nur als Glieder des Leibes Christi aufgenommen und bestätigt. Taufe und Abendmahl sind Handlungen der Gemeinde, die im Aufbruch des Dienstes steht und unterwegs ist. Die Taufe ist der Dienstantritt eines Christenmenschen und das Abendmahl seine Wegzehrung. Darum darf es in der Freiheit des Hörens auf das Wort Christi keine Gewöhnung an einen Zustand geben, in dem sich die Gemeinde mit Hilfe der „Sakramente“ sozusagen selber einsperrt. 

Der Inhalt der Botschaft – die „freie Gnade Gottes“ – macht frei, Vergangenes loszulassen und immer wieder aufzubrechen. Denn die Gnade Gottes besteht darin, dass sie Menschen nicht auf die Vergangenheit mit all der Schuld und dem Versagen von Menschen fixiert. Im Hören auf die Botschaft von der freien Gnade Gott werden Menschen in eine Ausgangssituation gestellt, in der sie frei sind, „allen weltlichen und kirchlichen Verstrickungen und Verklammerungen zum Trotz […] an irgendeinem Ort […] mit dem Anfang anzufangen, als wäre es noch nie geschehen, in Lehre, Leben und Ordnung der Kirche und in ihrem Verhältnis zur Welt […] voranzugehen und […] nicht mehr hinter sich zu blicken“ (Karl Barth, Die Botschaft von der freien Gnade Gottes, Texte, 156).

Literatur:

Voten des Theologischen Ausschusses der Ev. Kirche der Union:

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ders., Kirche als Gemeinde von Brüdern, Barmen III, 2 Bände, Gütersloh 1980

Hüffmeier, Wilhelm (Hg.), Für Recht und Frieden sorgen. Auftrag der Kirche und Aufgabe des Staates nach Barmen V, Gütersloh 1986

 ders., Das eine Wort Gottes - Botschaft für alle. Barmen 1 und 6, Band 1 und 2, Gütersloh 1994

Ochel, Joachim (Hg.), Der Dienst der ganzen Gemeinde Jesu Christi und das Problem der Herrschaft. Barmen IV, Gütersloh 1999

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ders., Sola fide – das ist lutherisch I, ThExh 49, München 1937, 29ff.

Barth, Karl, Evangelium und Gesetz, ThExh 32 1935

ders., Die Botschaft von der freien Gnade Gottes, in: Texte, 145f.:

ders., Bekennende Kirche in Deutschland, in: Karl Barth zum Kirchenkampf. Beteiligung Mahnung Zuspruch, ThExh NF 49, München 1956

Ebeling, Gerhard,. Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1964

Huber, Wolfgang, Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung, NBST 4, Neukirchen 1983

Forck, Gottfried, Die Verwerfungsformel der Zweiten These von Barmen und die Lutherische Lehre vom regnum Christi und regnum mundi, in: Schulze, Rudolf/Ludwig, Hartmut (Hg.),  Barmen 1934 bis 1984, Beiträge zur Diskussion um die Theologische Erklärung von Barmen, hg. von, Berlin 1983, 31ff.

Iwand, Hans Joachim, Die 1. Barmer These und die Theologie Martin Luthers, Die Zeichen der Zeit 38/1984, 106ff.

Joest, Wilfried, Karl Barth und das lutherische Verständnis von Gesetz und Evangelium. Gedanken und Fragen zur Wiederaufnahme einer stehengebliebenen Diskussion, KuD 24/1978, 86ff.

Jüngel, Eberhard, Evangelium und Gesetz. Zugleich zum Verhältnis von Dogmatik und Ethik, in: Barth-Studien, Zürich/Köln 1988, 180ff.

ders., Quae supra nos, nihil ad nos. Eine Kurzformel der Lehre vom verborgenen Gott im Anschluß an Luther interpretiert, in: Entsprechungen. Gott - Wahrheit - Mensch, Münden 198=, 202ff.

ders., Mit Frieden Staat zu machen. Politische Existenz nach Barmen V, München 1984

Krötke, Wolf, Bekennen. Verkündigen. Leben. Barmer Theologische Erklärung und Gemeindepraxis, Berlin 1986

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