Kategorie: Predigten
Römer 6, 18
Dialogpredigt in der St. Matthäuskirche Berlin am 03.05.2009
Krötke
Liebe Gemeinde,
es ist sicherlich geraten, dass wir beide uns ihnen zunächst einmal vorstellen. Mein Name ist Wolf Krötke. Ich bin ein pensionierter Professor für systematische Theologie an der Humboldt-Universität. An diese Universität bin ich aber erst nach der „friedlichen Revolution“ gekommen. In der DDR-Zeit wurde ich von der sozialistischen Universität verbannt, weil ich als Student ein Gedicht geschrieben hatte, das mir fast zwei Jahre Zuchthaus wegen „Hetze und staatsgefährdender Propaganda“ eingebracht hat. Ich habe darum meinen Weg an den freien Kirchlichen Hochschulen in der DDR gemacht. Ich wurde zunächst ein Pfarrer auf einem Dorf in der Nähe von Naumburg an der Saale, dann Studentenpfarrer in Halle an der Saale und schließlich Dozent für systematische Theologie am Sprachenkonvikt, der Ostberliner Kirchlichen Hochschule in der Borsigstraße. Erst nach der „Wende“ konnte ich als Hochschullehrer an die Universität zurück kehren.
Slenczka
Mein Name ist Notger Slenczka; ich bin der Nachfolger von Herrn Krötke, bin also auch Professor für Systematische Theologie. Ich bin ganz im Westen, nämlich in Heidelberg geboren und im wesentlichen dort aufgewachsen, habe nach dem Zivildienst auf einer Pflegestation eines Heimes für Schwerbehinderte Theologie studiert, habe nach dem Examen in Göttingen meine Qualifikationsarbeiten geschrieben, mein Vikariat absolviert, als Redakteur in einem Verlag gearbeitet und war dann erst 6 Jahre in Mainz, dann hier in Berlin Professor für Systematische Theologie.
Der Text, der unseren Dialog leiten wird, steht im Brief des Paulus an die Römer im 6. Kapitel und lautet:
Denn ihr nun frei geworden seid von der Sünde, seid ihr Knechte der Gerechtigkeit geworden.
Krötke
Auf den ersten Blick ist das eigentlich kein geeigneter Text, um einen besonders DDR-geprägten Ostton anzuschlagen. Denn die Botschaft von Jesus Christus, welche der Apostel in seinem Römerbrief verkündet, verträgt kein Herumreiten auf irgendwelchen Sonderanliegen. Hier gilt weder Jude noch Grieche, weder Mann noch Frau, weder Sklave noch Freier, wird in allen Briefen des Paulus immer wieder unterstrichen. „In Christus gilt nicht Ost noch West“, heißt es dementsprechend ganz richtig, wenn auch etwas simpel, in einem neueren Kirchenlied, „es gilt nicht Süd noch Nord,/ denn Christus macht uns alle eins/ in jedem Land und Ort“.
„Er macht uns alle eins“ – wir merken das an unserem Text daran, dass ganz selbstverständlich, ganz unkompliziert von Allen, die an Jesus Christus glauben, dasselbe gesagt wird. Woher sie auch kommen und wohin sie auch gehen, wo sie auch wohnen und was sie auch tun, von Allen gilt: Sie sind frei von der Sünde und Knechte der Gerechtigkeit. Was das bedeutet, darin sind wir beiden Theologen aus Ost und West uns im Übrigen ganz einig.
Slenczka
Ja, zuerst würde ich sagen: Es geht Paulus sicher nicht um das, was wir heute unter politischer Freiheit oder persönlicher Selbstbestimmung verstehen. Er will der Gemeinde in Rom vielmehr klar machen, welche Konsequenzen es für sie hat, dass sie im Glauben an Jesus Christus von der Macht der Sünde frei sind. Die Macht der Sünde – dass ist der absurde Drang von uns Menschen, unsere Beziehung zu Gott zu zerstören und seine Schöpfung zugrunde zu richten. Die Gerechtigkeit Gottes, die Jesus Christus uns zuwendet, aber macht mit uns einen neuen Anfang. Sie stellt uns in ein heiles Gottesverhältnis und spricht jeden Menschen als geliebten und bejahten Menschen an.
Krötke
Ich verstehe unseren Satz aus dem Römerbrief deshalb auch heute so, dass er uns Christinnen und Christen – ob wir nun aus dem Westen oder aus dem Osten kommen – im Namen Christi alle gegenseitig in das beste Licht stellt. Treffe ich einen Christen aus dem Westen, dann werde ich sagen: Siehe da: Hier kommt einer, in dessen Leben Christus die erste Stelle einnimmt; also ist er frei von der Sünde und ganz und gar umgetrieben vom Anliegen der Gerechtigkeit. Begegnet eine Christin mir aus dem Osten, dann wird sie von mir – hoffe ich – dasselbe sagen. Nicht die Sünde, diese absurde, dunkle Lust von uns, uns selbst wichtig und die Anderen klein und nichtig zu machen, bestimmt dann unsere Begegnungen. Die „Sonne der Gerechtigkeit“, welche die jeweils Anderen leuchten und aufblühen lässt, ist es dann, die uns das Zusammentreffen von Christinnen und Christen aus Ost und West zur reinen Freude macht.
Ich weiß, viele von Ihnen und noch viel mehr draußen vor der Tür der Matthäuskirche werden bei einer solchen Aussage etwas ungläubig den Kopf schütteln. Wir alle haben in den letzten Jahren und auf vielen Ebenen Erfahrungen mit dem Zusammenprallen und Zusammenrumpeln von Ost und West gemacht. Ich selbst, der ich Anfang der 90ger Jahre als Dekan der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität die Vereinigung einer östlichen mit einer westliche Institution – nämlich mit der Kirchlichen Hochschule von Berlin-Zehlendorf – zu organisieren hatte, weiß manch’ Liedchen davon zu singen, wie es da auch unter Christenmenschen gekracht hat. Aber stärker, prägender für mich waren doch die Bestätigungen für des Apostels Reden von der tiefen Zusammengehörigkeit aller Christenmenschen.
Slenczka
Man muss da aber eben auch sagen, daß es diese Verbundenheit nicht erst seit der Wende gibt; ich weiß von vielen Gemeinden, in denen es auch schon lange vor 1989 sehr aktive Gemeindekreise gab, die Partnerschaften mit Gemeinden aus der DDR gab. In der Gemeinde, in der ich mein Vikariat absolvierte, bestand eine Partnerschaft mit Chemnitz, das damals noch Karl Marx Stadt hieß; es gab gegenseitige Besuche und wirkliche Freundschaften über Zaun und Mauer hinweg, deren Fundament eben nicht allein persönliche Zuneigung war, sondern eine Verbundenheit im Glauben – ein Glaube, der bestimmt ganz unterschiedlich gelebt wurde und in sehr unterschiedlicher Weise mit Problemen zu kämpfen hatte; aber man hatte im Gottesdienst, der immer bei gegenseitigen Besuchen gefeiert wurde, eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Ausrichtung; die Gemeinden wußten voneinander und beteten füreinander und halfen einander.
Krötke
Wir könnten also lange fortfahren, aus den letzten Jahren von Erlebnissen zu berichten, die bestätigen, dass der apostolische Satz von unserer Freiheit und Gerechtigkeit nicht bloß eine überschwängliche Glaubenswahrheit ist. Er ist auch gelebte Realität. Er bringt den großen Vorsprung der Christenheit vor aller Unfreiheit, Ungerechtigkeit und Zertrennung zum Ausdruck.
In einer solchen Christenheit ist es gut, wenn Menschen aus Ost und West sich mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen, Gewohnheiten Erwartungen, Freuden und Leiden versammeln sind und diese Kirche gemeinsam gestalten. Das macht uns nicht arm. Das macht uns reich. Ich zähle darum überhaupt nicht zu denen, die sich ihre Erfahrungen aus dem Osten wie einen Panzer angelegen, mit dem sie sich vor der Macht, vor dem Geist oder dem Gebaren aus Richtung Westen schützen wollen. Im Zusammenhang mit der „Pro-Reli“-Debatte ist in nicht wenigen Gemeinden dieser Panzer ja wieder hervor geholt worden. „Eine Kirche, die vom Staat den Religionsunterricht verlangt, ist nicht mehr meine Kirche“, konnte man z.B. hören.
Slenczka
Sie betonen, daß dieser Satz aus dem Römerbrief die Christen aus dem Osten und Westen Deutschlands verbindet; mich würde jetzt aber doch interessieren: Gibt es nicht doch besondere Erfahrungen die gerade die Kirchen in der DDR bei der Wende mit diesem Ruf, 'Diener der Gerechtigkeit' zu sein, gemacht haben – welche Rolle spielte das für das Engagement der Christen in der 'friedlichen Revolution', die Sie ja auch mitgestaltet haben?
Krötke
In gewisser Weise könnte man den der Evangelischen Kirchen in der DDR Weg wie einen Kommentar zu Römer 6, 18 verstehen. „Christus befreit – darum Kirche für Andere“; so hieß das Motto des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR im Jahre 1972. Die Gerechtigkeit Gottes verlangte nach menschlichen Spiegelungen in einer Gesellschaft, die durch manifeste Ungerechtigkeiten charakterisiert war. „Mehr Gerechtigkeit in der DDR“ war eines zentralen Themen der ökumenischen Versammlung im Februar 1988 in Dresden, welche zur geistigen Keimzelle der „friedlichen Revolution“ von 1989 wurde. Zum ersten Mal in der jüngeren deutschen Geschichte stand die Evangelische Kirche nicht auf der Seite einer ungerechten staatlichen Ordnungsmacht, sondern auf der Seite der Menschen, die unter ihr zu leiden hatten. Sehen wir von allen Höhepunkten im privaten Leben einmal ab, dann war der risikovolle Weg dahin und der nicht vorhersehbare Erfolg des kirchlichen, gesellschaftlichen und politischen Engagements das größte und schönste Erlebnis meines Lebens.
Slenczka
Mir ist es da ganz anders ergangen. Ich lebte im November 1989 in Göttingen. Es gilt, ehrlich zu sein: Ich habe nicht gelitten unter der deutschen Teilung. Ich habe in der ganzen Zeit vor 1989 auch nicht gelitten unter der Existenz der DDR, wiewohl ich wusste und nicht bestritt, dass es sich um ein Regime handelte, das sich nur durch Unterdrückung und Zwang an der Macht halten konnte. Ich habe mich nicht solidarisiert mit denjenigen, die unter der Gewalt dieses Regimes gelitten haben und denen Unrecht getan wurde. Ich glaube, ich habe nicht einmal eine der vielen Eingaben unterschrieben, in denen die Freilassung des einen oder anderen politischen Gefangenen gefordert wurde.
Die DDR war für mich wie Ausland. Ich bin auch 1989 nicht etwa sofort nach Berlin gereist, und auch in Göttingen habe ich eigentlich nicht an dem großen Ereignis teilgenommen, hatte keinerlei Zugang zur Euphorie, sondern mir war das alles völlig fremd und merkwürdig, wirkte auf mich eher abstoßend oder sogar gefährlich. Ich sah das staunende Glück – und war doch seltsam ausgeschlossen: Mich steckte das nicht an. Ich kann nicht sagen, dass da irgendein Funke übergesprungen ist und ich weniger befremdet gewesen wäre. Denn die „friedliche Revolution“ hatte mich nicht von einem Zustand befreit, der mir je zur Last geworden ist.
Heute empfinde ich mein Wegsehen und mein Schweigen zu den Zuständen in der DDR als Schuld. Ich war ein Schweiger, der nicht sprach, wo er angesichts des Unrechts hätte sprechen müssen. Das haben viele aus dem Westen sicher anders empfunden – aber ich muß auch sagen, daß angesichts meines satten Schweigens zum Unrecht der Satz 'Ihr seid jetzt Diener der Gerechtigkeit' eben auch etwas Befreiendes hat: Wenn ich ihn höre, wird mir etwas zugetraut, dann höre ich, daß ich in den Augen Gottes nicht nur der satte Egoist bin und zu bleiben brauche, sondern daß ich Diener der Gerechtigkeit sein darf.
Krötke
Schuldlos sind wir in Ost und West Alle nicht geblieben. Aus diktatorischen Verhältnissen, in denen man, um zu leben, auch nach Kompromissen mit der absoluten politischen Macht suchen muss, kommt niemand als ganz weißes Schaf heraus; ich nicht, Herr Pfarrer Gauck nicht und auch Frau Katechetin Birthler nicht. Als nach der „Wende“ offenbar wurde, dass ein paar Repräsentanten unserer Kirche und einige Andere sich zu tief in Konspirationen mit der Staatsmacht haben hinein ziehen lassen, geriet sogar die ganze Kirche in der DDR in den Verdacht, korrupt gewesen zu sein. Nicht zuletzt die Medien des Westens haben dafür gesorgt, den guten Ruf stark zu beschädigen, den diese Kirche am Ende der DDR-Zeit hatte. Das kränkt viele, deren Leben mit dieser Kirche aufs Intensivste verbunden war, bis heute.
Überhaupt trat und tritt bis heute im vereinigten Deutschland zu Tage, dass wir äußerlich gesehen in der DDR-Zeit eine sehr schwache, wenig glanzvolle Kirche geworden sind. Die atheistische Machtpolitik hat uns schwere Wunden geschlagen, unter denen noch unsere Kinder und Kindeskinder leiden werden. Denn der Atheismus, den diese Weltanschauungspolitik in die Köpfe und Seelen der Menschen gepflanzt hat, wird nicht so schnell verschwinden wie die Mauer aus Stein. Wenn noch nicht einmal 10 % der Bevölkerung der Kirche angehören, wie in Ostberlin, dann steht in Frage, ob diese Kirche ihre ererbte Gestalt einer an jedem Ort gegenwärtigen Stimme des Evangeliums wird halten können.
Was denken Sie, die Sie vor noch nicht langer Zeit aus dem Westen jetzt mitten in das Herz der „Welthauptstadt des Atheismus“ am Hackeschen Markt gekommen sind, worin solches „Wuchern mit Gottes Gerechtigkeit“ unter lauter Menschen, die nicht an Gott glauben, bestehen könnte?
Slenczka
Ich weiß gar nicht, ob das so richtig ist mit der 'Hauptstadt des Atheismus'. Gewiß, Berlin ist anders als Mainz, wo ich vorher gelehrt und auch gepredigt habe, eine Stadt, die sehr viel deutlicher geprägt ist von Selbstverständlichkeiten der christlichen Tradition. Aber sehen Sie einmal die Gottesdienste an den hohen Festtagen an, an Weihnachten und in manchen Gemeinden auch an Ostern: Da platzen die Kirchen aus allen Nähten, da stehen die Menschen Schlange, um in die Gottesdienste zu kommen.
Und ich weiß gar nicht, ob die relativ entkirchlichte Situation dabei tatsächlich so ein Nachteil ist. Es ist wahr: Gegenüber dem christlichen Glauben bestehen eine Menge von Ressentiments und Vorurteilen und Fehlinformationen. Um so überraschender, denke ich, ist s für einen Menschen, wenn jemand plötzlich dessen ansichtig wird: In dieser Botschaft von Weihnachten, von Ostern, von dem Wort, das Fleisch wurde, da geht es um mein Leben, dass es zurecht kommt, im Verhältnis zu mir, und im Verhältnis zu meinen Nächsten ins rechte Lot kommt – eben: es geht um Gerechtigkeit.
Ich glaube, Berlin mit seiner Distanz gegenüber dem Christentum ist dafür nicht das schlechteste Pflaster. Der christliche Glaube ist gerade für Atheisten für Überraschungen gut.
Krötke
Dennoch besteht für die Kirchen in den neuen Bundesländern die große Herausforderung, Menschen, die dem Glauben an Gott gänzlich entfremdet sind, wieder mit diesem Glauben vertraut zu machen. Meine „DDR-Erfahrung“ wie meine 20jährige West-Erfahrung mit der Kirche und mit der Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland ist dabei, dass die eigentümliche Verankerung alles Menschlichen im Glauben an den menschgewordenen Gott die zukunftsträchtige Stärke dieses Glaubens ist. Wo das Wort „Gott“ in Verbindung mit dem Namen Jesu Christi laut wird, da ist ein unermüdlicher Antrieb, auf einem menschlichen Leben zu beharren, das sich in freien, gerechten Verhältnissen bis in Gottes Ewigkeit hinein entfalten kann. Da ist ein Geist, der aller Resignation angesichts des Weltunheils im Großen und im Kleinen widersteht.
Diesen Geist treffe ich überall bei den Christinnen und Christen in Ost und West und zuerst beim Apostel Paulus selbst an. Er ist aller kirchlichen Schwerfälligkeit und allem politischen Herumkrackseln in den Krisen unserer Zeit schon immer voraus. Er ist weder östlich verbohrt noch westlich eingetaktet. Er ist schlicht christlich.
Amen.