Theologiegeschichte des 20. Jh.
< § 7 Die "dialektische Theologie": Friedrich Gogarten (1887-1967) und das Problem der politischen Theologie
22.03.2015 17:01 Alter: 9 yrs
Kategorie: Theologiegeschichte des 20. Jh.

§ 6 Die "dialektische Theologie": Emil Brunner (1889-1966) und das Problem der "natürlichen Theologie"


1. Geist, Wort, Gesetz und das Problem des „Anknüpfungspunktes“

Zur Biographie: Am 23.12.1889 in Winterthur geboren. Konfirmand von Hermann Kutter. Studium in Zürich und Berlin (Harnack!). 1913 Dissertation: „Das Symbolische in der religiösen Erkenntnis“. Gymnasiallehrer in London und dann Gemeindepfarrer in Obstalden und Filzbach. 1921 Habilitation: „Erlebnis, Erkenntnis und Glaube“. Über das Engagement für den „religiösen Sozialismus“ freundschaftlicher Kontakt zu Karl Barth. 1924: Professor für systematische Theologie in Zürich bis 1963. Am 6. April 1966 verstorben.

Brunner hat es als die „Aufgabe unserer theologischen Generation“ bezeichnet, „zur rechten theologia naturalis zurückzufinden“ (Natur und Gnade, 44). Er war nicht der Meinung damit der dialektischen Theologie zu widerstreiten. Der Vernebelung Gottes in eine menschliche Halbwahrheit galt sein Kampf. Darum wurde er zum dialektischen Theologen.

„Ich rechne es zu den größten Verdiensten Barths“, schreibt Brunner, „daß er es gewagt […] hat“, das „zeitlose überpsychologische 'schlechthinnige' Wesen des Glaubens wieder ans Licht zu rücken, und daß er allen Versuchungen des Psychologismus, die für jeden modernen Menschen so groß sind, mannhaft widerstand“ (Aufsätze, 85). „Psychologismus“, heißt es in der Habilitationsvorlesung von 1924, „haben wir überall da in der Theologie, wo man noch nicht von dem Bann erwacht ist, in den uns der theologische Paganini Schleiermacher, der größte theologische Begriffsvirtuose des 19. Jahrhunderts, mit seinem Programm der frommen Erregung versetzt hat“ (Grenzen der Humanität, 271f.).     

Psychologismus, ist die Reduzierung des Glaubens auf irgendwelche subjektiven Erlebnisse und ein „religiöser Kurzschluß“, in dem die „Identifikation des Göttlichen und Menschlichen, […] nicht durch die [...] Distanz geschützt ist“ (Erlebnis, 56). Deshalb wird mit Barth für die grundlegende Differenz von Zeit und Ewigkeit, für das geschichtslose Wesen des Glaubens und der Offenbarung plädiert. 

In zweierlei Hinsicht bahnt sich jedoch bei Brunner eine andere Entwicklung an, als bei Barth.

Erstens bevorzugt Brunner die Charakterisierung Gottes als Geist. Das veranlasste ihn, über das Verhältnis von Gott-Geist und menschlicher Geistigkeit nachzudenken. Im Geistvermögen von Menschen, nämlich im Überschreiten der Grenzen des Gegebenen, meldet sich, dass der menschliche Geist nicht schlechthin ein Gegensatz zu Gott ist. Alles geistige Leben „hat seine Voraussetzung als seinen Ursprung in oder über sich“ (Erlebnis, 95). „Es ist unser strengstes kritisches Denken, das uns zeigt, daß wir keinen Gedanken denken können, ohne daß Gott uns zu denken gibt, ohne daß wir in Gott denken“ (Die Mystik und das Wort 377f.). 

Nur ein geistiges Wesen ist dazu geeignet, dass Gott sich zu ihm in Beziehung setzt und nicht zum Beispiel zu einem Stein. Hier kündigt sich eine spezifische Lehre von der Gott-Zugehörigkeit des Menschen an, die auch außerhalb des „Hohlraums“ des Glaubens wenigstens als Grenze sichtbar werden kann. „Die Philosophen sollen auch für den, der vom Glauben aus denkt, nicht umsonst gedacht haben“ (Der Mensch im Widerspruch, 238). 

Zweitens: Neben dem Geistbegriff gewinnt der Begriff des Wortes bei Brunner eine eigenständige Bedeutung. Denn „Geist“ kann nur da sein, wo Wort ist. Wort ist geisthaft und Geist ist worthaft. Es ist „das Wort das erste und der Geist das zweite“ (Die Mystik und das Wort, 227). „Daß der Mensch das Wort hat, ist der Ursprung seiner Vernünftigkeit, seine unzerstörbare Gottebenbildlichkeit und die Summe des Evangeliums von der Erlösung“ (Mystik, 90).  

Das Wort haben, bedeutet, das Wort vernehmen zu können. Menschen betätigen ihren Geist, indem sie die Wahrheit des Geistes als Wort hören können. Sie sind als Hörende Angesprochene. „Wort ist jenseits von uns, nicht in uns. Es ist das, worauf wir 'bezogen' sind, das als Grund und Gericht des Unsrigen immer vor und über uns steht. Nur so haben wir Anteil am Geist, nicht durch Vermischung, nicht durch Immanenz, sondern durch das Angesprochenwerden. Wir sind Geist in dem Maß, als wir Empfänger dieses Wortes sind“ (Mystik, 115). 

Die dem Menschen eigene Wortfähigkeit ist es demnach, die ihn zum unverwechselbaren Gegenüber Gottes macht. Sie ist auch die Voraussetzung dafür, dass Christus Menschen als Wort und im Wort angehen kann. 

Brunner macht hier Gebrauch von der Ich-Du-Philosophie Ferdinand Ebners („Das Wort und die geistigen Realitäten“). Das Wort schafft und erhält nach Ebner die Beziehung von Ich und Du. Wenn diese Beziehung ohne Wort nicht sein kann, dann sind Menschen – auch in der Beziehung zum anderen Menschen – schon immer auf eine geistige Realität außer sich bezogen, die Gott genannt wird. Person werden Menschen demnach nur, indem allen ihren Verhältnissen das Gottesverhältnis zugrunde liegt. „Das Wort, im letzten Grunde seines dem Menschen Gegebenseins verstanden, ist von Gott. Und so ist die Sprache [...] göttlichen Ursprungs, etwas schlechthin Transzendentes, Übernatürliches, eine Tatsache des geistigen, aber keine des natürlichen Lebens“ (Das Wort, 20). Darum gilt, dass im Gebrauch des Wortes jeder „im innersten seines Gemüts an Gott glaubt“ (30). 

Brunner hat diese in der Ich-Du-Relation begründete Worttheorie für eine „kopernikanische Revolution des Denkens“ gehalten. Sie bietet die theologisch die Möglichkeit, das Verständnis der Diastase von Gott und Mensch zu überwinden, ohne das Anliegen ihrer grundsätzlichen Unterschiedenheit preiszugeben. 

Brunners Fragen waren darum: Wo liegt die Grenze, bis zu welcher der Mensch sich selber in seiner Beziehung zu Gott einsichtig werden kann? Wo liegt die Grenze, an der die Beziehung von Gott und Mensch nur noch Gottes Werk sein kann? Diese Fragen werden im Horizont des Wirkens Gott im Gesetz zu beantworten versucht. Das Gesetz stellt den Menschen unter die Frage nach sich selbst und führt ihn an den „Punkt der Verzweiflung“, an „der Mensch aus sich nichts mehr weiß“ (Offenbarung als Aufgabe, 319). An diesen „Punkt“ knüpft Gott an, um sündige Menschen aus ihrer Situation mit dem Wort des Evangeliums zu befreien. „Wo der Mensch wirklich nach Gott fragt, wird ihm die Antwort“ (Der Mittler, 480).

 

2. Eristik als Aufgabe der Theologie

„Die Schulderkenntnis, die Erkenntnis des Nichtrechtseins, der Gottbedürftigkeit, der Armut“, ist „der Anknüpfungspunkt für den Glauben, für das Wort. Sie ist die Offenheit für Gott“ (ebd.). Nur die einmalige geschichtliche Offenbarung vermag daran anzuknüpfen und zwischen Gott und Mensch zu „vermitteln“. „Alle Wahrheit ist letztlich Christus-Wahrheit“, weil sie alleine eine Menschen vermittelbare Wahrheit ist (327). „Es gibt nur einen Logos. […] Aber dieser Logos ist das Prinzip alles Erkennens und vor allem der Wahrheitserkenntnis aller Religionen“ (327f.). 

Das bedeutet: Die Christuswahrheit ist keine andere als die, zu welcher und in welcher der Mensch schon geschaffen ist. Menschen vermögen Gottes Schöpferwort in gewisser Weise zu erkennen und eine „wirre und unsichere“ Gotteserkenntnis zu haben (127), die Gottes Wahrheit verzerrt und verfälscht. Aber selbst in solcher Verzerrung wird sichtbar, dass der Sünder „nicht ohne Gott, nicht ohne Gottes Offenbarung“ ist. 

Die „andere Aufgabe“ der Theologie ist es darum, „beweglich und weltlich“ auf die konkreten Menschen eingehen, ihre Fragen diskutieren und sie als „Frage nach Gott verstehen lehren“ (vgl. Die andere Aufgabe der Theologie, ZDZ 1929, 255ff). Dieses theologische Unternehmen bezeichnet Brunner als Eristik (Kunst des Streites und des Dialogs). 

Die Eristik ist auf Angriff aus. Sie möchte Menschen zu existentiellem Denken zu zwingen und sie „hart am Feind“ mit der Vernunft vom Glauben aus in den „Engpaß“ treiben (269f.).

Der Eristiker argumentiert vom Glauben aus, verschleiert das aber, indem er nur mit der Vernunft argumentiert. Denn er will ja den „Anknüpfungspunkt“ herausarbeiten, an dem Menschen dann das Evangelium im Glauben betreffen kann. Den „Anknüpfungspunkt“ hat Gott letztlich selbst geschaffen, indem er Menschen ins Dasein rief.

 

 3. Imago Dei – natürliche Theologie 

In welcher Weise Gott an etwas beim Menschen Vorauszusetzendes anknüpfen kann, verdeutlicht nach Brunner seine Lehre von der imago Dei, die er in mehreren Schritten konzipiert hat. Ausgehend von Genesis 1,26f. wird behauptet, dass wir von der Gottebenbildlichkeit des Menschen „sachlich in zweierlei Sinn zu sprechen“ haben, „in einem formalen und in einem materialen“ (Natur und Gnade, 10). 

Das, was die Sonderstellung des Menschen gegenüber aller anderen Kreatur ausmacht, das Humanum schlechthin, ist die formale imago. Sie besteht in seinem Subjektsein, in seiner Wortfähigkeit und seiner Verantwortlichkeit. Sie ist unverlierbar. Die materiale Gottebenbildlichkeit ist dagegen die aktuale Verwirklichung der formalen Gottebenbildlichkeit. Sie geht  durch die Sünde vollständig verloren: „Formal ist die imago nicht im mindesten angetastet –  der Mensch ist, ob sündig oder nicht, Subjekt und verantwortlich. Material ist die imago völlig verloren, der Mensch ist durch und durch Sünder, und an ihm ist nichts, was nicht von der Sünde befleckt wäre“ (11).  

 „Material“ gibt es demnach „keinen Anknüpfungspunkt [...], während er formal unbedingte Voraussetzung ist“ (19). D. h. Menschen können das Gotteswort hören. Sie sind von Gott ansprechbar. Dafür dass sie glauben, aber gibt es keinen Anknüpfungspunkt. Denn „die Fähigkeit […], Gottes Wort zu glauben“, haben Menschen nicht. 

Sofern es hier darum geht, die gut geschaffene menschliche Natur von der Art und Weise zu unterscheiden, wie Menschen in ihrem Leben von ihr Gebrauch machen, leuchtet Brunners Argumentation ein. Auch Menschen, die sündigen, behalten ihre menschliche Natur und werden nicht zu Nicht-Menschen. 

Doch kann man die Humanität als etwas „Formales“ bezeichnen, wenn der „natürliche Mensch“ doch irgendwie um Gott weiß und irgendwie den Willen Gottes erkennt (vgl.12)? Wird die Theologie mit dieser Anthropologie nicht doch wieder auf die Religion bzw. Religiosität des Menschen gebaut? Brunner bestreitet das, weil die Götterbilder, die sündige Menschen sich im Vollzug der materialen imago machen, notwendig falsche Bilder sind. „Daß [...] der Mensch, wenn er den wirklichen Gott nicht hat, notwendig Götzen hat, das ist das Problem meiner theologia naturalis“, sagt Brunner von seiner eigenen Konzeption. 

An die materiale imago knüpft Gott nur an, indem er ihr widerspricht. An die formale imago aber knüpft er an, indem er sie bestätigt. Die Rückkehr zur rechten theologia naturalis hat also nichts mit der Behauptung einer positiven Gotteserkenntnis von nichtglaubenden Menschen. Dennoch ist das aktuale Verwirklichen der formalen imago nicht nur ein Gegensatz gegen die Gnade. Denn die formale imago ist auch der Ort der Offenbarung des Schöpfers. Gerade „aufgrund der Offenbarung in Jesus Christus werden wir nicht umhin können, von einer doppelten Offenbarung zu sprechen“ (14). 

Zur wahren Erkenntnis der ersten (Schöpfungs-)Offenbarung Gottes kommt es allerdings nur durch die zweite. Vollkommene natürliche Gotteserkenntnis ist nur unter der Voraussetzung des Glaubens möglich (vgl. 46). Eigentlich kann gar nicht an die Christusoffenbarung geglaubt werden, ohne zugleich „an eine allgemeine Offenbarung Gottes in der Schöpfung, in der Geschichte (!) und im Gewissen zu glauben“ (13). 

Was vermögen nichtglaubende Menschen aufgrund dieser Offenbarung zu erkennen? Brunner antwortet auf diese Frage mit der Unterscheidung einer natürlichen Theologie im objektiven Sinne und eine natürlichen Theologie im subjektiven Sinne (vgl.23ff.). Erstere gibt es nur unter der Voraussetzung des Glaubens. Die Zweite ist dagegen im Banne sündiger Eigenmächtigkeit Götzenverehrung. Nur das Daß solcher verkehrten Gottesverehrung kommt als Zeichen der Offenbarung Gottes und als Anknüpfungspunkt in Frage, nicht aber das Was. 

Die Leistungsfähigkeit dieser Lehre von der formalen und materialen imago, von der objektiven und subjektiven natürlichen Theologie ist eigentlich schmal. Sie will Ermutigung für die christliche Verkündigung sein, die Nichtglaubenden Ernst zu nehmen. Brunner ging es darum, wie es zur Begegnung von Menschen, die dem Glauben an Gott entfremdet sind, mit dem Gott des christlichen Glaubens kommen kann. Sie haben es schon immer mit Gott zu tun, obgleich ihre Gottesbilder für die Theologie keine basale Bedeutung erlangen können. 

Um das scharfe „Nein!“, zu verstehen, das Karl Barth zu Brunners „Natur und Gnade“ gesagt hat, muss man berücksichtigen, dass sich im Jahre 1934 die „Deutschen Christen“ der evangelischen Kirche in Deutschland bemächtigt hatten. Sie deuteten die Herrschaft der Nationalsozialisten als eine Offenbarung Gottes (vgl. hierzu mehr § 8). Brunner platzte in diese Situation mit seinen Thesen von der Möglichkeit natürlicher Gotteserkenntnis in der Geschichte hinein. Er hatte, „leider für den 'Kirchenkampf' so gar kein Verständnis“ und fiel der Bekennenden Kirche „mit seiner Schrift 'Natur und Gnade' im schlimmsten Augenblick in den Rücken“ (Karl Barth, Briefe 1961 - 1968, GA V, 434). 

Barth hatte die religiösen Nazis im Auge, als er Brunner vorwarf, seine natürliche Theologie könne „nur der Theologie und der Kirche des Antichrist bekömmlich sein“ (Nein, 63). Er hat das später zurückgenommen. Brunner aber bezeichnete seine Terminologie auch selbst „als wenig glücklich“. Er sei deshalb „mitschuldig [...] an der seltsamen Tatsache, daß ich […] bei vielen als Vertreter einer 'natürlichen Theologie' im üblichen Sinne des Wortes angesehen werde, die ich [...] jederzeit bekämpft habe“ (Mensch im Widerspruch, 541).  

Das Problem bleibt aber, ob man in der „götzenhaften“ Erkenntnis Gottes von Nichtglaubenden einen „Anknüpfungspunkt“ für die christliche Verkündigung sehen kann. „Ist denn Götzendienst [...] nur eine etwas unvollkommene Vorform des Dienstes des wahren Gottes“? hat K. Barth gefragt (Nein, 19). Wenn das nach Brunners Auskunft nicht der Fall ist, warum bedarf es dann der natürlichen Theologie neben dem Grundbezug der Theologie auf den Gott der Offenbarung? Kann das Anliegen der natürlichen Theologie, die Gottbezogenheit jedes Menschen ernst zu nehmen, nicht auch in der von Gottes Offenbarung bestimmten Theologie aufgenommen werden? Von daher kann durchaus gewürdigt werden, dass es Zeichen der Gegenwart Gottes bei jedem Menschen gibt.

Dass Brunner im Grunde darauf zielte, macht seine dreibändige Dogmatik, die er von 1946 an veröffentlichte, auch deutlich. Sie schaut, indem sie die Wahrheit des christlichen Glaubens zur Geltung bringt, ständig darauf, wie diese Wahrheit von Menschen ohne den Glauben verstanden und rezipiert werden kann. Erreicht wird das so, dass das Anliegen der „dialektischen Theologie“ mit einer Schöpfungstheologie verbunden wird, die Gott in seiner Andersheit zugleich als den Vertrauten aller grundmenschlichen Probleme, Fragen und Nöte verstehen lehrt. Wir können das regelrecht verallgemeinern. Die Überspitzungen des Diastasedenkens, welche die „dialektische Theologie“ charakterisierten, werden hier so zu überwinden getrachtet, dass sie mit der Schöpfungstheologie ausgeglichen werden.

  

Kurzinformation: Was ist „natürliche Theologie“?

Die theologia naturalis entstammt der griechischen Philosophie. Nach Panaitios (mittlere Stoa) ist sie ein Drittes neben der „politischen Theologie“ und der „mythischen Theologie“.

Die politische Theologie gilt den mit staatlicher Autorität eingerichteten Kulten. Die mythische Theologie, die auch theologia fabulosa heißen kann, macht Aussagen über die Götter nach menschlichen Übereinkünften.

Die theologia naturalis aber erforscht mit der Vernunft das Wesen (φύσις, natura) des Göttlichen, d.h. das, was Gott zu Gott macht. 

Schon die Alte Kirche hat diese Fragestellung unter dem Gesichtspunkt aufgenommen, dass auch Menschen, die nicht an Jesus Christus glauben, mit ihrer Vernunft eine Erkenntnis Gottes erlangen können (vgl. Röm 1, 20; Acta 17). 

Darum wurde zwischen der natürlichen Theologie und der Theologie der Offenbarung Gottes unterschieden. 

Ihre klassische Zusammenordnung haben die theologia naturalis und die theologia revelationis in der Summa Theologica des Thomas von Aquin im Mittelalter gefunden, welche sich auch die Lehrsysteme des reformatorischen Glaubens im 16. und 17. Jahrhundert zu eigen gemacht haben. 

Nach Thomas von Aquin sind die Erkenntnisse der theologia naturalis als praeambula fidei zu verstehen. Sie weisen mit vernünftigen Schlüssen von der Welt her auf, dass Gott ist (an Deus sit) und was Gott ist (quid Deus sit). Die theologia revelationis entfaltet dagegen das nur dem Glauben zugänglich trinitarische Bekenntnis zu Gott. 

Dass Gott ist, kann mit dem kosmologischen Gottesbeweis aufgewiesen werden. Seine Grundstruktur ist: Alles Bewegte in der Welt ist auf einen Beweger zurück zu führen, der seinerseits wieder von einem Beweger bewegt wird, etc. Da man diese Kette nicht ins Unendliche ausdehnen kann, muss ein „erster unbewegte Beweger“ angenommen werden, den alle „Gott“ nennen. 

Die Frage, was Gott in seinem Wesen ist, wurde aufgrund des Zusammenhanges der Werke des Schöpfers mit dem Schöpfer entschieden. Danach waltet zwischen Schöpfer und Geschöpf eine Ähnlichkeit (analogia), die es erlaubt, geschöpfliche Eigenschaften Gott zuzuschreiben, freilich auf die spezifische Weise der „drei Wege der Gotteserkenntnis“ des Pseudo-Dionysios-Areopagita.  

Via affirmationis seu causalitatis wird Gott als Verursacher der ihm von den Geschöpfen zugesprochenen Attribute verstanden, die er im eigentlichen Sinne in sich selber hat.

Via negationis werden von Gottes Wesen alle Unvollkommenheiten der Geschöpfwelt negiert.

Via eminentiae werden von Gott geschöpfliche Vollkommenheiten in gesteigerter Form ausgesagt. 

Die drei Wege der Gotteserkenntnis werden von der via negationis beherrscht. Nach Thomas können wir von Gottes Wesen nicht sagen, was es ist, sondern nur, was es nicht ist (vgl. IV. Laterankonzil 1215: Vom Schöpfer und vom Geschöpf kann keine Ähnlichkeit ausgesagt werden, ohne daß sie eine je größere Unähnlichkeit einschlösse). Gottes Wesen ist darum letztlich unbegreifbar und unsagbar. Diese „metaphysische“ theologia naturalis war an das mittelalterliche Weltbild gebunden und ist in der Aufklärungszeit ans Ende gekommen. 

Obwohl es bis heute Versuche gibt, aufgrund moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnisse Gott als Grund und Gestalter der Evolution des Universums und des Lebens zu erweisen, verlagerte sich der Schwerpunkt des Anliegens der theologia naturalis auf die Anthropologie. 

Am Sein und der Existenz von Menschen und damit auch auf Grund geschichtlicher Erfahrung soll aufgewiesen werden, dass Menschen auch ohne den Glauben an Gott auf Gott bezogen sind und sich auf ihn zu beziehen vermögen. 

 

Kurzinformation: Gottebenbildlichkeit als imago und similitudo:

Genesis 1, 26: Und Gott sprach:  „Lasst uns Menschen machen nach unserem Bild צלם)), uns ähnlich דמות))“

In der Alten Kirche wurde den unterschiedlichen Vokabeln für die Gottebenbildlichkeit eine unterschiedliche Bedeutung zugesprochen. 

צלם (griech.: εἰκών; lat.: imago) ist die iustitia naturalis, d.h. die natürliche Ausrüstung des Menschen mit Verstand und freiem Willen. 

דמות (griech.: ὁμοίωσις; lat.: similitudo) ist die iustitia originalis; d.h. die Fähigkeit des Menschen zur vollkommenen Gottesverehrung, die ihm Gott im „Urstand“ als donum superadditum verliehen hat.

Durch den „Sündenfall“ ging die iustitia originalis verloren. Darum stellte sich die Frage,  welche Folgen dieser Verlust für die noch verbliebene imago hat. 

In der scholastischen Theologie des Mittelalters wurde diese Frage unterschiedlich beantwortet.

Nach Thomas von Aquin (gest. 1274) hat der Verlust der iustitia originalis eine vulneratio naturae (Verletzung der Natur) zur Folge. Sie besteht in einer inordinatio aller natürlichen Seelenkräfte auf Gott hin, die Thomas als concupiscentia (Begierde = Verhaftung an die carnalia) verstand. 

Nach Duns Scotus (gest. 1308) behält der Menschen auch nach dem „Sündenfall“ die Möglichkeit, sich mit seinem freien Willen entweder für oder gegen die wahre Gottesverehrung zu entscheiden. Die negative Möglichkeit wird als concupiscentia begriffen, die deshalb schon wesentlich zur imago, zum Naturzustand des Menschen, gehört. Folglich kann sie nicht die eigentliche Sünde sein. Sie ist eine durch die Erbschuld Adams veranlasste Neigung (pronitas) zur Sünde. Nur wenn diese Neigung Wirklichkeit wird, nämlich in der Tatsünde, haben wir es mit wirklicher Sünde zu tun.

Noch radikaler auf dieser Linie hat der Occamismus des 15. Jahrhunderts (Wilhelm von Occam, gest. 1495) gedacht, dessen Lehre Martin Luther vor allem aus den Schriften Gabriel Biels kannte. Die Erbschuld Adams wirkt sich im Menschen als fomes (Zunder) peccati aus, beeinträchtigt aber nicht die Ordnung der imago. Vielmehr gilt: „Rectitudo naturalis voluntatis eius, scilicet libertas, non corrumpitur per peccatum“ ( In sent. IId 30 qu 1 a1 dub 4; BSLK 53, Anm. 2).

Diese Lehre von der Gottebenbildlichkeit gehört zu den Voraussetzungen der römisch-katholischen Lehre von der Kooperation des Menschen mit Gott bei der Heilszueignung. Ihr hat Martin Luther die Anschauung von der völligen Verderbnis der menschlichen Natur durch die Sünde und der Unfähigkeit von sündigen Menschen, mit Gott zu kooperieren, entgegen gesetzt. 

 

Literatur:

Brunner, Emil, Erlebnis, Erkenntnis und Glaube, Tübingen 21923 (11921)

Ders., Die Mystik und das Wort. Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben, dargestellt an der Theologie Schleiermachers, Tübingen 1924

Anfänge der dialektischen Theologie I (siehe § 5), daraus:

            Die Grenzen der Humanität, 259ff.

            Gesetz und Offenbarung, 290ff.

            Die Offenbarung als Grund und Gegenstand der Theologie, 298ff.

Ders., Der Mittler. Zur Besinnung über den Christusglauben, Tübingen 1927

Ders., Der Mensch im Widerspruch. Die christliche Lehre vom wahren und vom wirklichen Menschen, Zürich 1941(11937)

Ders., Das Gebot und die Ordnungen. Entwurf einer politischen theologischen Ethik, Tübingen 1932

Ders., Natur und Gnade. Zum Gespräch mit Karl Barth, Tübingen 1934

Karl Barth – Emil Brunner, Briefwechsel 1916-1966, Karl Barth Gesamtausgabe V/33, Zürich 2000

Barth/Karl, Nein. Antwort an Emil Brunner, Theologische Existenz heute 14, München 1934

Ebner, Ferdinand, Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatologische Fragmente, Regensburg 1921

Gestrich, Christof, Neuzeitliches Denken und die Spaltung der dialektischen Theologie. Zur Frage der natürlichen Theologie, Tübingen 1977

 

 

  

 

 


Nach oben