Kategorie: Vorträge
Gottes Gerechtigkeit als Recht der Gnade in der Theologie Karl Barths
Vortrag auf der Karl Barth-Tagung auf dem Leuenberg (Schweiz) am 18.07.2011
1. Gottes Recht und Gottes Gerechtigkeit
Wenn man jemand, der Karl Barths Theologie ein bisschen kennt, fragen würde, was denn das ganz Charakteristische seines Gottesverständnisses sei, würde er vermutlich nicht antworten: Das ist das Einprägen von Gottes Gerechtigkeit. Viel eher würden sie oder er wahrscheinlich sagen: Das ist die Botschaft von der freien Gnade Gottes, wie der bekannte Titel seiner Auslegung der 6. These der Barmer Theologischen Erklärung lautet. In dieser Botschaft und ihrer theologischen Begründung läuft alles zusammen, was nach Karl Barth den Gott des christlichen Glaubens charakterisiert. Das hat er selbst ohne Unterlass in seiner „Kirchlichen Dogmatik“ und anderswo wiederholt. Auf Gnade reimt sich letztlich alles, was er von Gott gesagt hat und sagen wollte.
Auch mir war das natürlich zuerst gegenwärtig, als ich gebeten wurde, zu Beginn unserer Tagung darüber zu reden, welche Bedeutung Gottes Gerechtigkeit nach Barth für Gott selbst und damit für das christliche Gottesverständnis hat. Denn „Gerechtigkeit“ an und für sich und als solche – wie sie in unserem Tagungsthema hammerartig aufgerufen wird – drängt sich nicht als cantus firmus des Gottesverständnisses Barths und damit seiner Gotteslehre auf. Woran ich mich gehalten habe, als ich das Thema für diesen Vortrag nennen sollte, war darum eine Formulierung Barths, die später bei Kirchenrechtlern Karriere gemacht hat. Ich hatte sie so in Erinnerung: „Gottes Gerechtigkeit ist das Recht seiner Gnade“. Das schien mir passend. Denn ohne Bezug auf Gottes Gnade ist von Gottes Gerechtigkeit oder gar von Gerechtigkeit an sich nach Barth überhaupt nicht zu reden.
Wir stürzen uns nun gleich einmal ins kalte Wasser und schauen uns den Satz näher an, dem unsere Themenformulierung entnommen ist. Er steht in der Rechtfertigungslehre Karl Barths, die bei unserer Tagung merkwürdigerweise nicht unter die „Basistexte“ zum Thema „Gerechtigkeit“ bei Barth aufgenommen worden ist. Dort lesen wird also in Form einer rhetorischen Frage, wie Barth sie besonders liebte, Folgendes: Was kann Gottes „Recht über und auf den Menschen, indem es, in dem inneren Recht seiner Gottheit begründet, höchstes und strengstes Recht ist, Anderes sein als das Recht seiner Gnade – und was dessen Ausübung und Anwendung in seiner Gerechtigkeit Anderes als in seinem Kern und Wesen der Vollzug seiner Gnade“ (KD IV/1, 599)?
Diesem Satz bzw. dieser Frage ist dreierlei zu entnehmen. Erstens: Gottes Gerechtigkeit fällt mit Gottes Gnade so gut wie zusammen. Gnade ist ihr „Kern und Wesen“; sie ist ihr „letztes Geheimnis“, heißt es ein paar Seiten weiter (KD IV/1, 604). Zweitens: In seiner Gerechtigkeit, die mit seiner Gnade so gut wie zusammen fällt, übt Gott Recht aus. Drittens: Dieses Recht, das wiederum nichts anderes zur Geltung bringt als Gnade, ist doppelt akzentuiert. Es ist einerseits Gottes „Recht über und auf den Menschen“. Es andererseits und grundlegend „inneres Recht der Gottheit Gottes“.
Das Erste, was ich selbst zu lernen habe, wenn ich diesen Satz analysiere, ist: Man soll doch lieber nicht auf dem Kopf zitieren. Denn Gottes „Gerechtigkeit“ wird von Barth hier offenkundig nicht ohne weiteres mit „Gottes Recht“ identifiziert, wie es die Formulierung unseres Themas nahe legt. Auffällig oder für in Sachen „Gottesgerechtigkeit“ erfahrene Theologinnen und Theologen ungewöhnlich ist vielmehr, dass „Gottes Recht“ von „Gottes Gerechtigkeit“ unterschieden wird. Das geschieht in der Rechtfertigungslehre und nicht nur hier in der Kirchlichen Dogmatik ziemlich durchgehend. Wir treffen das – freilich in anderer Akzentuierung – auch schon in der Göttinger Dogmatik von 1924/25 an (vgl. Unterricht in der christlichen Religion. Zweiter Band, Karl Barth Gesamtausgabe II/20, 140). Den Grund für diese Unterscheidung aber können wir unschwer dem Kontext unseres Zitats entnehmen.
Dieser Kontext handelt davon, dass Gott der Menschenwelt im Leben und Sterben Jesu Christi seine Gerechtigkeit aus freier, ungeschuldeter Gnade erwiesen hat. Das Leben und Sterben Jesu Christi aber ist ein geschichtliches Ereignis. Aus historischer oder einfach weltlicher Perspektive gehören zu ihm alle die Zufälligkeiten, die menschlicher Geschichte nun einmal eignen. Nicht erst heute, aber im Zeitalter des Relativismus besonders heute, taucht darum immer wieder die Meinung auf, dass es für Gott eigentlich unangemessen sei, ganz an dieses Geschichts-Ereignis gebunden zu sein. Im Zuge dessen wird in Zweifel gezogen, ob sich hier tatsächlich für die Menschheit aller Zeiten entschieden habe, wer Gott ist. Gott von der Art und Weise der Verwirklichung seiner Gerechtigkeit z.B. im Kreuzestode Jesu Christi zu befreien und ihm anzubieten, sie doch ohne das Kreuz Christi zu erweisen, ist heute in der evangelischen Kirche und Theologie z.B. ein weithin begrüßter religiöser Einfall.
Im Unterschied dazu ist die Identität Gottes mit dem, wie er in Jesus Christus als Gott der Gerechtigkeit begegnet, die Basis von Karl Barths im Zeugnis der Bibel verankertem Gottesverständnis. Es ist in der Erfahrung des Glaubens wirklich Gott in der ganzen Fülle seiner Göttlichkeit, der seine Gerechtigkeit hier praktiziert. Hier hat die Christenheit darum zu lernen, wer Gott als Gott ist. Hinter oder neben dem, wie er sich hier als Gott zeigt, brauchen wir ihn fortan nicht mehr suchen und werden wir ihn auch nicht finden. Denn bei der Verwirklichung von Gottes Gerechtigkeit in der Christusgeschichte handelt es sich nicht um irgendeine zufällige, periphere göttliche Spontanaktion, hinter oder neben der noch ganz andere göttliche Aktionen lauern, hinter und neben der wir Gott auf uns religiös angenehmere Gerechtigkeiten verpflichten könnten.
Hier ist – um ein paar lockere Formulierungen Barths aus unserem Kontext zu verwenden – „das Pendel“ des göttlichen Handelns nicht einmal bloß zufällig und willkürlich nach der Seite gnädiger Gerechtigkeit hin ausgeschlagen, so dass wir es bei der geschichtlichen Verwirklichung dieser Gerechtigkeit mit einem „Hazardspiel“ Gottes zu tun bekämen (vgl. KD IV/1, 213). Die Annahme einer in Gott herrschenden „Unordnung und Liederlichkeit“ (KD IV/1, 212), welche das Offenbarmachen seiner Gerechtigkeit wie einen göttlichen „Seitensprung“ erscheinen lässt (KD IV/1, 600), verfehlt den Gott, den das Alte und das Neue Testament bezeugen. Gottes Gerechtigkeit ist – kurz und gut – nicht göttliche „Laune und Willkür, sondern Recht“ (KD IV/1, 590).
Der Begriff des Rechts bedeutet hier (wie im menschlichen Raum auch) zunächst ganz formal: gesetzliche Ordnung des Handelns und Verhaltens. In der Anwendung auf Gott heißt das: Gott ist kein Chaot, kein Gott der Unordnung. Wenn er Gerechtigkeit walten lässt, ist er „sich selber Gesetz, Maxime, Ordnung“. Er handelt immer in Übereinstimmung mit sich selbst. Deshalb gilt: „Diese Übereinstimmung mit sich ist Gottes Recht“ (KD IV/1, 591). Barths Rede von „Gottes Recht“ kann darum (wie in unserem Zitat) nahezu gleichbedeutend mit der Rede von Gottes Gottheit oder von Gottes Göttlichkeit werden. Gott zeichnet sich dadurch aus, dass er, indem er Gerechtigkeit walten lässt, in jeder Hinsicht „in sich richtig“ ist (KD IV/1, 592).
Wahrscheinlich darf man im Sinne Barths darum die Aussage „Gottes Gerechtigkeit“ durchaus so variieren: In sich richtige, geordnete, weil göttliche Gerechtigkeit. „In sich richtig“ und begründet nicht nur im Blick auf ihre Ausübung gegenüber der Menschheit, deren Schöpfer er ist. „In sich richtig“ an erster Stelle, weil der mit sich übereinstimmende Gott in der Ausübung seiner ewigen Gerechtigkeit (vgl. KD IV/1, 600), die mit seiner Gnade nahezu zusammen fällt, sich selbst in seiner Göttlichkeit für das rechtfertigt oder als im Recht erweist, was er da tut (vgl. KD IV/1, 626). Daraus folgt etwas Wesentliches: Wer ihm seine Gerechtigkeit bestreitet, wie er sie im Leben und Sterben Jesu Christi erwiesen hat, stellt ihn als Gott Frage.
Es ist deshalb wahrscheinlich doch etwas zu simpel, wenn man das Gottesverständnis Barths so auf den Begriff der Gnade reimt, dass dabei die Leidenschaft der Theologie Barths, die Gottheit Gottes zur Geltung zu bringen, in der Hintergrund tritt. Ohne das Recht, Gott zu sein, wie er es in der Ausübung seiner Gerechtigkeit ist, verliert auch die in ihrem „Kern und Wesen“ waltende Gnade ihren Wurzelgrund. Wir müssen uns deshalb einige Fundamentalia des Gottesverständnisses Barths vergegenwärtigen, wenn wir die Konkretionen richtig verstehen wollen, in denen Gott nach Barth seine Gerechtigkeit seinem Recht gemäß übt. Barth selbst fordert uns dazu auf, indem die ganze Versöhnungslehre von KD IV und so auch die Rechtfertigungslehre von ständigen Rückverweisen, Rekapitulationen und Neuakzentuierungen bestimmter Passagen seiner Gotteslehre durchzogen ist.
2. Das Recht und die Gerechtigkeit des trinitarischen, erwählenden Gottes
Das erste und grundlegende Charakteristikum Gottes, der in Jesus Christus seine Gerechtigkeit verwirklicht, besteht nach Barth darin, dass er trinitarischer Gott ist: Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist in der Einheit seines göttlichen Wesens. Für Barth war diese Einsicht so fundamental, dass er die Begründung und Entfaltung der Trinitätslehre schon in den Prolegomena der „Kirchlichen Dogmatik“ platziert hat. Von Gott ist darum in dieser Dogmatik niemals so die Rede, wie von der „pure(n), leere(n) Gottheit [...] eines abstrakten ‚Monotheismus’“ (KD IV/1, 222). Gott ist von Hause aus, in seinem göttlichen Sein, vielmehr „Einer und [...] ein Anderer“ und ein „Dritter“, der die Gemeinschaft zwischen beiden Anderen bekräftigt und bewährt (ebd.). Er ist Gott in Beziehungen. Eine „Geschichte dieser Beziehungen“ zeichnet ihn schon in seiner Ewigkeit vor der Erschaffung der Welt aus (vgl. ebd.). So begegnet er uns in seiner Offenbarung. Deshalb hat Barth seine Trinitätslehre in der Auslegung des Satzes „Gott offenbart sich als der Herr“ entfaltet.
Wir können jetzt nicht auf die sachlichen und terminologischen Probleme eingehen, die dabei entstehen und die zu diskutieren sind. Für uns wesentlich ist, das die Rede vom „inneren Recht der Gottheit“ im trinitarischen Verständnis Gottes gründet. Gott, wie er in Christus begegnet, existiert als Vater, Sohn und Heiliger Geist nämlich in einer (wir horchen auf!) bestimmten Ordnung.
Unter der Voraussetzung der völligen Einheit und „Gleichheit des göttlichen Wesens“ (KD IV/1, 213) gibt es im Verhältnis von Vater, Sohn und Heiligem Geist in Gott „ein Oben und ein Unten, ein Prius und ein Posterius, Vor- und Nachordnung“ (KD IV/1, 219). Sie zeigt sich im Zeugnis des Neuen Testaments darin, dass der Sohn dem Vater gehorsam wird, sich mit dem Menschen Jesus verbindet und in ihm in die „Fremde“ der von Gott abgefallenen, sündigen Menschheit geht. „Der Weg des Sohnes Gottes in die Fremde“ heißt der erste Unterabschnitt, der im ersten Teil der Versöhnungslehre Barths vom „Gehorsam des Sohnes Gottes“ handelt (vgl. KD IV/1, 171-231).
Vermutlich stößt uns heute, denen Freiheit mit Recht ein höchster Wert ist, der Begriff und die Vorstellung des „Gehorsams“ ziemlich auf, welche die theologische Argumentation Barths hier wesentlich leitet. Man hat Barth deshalb auch ein „autoritäres“, wenn nicht gar „patriarchalisches“ Gottesverständnis zum Vorwurf gemacht. Der Vater zwingt den Sohn, gehorsam auszuführen, was er will. Doch dieser Vorwurf ist oberflächlich. Es geht hier nach Barth nämlich um nicht weniger als um eine „Revolution“ im Gottesverständnis, die mit der Vorstellung einer abstrakten Herrschermacht Gottes Schluss macht (vgl. KD IV/1, 627). Diese Revolution besteht darin, dass Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, sein eigner „Untertan“ sein kann (KD IV/1, 227). Der Gott, den sich viele Religionen und leider auch eine von ihrem biblischen Grunde abschweifende Kirche und Theologie nur als „höchstes Wesen“ vorzustellen vermögen, das „vor lauter Gottheit“ (KD IV/1, 626) nichts mit der Menschenwelt anzufangen weiß, wird in Jesus Christus ad absurdum geführt. Denn der „in Hoheit Gebietende [...] und Regierende [...]“ ist hier zugleich „ein in Demut Gehorchender“ (KD IV/1, 221). Gott kann niedrig und erniedrigt, ohnmächtig und mitleidend mit seiner Menschenwelt werden, weil er damit von einer „in seinem Wesen [...] begründeten Möglichkeit Gebrauch macht“ (KD IV/1, 212), nämlich Einer und ein Anderer zu sein. Er ist darin „de iure“, von rechtswegen, in der Richtigkeit seines Gottseins Gott. Sein „väterliches Recht“, wie es auch heißen kann (KD IV/1, 631), hat darum eine grundlegende Tendenz „nach unten“ (KD IV/1, 221), zur Teilnahme am selbst verschuldeten Elend seiner Geschöpfe.
An dieser Stelle greift eine weitere, in Barths Gotteslehre verankerte, fundamentale Weichenstellung für sein Verständnis der Gerechtigkeit Gottes ein, die im Recht, im In-sich-richtig-Sein des trinitarischen Gottes, verankert ist. Barth hat sie den „Felsengrund“ einer göttlichen Entscheidung genannt, auf dem aller Glaube und damit auch alle christliche Theologie steht (KD IV/1, 213). Dieser „Felsengrund“ ist die Erwählung der Menschheit zur Partnerschaft im Bunde mit Gott. Sie steht am „Anfang aller Wege und Werke Gottes“ mit der Menschheit.
Wiederum kann ich hier so wenig wie beim Annoncieren der theologischen Bedeutung der Trinitätslehre Barths ausführen, welche Gewichte im Einzelnen dieser „Felsengrund“ trägt. Barth hat ihn die „Summe des Evangeliums“ genannt (vgl. KD II/2, 1). Höher kann man nicht greifen, um die Wichtigkeit eines theologischen Sachverhalts einzuprägen. Für das Verständnis der göttlich in sich „richtigen“ Gerechtigkeit des trinitarischen Gottes aber sind mindestens vier Dimension aus Barths Lehre von der „Gnadenwahl“ wesentlich.
Erstens: Aus der Richtigkeit von Gottes trinitarischem Gottsein folgt nach Barth keinesfalls so etwas wie ein innerer Zwang Gottes, seine Gerechtigkeit nun gerade so verwirklichen, wie er es in Jesus Christus tut. Was er hier tut, tut er auf Grund freier Entscheidung, auf Grund einer Wahl. Wo gewählt wird, kommt ein Wille zum Ausdruck. Die Gerechtigkeit Gottes, die bei Gottes ewiger Erwählung aller Menschen zu seinen Partnerinnen und Partnern waltet, wird von Barth deshalb als eine Bestimmung des Willens Gottes verstanden.
Zweitens: Das grundlegende Hindernis für die Partnerschaft von Menschen mit Gott ist ihre Sünde. Menschen, wie sie faktisch leben, sind Feinde Gottes, sind Gott entfremdet, zerstören sinnlos und grundlos ihr Verhältnis zu Gott und destruieren ihre Geschöpflichkeit (vgl. KD IV/1, 594f.). Sie scheiden darum als Partnerinnen und Partner Gottes aus (vgl. KD IV/1, 614f.). Sie sind „vor Gott vollständig und rettungslos unmöglich“ (KD IV/ 601). Mehr noch – und das ist jetzt entscheidend für Barths Verständnis der Gerechtigkeit Gottes! – Gott kann Menschen, die dem zerstörenden Chaos in ihrem Leben Raum geben, die hochmütig selber Gott sein wollen und dabei zu Tätern des Unrechts werden, nicht „unrechtmäßig verzeihen“ (KD IV/1, 666). D.h. er kann in nachlässigem Wegsehen oder im verharmlosenden Hinsehen schon in seiner Ewigkeit und erst recht in der Zeit nicht so tun, als wären sie keine Sünder. Das widerspräche dem richtigen Recht, in dem er Gott ist. Er würde sich damit selbst als „Wesen“, „Grund“, „Quelle“, „Garant“ und „Norm alles Rechtes“ aufgeben (vgl. KD IV/1, 625f.), selber gewissermaßen „unordentlich“ werden.
Deshalb muss den Menschen in der Sünde sein Zorn über ihr Tun, das ihr Sein prägt, treffen. Darum kann er die sündigen Menschen nur verwerfen, kann er nur ganz „hart sein“ (KD II/1, 450). Mit „Strafe“ für die Sünde hat das nichts zu tun. Barth wehrt diese un-neutestamentliche Vorstellung vielmehr ausdrücklich ab, nachdem er in seiner Lehre von den Vollkommenheiten Gottes noch von Gottes „strafender Gerechtigkeit“ im Sinne einer Lohn und Strafe zuteilenden iustitia distributiva geredet hatte (vgl. KD IV/1, 279 mit KD II/1, 439ff.). Ich komme darauf zurück. Hier geht es dagegen vor allem darum, dass Gott in seinem Nein zur Sünde sein Gottsein und in diesem Sinne seine „Würde“ als Gott so wahrt, dass das Ja zu allen seinen Geschöpfen darin die Dominante ist (vgl. KD II/2, 34).
Drittens: Der negativen Dimension der Gerechtigkeit Gottes steht also gegenüber, dass Jesus Christus die Offenbarung der Menschenliebe Gottes ist. Obwohl er die sündige Menschheit kraft göttlichen Rechts verwerfen muss, gibt er sie nicht auf. Auch sein Zorn ist darum letztlich nur als das „Brennen seiner Liebe“ (vgl. KD IV/1, 629) zu verstehen. Dieses Brennen zielt aber nicht darauf, die sündige Menschheit zu verbrennen. Gott hält an ihrer Erwählung zur Partnerschaft mit sich fest, indem er sich im Sohne Gottes mit dem Menschen Jesus als dem erwählten Repräsentanten des wahren, gerechten Menschseins aller Menschen vereinigt. In ihm sind, bleiben und werden wir als Partnerinnen und Partner Gottes bejaht.
Doch wie reimt sich das: Der Zorn, der uns verwirft und die Liebe, die uns in einer ontologischen, seinshaften Gemeinschaft mit dem Menschen Jesus als Gottes würdige Partnerinnen und Partner adelt, ansieht und behandelt? Barth selbst hat es eine „unheimliche Erleuchtung“ bezeichnet (KD II/2, 160), welche uns die ganze Bibel in dieser Hinsicht zuteil werden lässt. Sie besteht in Folgendem: Jesus Christus ist nicht nur der erwählte Mensch, in dem wir alle zu Partnerinnen und Partnern im Bunde mit Gott erwählt sind. Er ist in Einheit mit dem Sohne Gottes auch der erwählende Gott. Er – Gott! – geht den „Weg des Sohnes Gottes in die Fremde“. Er – Gott! – macht sich damit bis zum Tode am Kreuz „selber zum Gegenstand des Zornesgerichtes“ (KD II/2, 179). Er „wählte unsere Verwerfung. Er machte sie zu der seinigen. [...] Er wählte unser Leiden [...] zu seinem Leiden“ (ebd.). Er nimmt in diesem Selbsteinsatz das Zornesgericht der Verwerfung von der Menschheit und damit von jedem Menschen. Er macht uns davon frei. Darum gilt definitiv: In der in Christus erwählten Menschheit ist kein Mensch ein verworfener, verlorener Mensch (vgl. KD II/2, 183).
Viertens: Barths christologische Umschichtung der alten reformierten Lehre von der praedestinatio gemina hat für das Verständnis der Realisierung der Gerechtigkeit Gottes eine entscheidende Konsequenz. Sie ist, indem Gott in der Richtigkeit seines Gottseins seinen Zorn gegen sich selbst wendet, von der freien, ungeschuldeten Gnade gegenüber uns Geschöpfen grundiert. Denn Gott ist von Hause aus ein Gott der Beziehung, der Bejahung, Liebe. Seine Gerechtigkeit, in der er „die verlorene Sache seines Geschöpfs auf sich nimmt“, lässt es darum nicht zu, dass dieses „Geschöpf als sein eigener Feind sich selbst verderbe“ (KD II/2, 35). Gott verschafft ihm vielmehr „Recht“ „ohne und gegen sein Verdienst“. Er tritt ihm „damit entgegen, daß er gütig ist. Er rächt die Sünde damit, daß er sie [...] vergibt (ebd.).
Das Gericht, in dem der Richter selber der Gerichtete ist, endet für die Verklagten also mit einem „Freispruch“ (vgl. KD IV/1, 634-678). Sie werden in eine „neue Ausgangssituation“ gestellt (KD IV/1, 667). Sie können die Gerechten sein und als die Gerechten leben, zu denen sie Gott im Menschen Jesus erwählt hat. Die Gnade, die Gott ihnen erweist, ist darum keine sie demütigende, sie klein machende Gnade. Sie richtet Menschen vielmehr auf, in der Partnerschaft mit Gott nun tatsächlich in eigener Freiheit und Verantwortung von dem Recht Gebrauch zu machen, in welches sie der erwählende Gott mit seinem Freispruch setzt.
Die Verwirklichung der Gerechtigkeit Gottes; sprich: die Rechtfertigung von sündigen Menschen ist nach Barth mit jenem Freispruch jedoch noch nicht am Ende. Die „neue Ausgangssituation“ ist vielmehr die Ausgangssituation einer Geschichte des rechtfertigenden Gottes und der ins Recht gesetzten Menschen. Bevor wir uns diese Geschichte der Gerechtigkeit Gottes etwas näher ansehen, aber halten wir einen Moment inne.
3. Zwischenbesinnung: Gottes Gerechtigkeit als Gottes Vollkommenheit – Zugleich zu einem Strukturproblem der Kirchlichen Dogmatik
Wer sich auf unsere Tagung vorbereitet hat, dem wird aufgefallen sein, dass ich – mit zwei Ausnahmen – von einem Text der Kirchlichen Dogmatik keinen Gebrauch gemacht habe. Das ist der Absatz über Gottes Gerechtigkeit als einer „Vollkommenheit“ des göttlichen Wesen in KD II/1, der auch als „Basistext“ für unsere Tagung angegeben ist. Diese Leerstelle ist nicht dadurch entstanden, dass hier etwa nicht gleiche und ähnliche theologische Charakterisierungen der Gerechtigkeit Gottes zu finden wären, wie wir sie uns in Barths Rechtfertigungs- und Erwählungslehre auf dem Hintergrund der Trinitätslehre verdeutlicht haben. Vieles wird da vorweg genommen, auch der zentrale Gedanke, dass Gottes Gerechtigkeit es um der Würde Gottes und der Treue zu uns Menschen willen erforderte, dass er das Gericht – hier heißt es noch das „Strafgericht“ – an unserer Stelle für uns auf sich nehme. Aber eines fehlt: Die Darstellung der universalen Dynamik des Verständnisses der Gerechtigkeit Gottes, welche durch die Erwählungslehre in diese Dogmatik kommt.
Barth ist die Einsicht, dass diese Lehre bzw. das, was sie sagt, der „Generalnenner“ für jeden christlich-theologischen Satz sein muss (vgl. KD II/2, 100), in der Tat erst gekommen, als er die Erwählungslehre entworfen hat. Der von ihr angetriebene theologische Duktus, Menschen als Partnerinnen und Partner verstehen, die Gott zum Bunde mit sich erwählt hat, bestimmt fortan seine Schöpfungslehre und erst recht und vertiefend die Versöhnungslehre und – soweit es sich erkennen lässt – seine Eschatologie. Der Lehre von den Vollkommenheiten Gottes jedoch fehlt, obwohl auf den Bund Gottes im alt- und neutestamentlichen Zeugnis verwiesen wird, im Ganzen dieser dynamisch-geschichtliche Duktus oder er begegnet nur in Andeutungen und Ansätzen. Er muss sozusagen von hinten in diese Lehre hinein gelesen werden.
Damit komme ich auf ein Strukturproblem von Barths Gotteslehre, das für unser Thema nicht ganz unwesentlich ist. Denn die Lehre von den „Vollkommenheiten“ Gottes, zu welchen Gottes Gerechtigkeit gehört, hängt im ganzen Entwurf der Kirchlichen Dogmatik leider ein bisschen in der Luft. Man kann das daran merken, dass nach KD II/1 von Barth nur beiläufig und wenig stringent, häufig eher gewissermaßen symphonisch (wie z.B. in KD IV/1, 205) auf sie Bezug genommen wird. Diese strukturelle Unstimmigkeit aber schafft ein Interpretationsproblem auch von Barths Verständnis der Gerechtigkeit Gottes als eine der „Vollkommenheiten“ Gottes. Dieses Problem wiederum hängt damit zusammen, dass Barth in die Lehre vom Wesen Gottes zwei Merkmale der traditionellen Lehre von den sogenannten „Eigenschaften Gottes“ eingetragen hat.
Von Hause aus gehört diese Lehre ja nicht in die Offenbarungstheologie, sondern in die „natürliche Theologie“. Das wird bei Barth anders. Alle Eigenschaften Gottes verdanken sich der Erkenntnis der Christusoffenbarung. Barth teilt in KD II/1 aber in gewissem Grade die Ansicht jener traditionellen Lehre, dass im göttlichem Wesen alle Eigenschaften in eins fallen. Die „Einfachheit“ des Wesens Gottes „ist die Fülle selber und dessen Fülle die Einfachheit“, drückt Barth das aus (KD II/1, 457). Deshalb – so heißt es auch im Zusammenhang der Darstellung der „Gerechtigkeit“ – findet „im Reichtum seines Wesens [...] keine Teilung und also auch keine gegenseitige Begrenzung und Ergänzung seiner Eigenschaften statt. Wohl aber gilt dies von unseren Begriffen“ (KD II/1, 422).
Das bedeutet aber: Sie werden nicht in göttlicher, sondern in menschlicher Evidenz gebildet. Ihre Auswahl und Zusammenstellung durch die Theologie kann darum nur den „Charakter eines Versuches und Vorschlages haben“ (KD II/1, 396), den man sich wie ein „Schöpfen aus dem Ozean“ (KD II/1, 457) vorzustellen hat. Das aber passt nicht gut zur fundamentalen Bedeutung, die Gnade und Gerechtigkeit gerade auch in theologischer Begriffsbildung für die Charakterisierung des „Anfangs aller Wege und Werke Gottes“ und ihrer Verwirklichung in der Christusgeschichte haben.
Die andere Misslichkeit, die Barth sich in der Orientierung an der traditionellen Lehre von den Eigenschaften Gottes eingehandelt hat, ist die Unterscheidung zwischen kommunikablen und inkommunikablen Eigenschaften Gottes. Er hat sie so aufgenommen, dass die kommunikablen, eine Beziehung zu uns ausdrückenden Eigenschaften „Vollkommenheiten“ seiner Liebe seien und die inkommunikablen, die nur Gott selbst betreffen, „Vollkommenheiten“ seiner Freiheit. Schon das ist nicht glücklich. Was ist das für eine Liebe, die durch Freiheit kontrapunktiert werden muss? hat Eberhard Jüngel gefragt. Ist Liebe nicht per se ein Ereignis der Freiheit? Bei Barth hat dieses „Kontrapunktieren“ die Folge, dass er immer wieder kleine Anwandlungen zeigt, einer potentia Dei absoluta das Wort zu reden. Gott wäre auch vollkommen, wenn es uns alle nicht gäbe und er alles nicht täte, was er an uns tut, streut er immer mal wieder ein (vgl. KD II/1, 520 u.ö.). Das ist angesichts dessen, dass der trinitarische Gott schon „im voraus der unsrige“ ist (KD I/1, 404), eine zumindest überflüssige Einklammerung, die geeignet ist, den Erwählungsratschluss Gottes ins schiefe Licht eines willkürlichen Gottesaktes zu bringen.
Was nun aber die „Vollkommenheiten“ der Liebe betrifft, so hat Barth vorgeschlagen, sie zu Begriffspaaren zu ordnen. Deren erstes Glied hebt Gottes Liebe hervor, während das Zweite schon auf eine Vollkommenheit der göttlichen Freiheit weist. Es handelt sich dabei um drei Begriffspaare. Gnade und Heiligkeit, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit sowie Geduld und Weisheit. Dass man diese Begriffe auch anders ordnen könnte, wird schon daran sichtbar, dass Barth sie bei ihrer Explikation vielfach durcheinander mischt. Er hat an dieser Ordnung denn auch, wie wir gesehen haben, nicht festgehalten. Gnade und Gerechtigkeit wird das Begriffspaar, das dann die Versöhnungslehre beherrscht, weil sich das von Gottes gnädigem und gerechten Handeln her stringent aufdrängt. Kurz und gut: Nach der Erwählungslehre hätte Barths Lehre von den „Vollkommenheiten“ als Lehre von den Konkretionen der Beziehungen des trinitarischen, erwählenden Gottes sicherlich einen eindeutigeren Ort gefunden. Dieser Ort hätte auch die Chance geboten, nicht nur die Eierschalen der traditionellen Eigenschaftslehre loszuwerden, nämlich die Tendenz zur uneigentlichen Begriffsbildung, die bei Barth häufig zu einem Wortschwall führt. Er – dieser Ort – hätte auch dazu beitragen können, die Nachklänge der „dialektischen Phase“ von Barths Gottesverständnis, in der es auf den „unendlichen, qualitativen Unterschied“ zwischen Gott und Mensch ankam, abzuschütteln. Letzteres kann man gerade an der Entwicklung von Barths Verständnis der Gerechtigkeit Gottes gut zeigen.
Die Lehre von den Vollkommenheiten Gottes knüpft nämlich an die Eigenschaftslehre an, wie Barth sie 1924/25 in der Göttinger und später Münsteraner Dogmatik-Vorlesung entworfen hatte. Auch dort begegnet schon das Begriffspaar Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, nun aber ziemlich anders als in der Kirchlichen Dogmatik. Gottes Gerechtigkeit, heißt es da, ist „die Ordnung“ seines „fordernden“ Willens („iustitia legislativa“) und seines „disponierenden“ Willens („iustitia distributiva“) (a.a.O., 139). Sie ist „die göttliche Krisis (!) über Alles, was lebt“ (a.a.O., 140), also nicht „Krisenorientierung“, sondern ein Stürzen in die Krise. Sie ist geprägt von Gottes „Aseität“ als „kritischer“ und „richtender Macht“ über alles Menschliche. Es sei deshalb „nicht wohl getan“, Gottes Gerechtigkeit „seiner Liebe zu subordinieren“ (a.a.O., 140), sagt Barth hier. Die Liebe, die Gott in seiner Barmherzigkeit erweise, sei mitten durch sein Richten hindurch vielmehr „die Durchbrechung der Gerechtigkeit“, „ein Unerwartetes, Freies, Überschießendes [...], als nicht aufgehender Rest in der Rechnung der Gerechtigkeit“ (a.a.O., 142).
Wir merken hier deutlich, wie die sogenannte „Dialektik“ von Ja und Nein, Nein und Ja Gottes den Ton angibt, welche Gottes Unverfügbarkeit einübt. „Ja am Nein zu verdeutlichen und Nein am Ja, ohne länger als einen Moment in einem starren Ja oder Nein zu verharren“, war ja regelrecht das theologische Programm Barths in jener Zeit (Das Wort Gottes auf Aufgabe der Theologie, in: Das Wort Gottes und die Theologie, Gesammelte Vorträge, München 1925, 172). Da boten sich Begriffspaare der inkommunikablen und kommunikablen Eigenschaften geradezu an, jene „Dialektik“ zu exerzieren.
Mit der christologischen Konzentration der Theologie Barths wird das anders. Da ist das Positive dominierend. Die Barmherzigkeit Gottes bestimmt die göttliche Gerechtigkeit, die Barth hier gut alttestamentlich als Treue Gottes interpretiert. Aber dann läuft die Darstellung dieser Vollkommenheit doch stark darauf hinaus, dass der „zürnende, verurteilende und strafende Gott“ (KD II/1, 443) wegen seiner verletzten „Ehre“ (vgl. KD II/1, 450) dem Menschen zukommen lassen muss, „was er verdient hat“ (KD II/1, 451). Die Anklänge an Anselms Satisfaktionstheorie verbunden mit dem Horizont der Freiheit des „allmächtigen Herrn und Schöpfers des Kreatur“ (KD II/1, 453) lassen hier offenkundig die Tragweite der Einsicht noch nicht zu, dass gerade der sich erniedrigende Gott der wahre Gott ist, der sich mit der Menschheit leidend verbündet und so Gerechtigkeit übt.
4. Gottes Gerechtigkeit zwischen den Zeiten
Wir nehmen nun den Faden wieder auf, den wir vor unserer Zwischenbesinnung liegen gelassen haben. Wir sagten: nach Barth endet der Vollzug des Gerichtes Gottes für die sündigen Menschen mit einem Freispruch. Sie werden in eine „neue Ausgangsituation“ gestellt. Diese Situation sieht so aus: Menschen sind kraft des Urteils Gottes von ihrer Vergangenheit als Feinde Gottes und Destruierer ihrer Geschöpflichkeit frei. Da ist ein „Schlussstrich“ gezogen worden (KD IV/1, 667). Positiv bedeutet das: Ihnen sind ihre Sünden von gestern vergeben. Sie können nun „den Kopf hoch heben und hoch tragen“ (KD IV/1, 668). Sie haben das Recht dazu, das „Recht auf ein Sein mit ihm (sc. Gott), das Recht auf jederzeitigen Zugang zu ihm, das Recht, ihn anzurufen, das Recht sich auf ihn zu verlassen, das Recht, [...] Alles von ihm zu erbitten und zu erwarten“ (KD IV/1, 669). Barth hat dieses Recht, das er auch das Recht des „Kindes Gottes“ nennt, geradezu als den „Inbegriff alles Menschenrechtes“ bezeichnet (ebd.). Denn es ordnet, wozu Menschen in der grundlegenden Beziehung zu Gott eigentlich bestimmt sind.
Der Freispruch Gottes, der auf eine „Seingemeinschaft“ von Menschen mit Gott zielt, erfolgt nun aber in eine Situation der Welt und des Lebens jeden einzelnen Menschen hinein, die immer noch von der Sünde und ihrer Macht bestimmt ist, in der auch und gerade die Christenheit von ihrem Recht keinen oder einen fragwürdigen Gebrauch macht. Die Vergangenheit ist noch da, in welcher jeder Mensch „noch ein Ungerechter“ ist (KD IV/1, 642). Deshalb haben Menschen das Sein gerechter Menschen als Verheißung der Zukunft immer noch vor sich. Sie haben es in der Teilnahme an Geschichte der Verwirklichung von Gottes Gerechtigkeit so vor sich, wie ihrem Vollzuge in Jesus Christus mitten in der Zeit ihre universale Offenbarung am Ende aller Zeiten, im Reiche Gottes, noch bevor steht.
Zu Barths Verständnis der Gerechtigkeit Gottes gehört darum fundamental, dass der seine Gerechtigkeit verwirklichende Gott Menschen auf einen Weg zwischen diesen beiden Erweisen seiner Gerechtigkeit schickt, einlädt und bereit macht. Wir erinnern uns: Sie sind ja zu Partnerinnen und Partnern Gottes erwählt, zu Teilnehmerinnen und Teilnehmern an der Verwirklichung seiner Gerechtigkeit und nicht zu Marionetten seines Willens. Gottes Gerechtigkeit zielt auf freie Menschen, die ihr Anliegen zu ihrer eigenen Sache machen und nicht auf Automaten seines Willens. Darum ist das „Noch nicht“ der vollkommenen Darstellung der „Seinsgemeinschaft“ mit Gott im Leben von Menschen kein Manko. Es ist vielmehr Eröffnung eines Raumes in Gottes Schöpfung, in dem wir Menschen mit Gott gemeinsame Sache machen können, bis er sie selbst am Ende der Zeiten vollendet.
In seiner Rechtfertigungslehre hat Karl Barth diese Dynamik eines von Gott gerechtfertigten menschlichen Seins und Lebens auf die Begriffe der „anhebenden“ und sich „vollendenden Rechtfertigung“ gebracht (vgl. KD IV/1, 642ff.). Damit ist gemeint: Sie hebt an, indem Menschen von ihrer Vergangenheit frei gesprochen werden und sie vollendet sich in voller Seingemeinschaft mit Gott in der Zukunft, die im Zuspruch durch Gottes Wort jetzt schon Gegenwart ist. Ob es glücklich war, von „anhebender“ und sich „vollendender Rechtfertigung“ zu reden, kann man angesichts des unsere Werke vor Gott so schätzenden römisch-katholischen Beifalls über diese Formulierung (Hans Küng!) fragen. Aber ich lasse jetzt einmal alle konfessionellen Streitfragen um die Rechtfertigungslehre ebenso wie Barths Umgang der reformatorischen Rechtfertigungstradition beiseite. Insbesondere in Hinblick auf sein Verständnis des Glaubens als Antwort auf Gottes dem Menschen zugewendete Gerechtigkeit gäbe es da einiges zu fragen.
Hier kommt es darauf an, zu verstehen, das genau so, wie Gott bei Verwirklichung seiner Gerechtigkeit noch unterwegs ist, auch der Mensch, dem Gott seine Gerechtigkeit zuwendet, „im Übergang“ lebt (KD IV/1, 665). Das „Sein des gerechtfertigten Sünders“ ist ein „wie ein Bogen gespanntes Sein“, das nach vorwärts weist (KD IV/1, 664). Mit solcher Spannkraft kann ein Mensch ein „fröhlicher Wandersmann“ (KD IV/1, 675) sein, der bei seinem Wandern nicht rückwärts, sondern vorwärts schaut. Als passive und müde Nutznießerinnen und Nutznießer der Gerechtigkeit Gottes werden sich Menschen bei dieser Wanderschaft deshalb ganz gewiss nicht verstehen. Sie können es gar nicht, weil die Einweisung in die Rechte eines gerechtfertigten Menschen auch Pflichten und Aufträge impliziert, die auf jenem Wege in eigener Verantwortung wahrgenommen werden wollen.
Es wäre nun viel, sehr viel davon zu reden, wie sich im Fortgang der Kirchlichen Dogmatik das Leben der Gemeinde und des Einzelnen mit der Spannkraft, die ihnen Gottes Gerechtigkeit verleiht, darstellt. Doch das würde unser Bemühen um das Verstehen von Gottes Gerechtigkeit in viel zu weite Gefilde führen. Auf einen Text der Kirchlichen Dogmatik, der unter den Basistexten unserer Tagung auch nicht erscheint, aber möchte ich zum Schluss und gewissermaßen als Überleitung zu den Vorträgen von Morgen, in denen es um weltliche Gerechtigkeit geht, aber doch noch hinweisen. Das ist das letzte Kapitel, das Barth für seine Ethik der Versöhnungslehre geschrieben, wenn auch nicht mehr selbst veröffentlicht hat, so dass es etwas Vermächtnisartiges an sich trägt. Es lautet „fiat iustitia“ (Das christliche Leben, Karl Barth Gesamtausgabe II, Zürich 1976, 450-470).
5. Göttliche und menschliche Gerechtigkeit
Karl Barths Ethik der Versöhnungslehre war so geplant, dass an ihrem Anfang die Lehre von der Taufe, in ihrer Mitte eine Auslegung des Vaterunsers und an ihrem Ende die Lehre vom Abendmahl stehen sollte. Ich erläutere diesen ungewöhnlichen Aufriss einer Ethik des Christenlebens jetzt nicht weiter, sondern springe gleich in die Auslegung der zweiten Bitte des Vaterunsers „Dein Reich komme“, mit welcher die Kirchliche Dogmatik abbricht.
Barth geht hier davon aus, dass die Christenheit von ihrem „Recht“, Gott zurufen, tatsächlich auch Gebrauch macht. Angesichts der Unordnung und der Ungerechtigkeiten, welche Menschen in dieser Welt quälen und knechten, muss das menschliche Beten als „Aufstand“ gegen ein derartiges Weltelend verstanden werden (ChL, 451). Das Beten ist, indem es sich an Gott als Grund und Quelle aller Gerechtigkeit wendet, „Kampf gegen diese Unordnung“ (ChL, 452). Denn es wendet sich an den Einzigen, der sie vollkommen überwinden kann. Es ist „das Beste“, das „Tapferste“ sogar, was die Christenheit gegen Unrecht und Unordnung in der Welt tun kann. Es ist aktive Teilnahme an „der Bewegung und Wendung“, die Gottes in Christus verwirklichte und noch zu offenbarende Gerechtigkeit in diese Welt gebracht hat (vgl. ChL, 454).
Wenn die Christenheit so betet, dann kann sie aber unterdessen „nicht müßig [...] gehen“ (ChL, 455). Sie wird die Zeit zwischen dem Anheben und dem Vollenden der Gerechtigkeit Gottes für uns vielmehr als Zeit ihrer „Verantwortlichkeit für das Geschehen menschlicher Gerechtigkeit“ begreifen (ChL, 457). In dieser Verantwortlichkeit wird sie sich hüten, irgendeiner Ideologie, einem Prinzip, einem Parteiprogramm menschlicher Gerechtigkeit aufzusitzen, eine „von den vielen ihnen angebotenen Bohnenstangen zu verschlucken, um dann mit so gestärktem Rücken durch die Weltgeschichte zu laufen“ (ChL, 465). Denn ihre Sache ist in menschlicher Entsprechung zu Gottes Gerechtigkeit nicht eine „Sache“, sondern der konkrete Mensch selbst, für den Gott eingetreten ist; allem voran der leidende Mensch. „Gerechtes Tun“ kann aller Einsatz von Christinnen und Christen für menschliche Gerechtigkeit nur sein, wenn der „eigentliche [...] Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit, ihrer Liebe, ihres Wollens, [...] ihres Denkens, Redens und Tuns [...] der Mensch“ ist, „dessen Bruder Gott selbst [...] wurde“ (463f.).
Dieser Mensch ist überall gegenwärtig, selbst hinter den aufgesetzten Masken und „Gewandungen“ von Politikern und sonst welchen Funktionären in Gesellschaft und Kirche. Ihnen begegnen Christenmenschen nicht in der Pose der Überlegenheit, indem sie die Ideologien einer gerechten Welt mit einer absolut richtigen, religiös begründeten Gerechtigkeitstheorie zu überbieten trachten. Im Wissen um Gottes Gerechtigkeit ist ihnen ganz bewusst, dass alle Verwirklichung menschlicher Gerechtigkeit nur relativ, gebrochen und unvollkommen sein kann. „Mit dem tollkühnen, bzw. dummfrechen Unternehmen, [...] ein religiöses, kultisches, moralisches, politisches Reich Gottes auf Erden herbeiführen zu wollen“ (ChL, 456), werden die an den Gott der Gerechtigkeit glaubenden Menschen nichts zu tun haben.
Doch daraus ziehen sie nach Barth unter keinen Umständen den Schluss aller „faulen Knechte“, es „lohne sich gar nicht erst, sich in Sachen der kleinen menschlichen iustitia Mühe zu machen (ChL, 458). Gerade das „tief unvollkommene menschliche Tun“ in Entsprechung zu Gottes vollkommenem gerechten Tun kann, indem die Christenheit unter Gottes Verheißung vorwärts orientiert ist, nicht unterbleiben. Sie wird dabei solidarisch mit den Menschen sein, die – aus welchen Gründen auch immer – nach Gerechtigkeit hungert und dürstet. Denn diejenigen, die von der Erfahrung der Gerechtigkeit Gottes herkommen, wissen, dass jeder Mensch, welcher „nach Menschenrecht und Menschenwürde fragt und sucht, Gott auf seiner Seite hat“ (ChL, 468). Darum werden auch sie „ihm zur Seite treten, Mut machen, sich mit der Weltunart und dem Weltunheil nicht abzufinden, [...] nicht rückwärts, sondern vorwärts zu blicken“. „Schande über sie, wenn sie sich von ihm an Mut dazu übertreffen ließen“, steht auf der letzte Seite der Kirchlichen Dogmatik (ChL, 470).
Das letzte Wort der Kirchlichen Dogmatik und so auch das letzte Wort Barths in Sachen Gottes Gerechtigkeit ist dieser Drohruf jedoch nicht. Das bleibt vielmehr das erste Wort, von dem wir ausgegangen sind, um dem Verständnis der Gerechtigkeit Gottes in der Theologie Barths auf die Spur zu kommen. Es ist die in Jesus Christus verwirklichte Gerechtigkeit der Gnade Gottes, die uns würdigt und befähigt, in Zeit und Ewigkeit Partnerinnen und Partner unseres menschenfreundlichen Gottes zu sein.