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< Christianisme sans religion"? De l'actualité des questions posées par Dietrich Bonhoeffer à parti de son 'interprétation a-religieuse de concepts bibliques'
01.09.2013 00:00 Alter: 11 yrs
Kategorie: Predigten

Gottes Toleranz (2. Petrus 3,9)

Predigt in der Luthergemeinde Berlin am 01.09.2013


Der Herr verzögert nicht die Erfüllung seiner Verheißung, wie einige meinen. Er hat vielmehr Geduld mit Euch. Er will nicht, dass jemand zugrunde geht, sondern dass alle umkehren.

Liebe Gemeinde,

im April dieses Jahres hat die Synode unserer Landeskirche das Thema „Reformation und Toleranz“ zum Zentrum ihrer Beratungen gemacht. Was dabei heraus gekommen ist, kann man jetzt auch in einer Broschüre mit dem Titel „Toleranz nach evangelischem Verständnis“ nachlesen. Darin hat eine eigens eingesetzte Arbeitsgruppe, der Bischof, ein referierender und ein predigender Professor sowie eine engagierte Pfarrerin unter dem Strich auch sehr viel Richtiges und Wichtiges zu diesem Thema gesagt.

 Aber den Punkt, an dem das Thema „Toleranz“ in der Bibel „Klick“ macht, haben die alle miteinander trotzdem nicht richtig erwischt. In der Predigt, die bei dieser Synode gehalten wurde, heißt es sogar „Der Gott der Bibel ist kein toleranter Gott“. Er ist ein „eifriger Gott“, der aus Liebe die Ungerechten und Gottesfeinde seinen Zorn spüren lässt und sie „züchtigt“. Seine Liebe sei geradezu „erschreckend bedingungslos“ und „unerbittlich“. Seine Gnade sei „gnadenlos“ und sein Erbarmen „erbarmungslos“.

 Was man sich darunter vorzustellen hat, ist mir, liebe Gemeinde, verschlossen geblieben. Denn jemand, der mich gnadenlos und erbarmungslos liebt, erstickt mich. Liebe, die keine Luft zum Atmen, zum freien Aufatmen lässt, ist keine Liebe, sondern ein Albtraum. Menschen, besonders junge Menschen, die auf diese Weise von ihren Eltern „geliebt“ werden, bekommen für’s Leben einen Knacks in ihrer Seele. Die biblische Gotteserfahrung, dass Gott auch „Nein“ sagt zu den Untaten seiner Geschöpfe, muss darum anders auf seine Liebe bezogen werden als so, das damit die „Freiheit der Kinder Gottes“ auf der Strecke bleibt. Dabei aber kommt auch so etwas ins Spiel wie Toleranz, Gottes Toleranz nämlich.

 Dieses Wort als solches kommt in der Bibel in der Tat nicht vor. So wie es in der europäischen Geschichte in Brauch gekommen ist, heißt es ja einfach „Dulden“ oder auch „Erdulden“. Wir haben uns das am Beginn unseres Gottesdienstes schon klar gemacht. Nach einer wüsten Geschichte gegenseitiger Bekämpfung haben sich die christlichen Konfessionen erschöpft und ausgelaugt darauf verständigt, sich gegenseitig zu dulden und zu erdulden. Das ist immerhin besser, als sich die Köpfe einzuschlagen. Aber in dieser Art von Toleranz, die Menschen mit einer anderen Meinung und Lebensart gleichsam zähneknirschend neben sich erträgt, grummelt leider auch ein ganzes Wespennest von Misstrauen, Angst und Ablehnung der so Anderen neben mir, - ein Wespennest, das bei der ersten besten Gelegenheit bissig ausschwärmt.

 Wir kennen das nur allzu gut aus unserer alltäglichen Erfahrung. Es passt mir überhaupt nicht in den Kram, wie die Kollegin oder der Kollege sich aufspielen. Ich muss ihre Art und Weise eben ertragen, wenn ich mit ihnen zusammen arbeiten will und vermutlich denken die im Blick auf mich genauso. Dann aber bricht irgendein vielleicht lächerlicher Konflikt aus und schon beginnen die unter dem Deckel gehaltenen Wespen zu stechen und zu beißen.

Toleranz, welche unsere Intoleranz, unsere Ablehnung der Menschen mit anderer Meinung, Lebensart, Lebensführung, Religion oder Religionslosigkeit bloß deckelt, reicht also nicht weit. Wenn nicht irgendwas dazu kommt, was das bissige Wespennest unter dem Deckel in einen Hort freundlicher Gesinnung und Verstehensbereitschaft für die uns anstößigen Menschen verwandelt, bleibt sie ein Pulverfass von Unduldsamkeit.

 In der Bibel kommt etwas dazu, kommt bei Gott etwas dazu. Es hat auch etwas mit dem Wort „Erdulden“ zu tun. Nur hier heißt es – wie in unserem Predigttext – „Geduld“. Gott ist geduldig mit uns. Bei dieser Aussage von Gott macht es für den Bibelkundigen „Klick“, wenn er danach fragt, was Gott mit der Toleranz zu tun hat. Er bemerkt als Erstes, wenn er auf das Wort von Gottes Geduld trifft, wie es der 2. Petrusbrief verwendet, dass hier eine Glaubenserfahrung aufgenommen wird, die sich durch die ganze Bibel zieht. „Gnädig und barmherzig ist der Herr, geduldig und von großer Güte“, haben wir vorhin mit dem Beter des 145. Psalms gemeinsam bekannt. 

 Geduld aber ist ohne Zweifel etwas anders als bloßes Erdulden. Erdulden lauert auf den Moment, wo’s damit ein Ende hat und die bissigen Rechthaber auf den Plan treten können. Geduld, Gottes Geduld, aber ist mit „großer Güte“ verschwistert. Geduld, Gottes Geduld, ist dadurch ausgezeichnet, dass seine „große Güte“ einen längeren Atem hat, als eine Toleranz, welche das Zusammenleben von Menschen mit gegensätzlichen Überzeugungen, Weltanschauungen und Kulturen bloß deckelt. Geduld, die in „großer Güte“ gründet, ist die Ausdauer, mit der Gott seine Geschöpfe von ihren Taten und Untaten unterscheidet und sie so liebenswert macht.

Es ist darum eigentlich schade, dass das biblische Wort für den langen Atem der Güte, der niemals der „Geduldsfaden“ reißt, nach und nach aus der deutschen Übersetzung der Lutherbibel getilgt wurde. Es ist durch „Geduld“ ersetzt worden. Dieses Wort aber hat nun einmal in unserer deutschen Sprache den Klang, dass wir innerlich stöhnend etwas aushalten, was uns eigentlich ganz und gar nicht passt. Der Grund, der zu diesem Glattbügeln eines ursprünglich voll Energie – voll Güte-Energie – geladenen biblischen Wortes geführt hat, ist auch klar. Das biblische Wort für den langen Atem der Güte ist nämlich nach und nach überhaupt aus unserer deutschen Sprache verschwunden. Wahrscheinlich hängt das mit der Kurzlebigkeit zusammen, die Lebensorientierungen und Sinnangebote in schnell wechselnder Folge heutzutage für uns Menschen haben. Wer gestern noch auf der Höhe des Zeitgeistes war, ist morgen schon der Dussel. Menschen werden darum auf kurz in der Zeit eingestellt und nicht auf lang.

Mit Gott, mit dem ewigen Gott, nur kurz etwas auszuprobieren, was unser Leben sinnvoll macht, aber geht nicht. Gott ist im biblischen Sinne ein Langzeitgott, der gestern, heute und in Ewigkeit darauf aus ist, uns mit seiner Güte selber gütig zu machen. Das ist nicht nur ein „Projekt“, wie man heute sagt. Das ist ein Lebenselexier für Zeit und Ewigkeit. Und deshalb heißt das biblische Wort für den langen Atem der Güte Gottes nicht bloß zuwartende Geduld, sondern Mut, Mut in einem besonderen Sinne. Es bedeutet nämlich „Lang-Mut“.

An einigen Stellen unserer Bibel kommt dieses Wort noch vor, wie in der Epistel, die wir vorhin gehört haben: Die Liebe ist langmütig, heißt es da. Sie hat also einen langen Mut, eine Kraft des Durchstehens für den der Liebe würdigen Menschen, auch wenn er sich wie ein Ekel und viel, viel schlimmer aufführt. Der verlorene Sohn im Gleichnis Jesu ist da mit seinem Verschleudern des Erbes des Vaters, mit seinem Prassen und Huren angesichts der Untaten, zu denen Menschen fähig sind, ja noch ein verhältnismäßig harmloser Typ.

 Ich habe in der vergangenen Woche beim Filmfest „Incredible“ in Potsdam-Babelsberg eine Diskussionsrunde mit einem im Ost-Kongo tätigen Hirnforscher, dem Chef der Berliner Gefängnisse und einem Medienmenschen moderiert. Diese Runde fand im Anschluss an zwei Filme statt, welche die Exzesse des Bösen, der Menschen vernichtenden Intoleranz, auf kaum aufzuhaltende Weise ins Bild gesetzt haben. Die Frage, die diskutiert werden sollte, lautete: Warum tun Menschen anderen Menschen so etwas an wie es Mörder tun, wie es Massenmörder von der Art der Nazis taten, wie es sich heute dank der Medien vor unseren Augen in Syrien und Ägypten abspielt?

Alles, was auf diese Frage geantwortet wurde, mündete am Ende in großer Ratlosigkeit. Ob nun durch das Gehirn stimuliert, durch die Evolution des Lebens programmiert, durch Ideologien und Religionen verführt – wir Menschen sind und bleiben füreinander offenkundig unberechenbare Wesen. Es ist nötig, dass wir voreinander auf der Hut sind. Wir brauchen Militär, Polizei, Strafgerichte und Gefängnisse, um einigermaßen sicher miteinander zu leben. „Keine Toleranz mit der Intoleranz“ sagen deshalb auch die, die Verstehensbereitschaft  und Respekt vor anders Denkenden und Glaubenden auf ihre Fahnen geschrieben haben.

Das ist angesichts der absurden, unberechenbaren Ausbrüche des Bösen unter uns Menschen ja an sich auch richtig und realistisch. Mit der Duldung von Gewalt, die anderen Menschen ans Leben geht, sie diskriminiert und verächtlich macht, würde sich die Toleranz im Namen der Menschlichkeit selbst das Wasser abgraben. Und doch sollte sich unsere Kirche die Devise vom Ende der Toleranz gegenüber den Intoleranten nicht so einfach zu Eigen machen. Es kann dann nämlich sein, dass sich das dunkle Wesen der Unduldsamkeit selbst in die menschenfreundlichste Gesinnung einschleicht.

„Auch der Hass gegen die Niedrigkeit/ verzerrt die Züge./ 
Auch der Zorn über das Unrecht/  Macht die Stimme heiser“, heißt es Bertold Brechts berühmten Gedicht „An die Nachgeborenen“. Es mündet in die Klage: „Ach, wir/
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit/ 
Konnten selber nicht freundlich sein“.

 Da hat also der lange Atem der Güte gefehlt, der auch denen gegenüber nicht aussetzt, deren Herzen von Hass infiziert sind und deren Taten uns erschrecken und Angst machen. Dieser lange Atem fehlte ganz offensichtlich auch denen, an die der Verfasser des 2. Petrusbriefes sich wendet. Sie wollten, dass Gott endlich Schluss macht mit all dem Elend, das Hass und Menschenverachtung auf der Erde anrichten. Sie wollten, dass die dem Bösen dienstbaren Sünder und Sünderinnen endlich verschwinden, ja sogar mit Krachen und Donnern so bald wie möglich vernichtet werden. Sie wollten Gottes Reich des Friedens für sich selbst ohne Verzögerung  jetzt! Dass Gott sich so viel Zeit lässt, seine Verheißung dieses Reiches zu erfüllen, hat sie darum mächtig gewurmt. Wahrscheinlich hatten sie heisere Stimmen, als sie von Gott in der Gemeindeversammlung forderten, mit der Welt kurzen Prozess zu machen.

Gott aber hat in Christus ein Zeitalter eröffnet, in der alle Menschen Gelegenheit haben sollen, ein Leben zu führen, das seiner Geschöpfe würdig ist. Er will keine verlorenen Fälle für sein Reich. Er will, dass wir in Freiheit Partnerinnen und Partner seiner Menschenfreundlichkeit werden, die jedem Menschen gilt. Dafür gibt er uns Zeit. Darum zeichnet ihn der lange Atem der Güte aus, mit dem er nicht aufhört, gerade mit den Menschen einen neuen Anfang zu machen, denen wir mit unserer Intoleranz gegenüber den Intoleranten einen solchen Anfang schon nicht mehr zutrauen.

Dass sich Gott selbst, indem er mit seiner Güte nicht wankt, einen schweren Stand unter seinen Geschöpfen zumutet, ist wohl wahr. Der lange Atem der Güte muss sich nicht bloß von Atheisten vorhalten lassen, dass er gegenüber den Ausbrüchen des Bösen so wehrlos, so machtlos ist. Was richtet er schon aus, wenn Menschen nicht aufhören, sich an den Kragen zu gehen und sich Leiden über Leiden zuzufügen?

Das Zeitalter der Menschlichkeit, das Christus eingeläutet hat, ist nicht so geworden, wie Gott es gemeint hat. Er, Gott, muss aushalten, erdulden, dass es bis auf diesen Tag mit der Schande menschlicher Untaten bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und verunstaltet wurde. Doch Gottes Erdulden – seine tolerantia hat schon Martin Luther gesagt – ist beileibe kein müdes Erschlaffen. Denn der lange Atem seiner Güte hört nicht auf, Menschen zu inspirieren, selbst gütig zu werden und – trotz allem, was dagegen spricht – durch Zuwendung zu ihren problematischen Mitmenschen zu helfen, dass sie vom Dunstkreis der Menschenfeindlichkeit frei werden.

Was mich bei jenem Gespräch in Potsdam-Babelsberg neben vielem anderen in dieser Hinsicht besonders bewegt hat, war ein Bericht über eine Station der norwegischen Kirche im Ost-Kongo. Dort bemüht man sich, Menschen, die als Kindersoldaten groß geworden sind, an ein sog. „normales Lebens“ ohne Krieg zu gewöhnen. Der Hirnforscher, der diese Menschen untersucht hat, hat gesagt: Das ist fast unmöglich. Denn diese Menschen haben als Kinder die Lust am Töten so verinnerlicht, dass sie sich immer danach sehnen werden, andere Menschen abzuschlachten.

Angesichts dieses Urteils könnte die norwegische Station im Grunde schließen. Aber das tut sie nicht. Sie setzt auf den längeren Atem, der in einer Atmosphäre der Menschlichkeit stark genug ist, diesen armen, missbrauchten Menschen einen Weg ins menschliche Zusammenleben zu eröffnen, auf dem Lust daran, anderen Menschen Gutes zu tun, ihr Leben bestimmt.

Unsere Welt, unsere Gesellschaft, liebe Gemeinde, braucht solche Menschen, die sich den Mut, den Lang-Mut der Güte nicht nehmen lassen. Sie braucht Menschen, die Gottes Güte nachahmen. Es gibt nichts, was dazu ausdauernder motiviert als der Glaube an den Gott der Güte und seine Lang-Mut. Amen.


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