Kategorie: Theologiegeschichte des 20. Jh.
§ 12 Theologie und Ontologie: Paul Tillich (1886-1965)
1. Hinweise zur Biographie
- 20.08.1886 geboren in Starzeddel (Bez. Guben); Sohn des Pastors Oskar Tillich
- aufgewachsen in Berlin; 1904 Abitur
- Studium der Theologie und Philosophie in Berlin, Tübingen und Halle (Einfluss: Martin Kähler!).
- 1910: Promotion zum Dr. phil. über Schelling
- 1911: Promotion zum Dr. theol.: „Mystik und Schuldbewusstsein in Schellings philosophischer Entwicklung“
- 1910-1912: Vikariat in Nauen; Hilfsprediger in Berlin-Moabit („Vernunftabende“!)
- 1916: Habilitation in Halle über den Begriff des Übernatürlichen bei Schleiermacher
- 1916: Feldprediger
- 1918: Garnisionspfarrer in Berlin Spandau; Privatdozent in Berlin
- 1923: Extraordinarius für systematische Theologie in Marburg.
Tillich ist in dieser Zeit von den Veränderungen bewegt, die der Zusammenbruch der Kultur- und Gesellschaftsordnung nach dem 1. Weltkrieg mit sich brachte. Nur in der denkenden Teilnahme an den geistigen, gesellschaftlichen, kulturellen, ästhetischen Bewegungen der Zeit erschließt sich nach seiner Einsicht die Wahrheit Gottes für diese Zeit. Sie muss als das Gesetz (= Theonomie) aufgewiesen werden, unter dem alle Wirklichkeit immer schon steht. Ohne die philosophische Interpretation der ganzen Wirklichkeit auf den „ewigen Grund“, das „Unanschauliche“ oder „Unbedingte“ zu kann nicht verstanden werden, inwiefern Jesus Christus, von dem die christliche Kirche redet, eine Gottesoffenbarung ist. Im „Kairos“ (= im Augenblick) ist vielmehr der „ewige Sinn aller Zeit“ immer „neu zu schöpfen“ (Antwort an Karl Barth, 189).
Tillich engagierte sich für den religiösen Sozialismus, den er als Ausdruck des Protestes gegen die falsche Absolutheit des Kapitalismus deutete. Er findet im Expressionismus die Kunstform, die im Zerbrechen der alten absoluten Formen die Wirklichkeit auf das Neue der Zukunft hin öffnet. Er fragt nach religiösen Substanz in der Kultur, welche die Kultur vor der Barbarei innerweltlicher Ideologen schützt.
- 1926: Professur für Religionsphilosophie an der Technischen Hochschule in Dresden
- 1929: Ordinarius für Philosophie und Soziologie in Frankfurt am Main.
- 1933: Entlassung
- 1933: Vorlesungen am Union Theological Seminary in New York; nach sieben Jahren ordentlicher Professor.
- Von 1951 an: Veröffentlichung der „Systematischen Theologie“
- 1955 Pensionierung am Union Theological Seminary; „University Professor“ an der Havard-University.
- 1962: Versetzung in den in den Ruhestand; Stiftungsprofessur in Chicago
- Gestorben am 22. Oktober 1965
2. Das System der Theologie
2.1. Die Methode der Korrelation
Schon in der Auseinandersetzung mit der „dialektischen Theologie“ der zwanziger Jahre vertrat Tillich die Anschauung, dass die vorgängige Beziehung der Theologie auf das geschichtliche Faktum Jesus Christus überwunden werden müsse. Sie führe zu einer „Theologie des positiven Absurden“ (Kritisches und positives Paradox, 173). Sie befördere eine neue „absolute Religion“ und einen „undialektischen Suprarationalismus“, der zur Welt überhaupt nur noch Nein sagen kann (192). Demgegenüber soll alle geschichtliche Wirklichkeit in ihrer Widersprüchlichkeit als „unanschauliche Offenbarungsgeschichte“ gesehen werden, „die durch die Geschichte verborgen hindurchgeht und in Christus ihren vollkommenen Ausdruck gefunden hat“ (174). Nicht „intellektuelle Askese“ im Blick auf die Welt, sondern die Wahrnehmung des „Tiefen-Sinns“ von Kultur und Religion überwindet die absurde Isolierung der Offenbarung Gottes in der Welt.
In seiner „Systematischen Theologie“ hat Tillich die Methode der Korrelation entwickelt, die den Zusammenhang und den Unterschied zwischen den Manifestationen des Unbedingten im allgemeinen und der Offenbarung in Jesus als dem Christus zur Geltung bringen und wahren soll. Er versteht hier die existenzielle Verfassung von Menschen grundlegend als Frage, auf welche die Offenbarung die Antwort ist:
„Nur wer die Erschütterung der Vergänglichkeit erfahren hat, die Angst, in der er seiner Endlichkeit gewahr wurde, die Drohung des Nichtseins, kann verstehen, was der Gottesgedanke meint […] Die Offenbarung beantwortet Fragen, die je und je gestellt worden sind und immer wieder gestellt werden, da wir selbst diese Fragen sind“ (Syst. Theologie I, 76).
„Korrelation“ bedeutet: Die christliche Botschaft antwortet auf Fragen, die in der Existenz von Menschen beschlossen sind. Sie formuliert die Fragen aber unter dem Eindruck der Offenbarung und stellt die Offenbarung mit der Begrifflichkeit der Fragen dar:
„Inhaltlich hängen die christlichen Antworten von dem Offenbarungsgeschehen ab, in dem sie sichtbar werden, formal hängen sie von der Struktur der Fragen ab, auf die sie Antworten sein sollen. Gott ist die Antwort auf die in der menschlichen Existenz liegenden Fragen. Diese Antwort kann nicht aus der Existenzanalyse hergeleitet werden. Wenn der Begriff Gott […] in Korrelation mit der in der Existenz liegenden Bedrohung durch das Nicht-Sein erscheint, dann muß Gott die unendliche Macht des Seins genannt werden, die der Bedrohung durch das Nichts widersteht“ (78f.). Er ist das „Sein-selbst“.
Daraus ergibt sich folgende Systematik:
Band 1 Die Frage der Vernunft |
Die Antwort der Offenbarung |
Die Frage nach dem Sein | Die Antwort: Gott |
Band 2 Die Frage der entfremdeten Existenz |
Die Antwort des Neuen Seins Jesus Christus |
Band 3 Die Frage des zweideutigen Lebens |
Die Antwort des Geistes |
Die Frage der Geschichte | Die Antwort des Reiches Gottes |
2.2. Die Offenbarung
Die Offenbarung antwortet auf die Konflikte, in welche die Vernunft mit sich selbst gerät. Das Wesen der Vernunft ist es, nach ihrer eigenen „Tiefe“ zu fragen, d.h. nach dem, was sie selbst gründet, aber auch ihr „Abgrund ist“ (vgl. 96-98). Dabei gerät sie in drei Konflikte:
a) Der Konflikt zwischen Autonomie und Heteronomie:
„Die Vernunft, die ihre Struktur bejaht und aktualisiert, ohne auf ihre Tiefe zu achten, ist die autonome Vernunft“. Sie gehorcht nur den Gesetzen der Vernunft und ist als technische Vernunft in der Neuzeit in der Gefahr, „flach und leer, ohne letzte Sinnerfüllung “ zu sein. – Die heteronome Vernunft „stellt ‚von außen‘ Forderungen auf, wie die Vernunft die Wirklichkeit ergreifen und gestalten soll.“ Sie erhebt den „Anspruch im Namen des Seinsgrundes und daher unbedingt und endgültig zu sprechen“ (102)
In der „Theonomie“ sind beide geeint, aber unter den Bedingungen der Existenz zerbrechen sie und drohen im Kampf gegeneinander die Vernunft zu zerstören. Das setzt das Verlangen nach ihrer Wiedervereinigung frei, das Tillich als Verlangen nach Offenbarung interpretiert, weil in Jesus als Christus Autonomie und Heteronomie geeint sind.
b) Der Konflikt zwischen Relativismus und Absolutismus:
Die Vernunft hat ein statisches und ein dynamisches Element: „Das statische Element der Vernunft kommt in zwei Formen des Absolutismus zum Ausdruck. Dem Absolutismus der Tradition und dem Absolutismus der Revolution. Das dynamische Element der Vernunft kommt in zwei Formen des Relativismus zum Ausdruck: dem positivistischen Relativismus und zynischen Relativismus“, welcher die Vernunft überhaupt in Frage stellt. (105). Den Konflikt zwischen absolut und konkret kann nur die Offenbarung des Absoluten in einem Relativen (Jesus) überwinden.
c) Der Konflikt zwischen Formalismus und Emotionalismus
„Das formale Element herrscht in der kognitiven und ordnenden Funktion der Vernunft und das emotionale Element in ihrer ästhetischen und gemeinschaftsbildenden Funktion“ (108). Unter den Bedingungen der Existenz brechen beide Elemente im Bereich der Gesellschaft, der Politik, der Kultur und Kunst auseinander. Das „beherrschende Erkennen“ kommt in Konflikt mit der „ergreifenden Erkennen“. Die Frage nach der „Wiedervereinigung von Form und Emotion […] ist die Frage der Offenbarung“ (113).
Die Offenbarung ist „die Manifestation dessen, was uns unbedingt angeht“ (134). Es handelt um ein echtes Mysterium, das da erscheint, „wo die Vernunft über sich hinaus zu ihrem 'Grund und Abgrund' vorstößt“ (133). Das geschieht in der Ekstase der Vernunft (135), welche die Subjekt-Objekt-Struktur transzendiert.
Veranlasst wird sie dazu von den Medien der Offenbarung. Das sind „zeichengebende Ereignisse“, die „Grund und Abgrund“ manifestieren und die Vernunft veranlassen, sich ekstatisch mit dem Seinsgeheimnis zu vereinen.
Die objektive Seite (Mysterium) und die subjektive Seite (Ekstase) gehören zusammen. Die Offenbarung des Mysteriums braucht Menschen, die sie empfangen. Dabei ist zwischen originaler und der abhängiger Offenbarung zu unterscheiden. Die originale Offenbarung stellt geschichtlich zum ersten Mal die Relation zwischen dem Medium und dem Empfänger der Offenbarung dar. Die abhängige Offenbarung bedeutet, dass Gruppen neu in die Offenbarungsrelation eintreten:
Z.B: „Während Petrus dem Menschen Jesus, den er den Christus nannte, in originaler Offenbarungsekstase begegnete, trafen die nachfolgenden Generationen auf den Jesus, der schon von Petrus und den Aposteln aufgenommen war. So ereignet sich (in Abhängigkeit) in der Kirchengeschichte immer neue Offenbarung“ (152).
Daraus folgt: Ohne als Christus aufgenommen zu werden, wäre Jesus gar nicht der Christus. „Christus ist nicht der Christus ohne die Kirche“ (163). Darum kann es in der Kirchengeschichte durchaus neue Offenbarungsekstasen geben, die aber in ihrem Kern genauso letztgültig sind, wie die originale Offenbarung.
Die letztgültige Offenbarung gehört in eine Offenbarungsgeschichte in der Religionsgeschichte hinein, die sie vorbereitet und zu ihrem Verständnis hinzu gehört. Die vorbereitenden Offenbarungen können nicht als letztgültig angesehen werden, weil sie mit Entstellungen und Verzerrungen der Manifestation des Mysteriums verbunden sind. Das heißt, die Träger oder die Medien der Offenbarungen verhindern die Überwindung der Konflikte der Vernunft, indem sie das Mysterium im Kultus, in den Sakramenten, aber auch in Personen fixieren und so verendlichen. Die letztgültige Offenbarung ist dagegen konkret und universal in einem.
Konkret ist sie darin, dass das Medium der Offenbarung der Mensch Jesus von Nazareth ist. Universal ist sie darin, dass die Endlichkeit Jesu uns nicht wieder in die Zweideutigkeiten der Endlichkeit führt. Denn – das ist die entscheidende Behauptung Tillichs! – Jesus erfüllt die Bedingungen einer letztgültigen Offenbarung, indem er seine Endlichkeit aufopfert!
Der Anspruch einer endlichen Größe, letztgültig zu sein, ist an sich dämonisch (vgl. 161). Jesus aber besiegte die dämonischen Mächte, indem er „sich selbst“ in seinem Leben und am Kreuz als Medium der Offenbarung opferte. Er wollte nichts für sich sein. Als solchen nahm ihn Petrus das erste Mal auf, indem er ihm das Symbol „Christus“ zusprach. Dieses Symbol weist auf die Universalität der Offenbarung. Sie bringt die, die sie aufnehmen, in die Einheit mit dem Grunde des Seins.
Für die, welche die Offenbarung aufnehmen, bedeutet das die Überwindung der Konflikte der Vernunft. Die Aufopferung des Mediums der Offenbarung bewahrt die Vernunft davor, sich als autonom zu setzen. Die Transparenz des Seinsgrundes bewahrt sie davor, heteronom zu werden. In der Theonomie bekommen Autonomie und Heteronomie ihr relatives Recht ohne in einen Konflikt zu geraten.
Ähnlich stellt sich das im Konflikt von Absolutismus und Relativismus, von Formalismus und Emotionalismus dar. Die Offenbarung erlöst in diesem Sinne die Vernunft. „Wenn man verstanden hat, dass die Vernunft die Offenbarung aufnimmt und dass sie ein Gegenstand der Erlösung ist wie jedes andere Element der Wirklichkeit, mag eine Theologie, die sich der theonomen Vernunft bedient, wieder möglich sein“ (184).
2.3. Gott über Gott
Gott ist die Antwort auf die Seinsfrage. Sie lautet: „Warum ist etwas, warum ist nicht nichts“ (Schelling!)?(193) Diese Frage wird angesichts der Bedrohung von Menschen durch das Nichts gestellt. Sie fragt nach dem, was standhält. Tillich will zeigen, dass Gott als das „Sein Selbst“ (Grund und Macht des Seins) verstanden werden muss, welches das Nicht-Sein besiegt. Dazu muss die Seinsfrage mit einer Ontologie begrifflich ausgearbeitet werden.
Erstens: Die ontologische Grundstruktur der Welt besteht in der Dualität von Selbst und Welt sowie von Subjekt und Objekt. Das Selbst erfährt diese Dualität als Konflikt und fragt: „Was geht der Dualität von Selbst und Welt, von Subjekt und Objekt voraus?“ Bei dieser Frage blickt Vernunft in ihren „eigenen Abgrund“ (205).
Zweitens: Das Welt-Selbst-Verhältnis ist konkret im Widerstreit der ontologischen Elemente, die die konkrete Wirklichkeit ausmachen. Tillich versteht darunter die Gegensätzlichkeit von Individualisation und Partizipation, von Dynamik und Form, von Freiheit und Schicksal (vgl. 206ff.). Die Frage der Vernunft ist d die Frage nach der Einheit dieser Elemente.
Drittens: Alle Seinserfahrung ist durch den Unterschied von essentiellem und existentiellem Sein geprägt (vgl. 236ff.). Existentielles Sein verwirklicht die Möglichkeiten des Wesens immer auf verzerrte Weise. Angesichts der Angst, die sich im existentiellen Gewahrwerden der Endlichkeit einstellt, stellt sich die Frage, was den Mut zum Sein begründet.
Viertens: Alles ontologische Urteilen vollzieht sich in Kategorien als Grundformen des Denkens. Das sind nach Tillich: Raum, Zeit, Kausalität und Substanz (vgl. 225ff.). Diese Kategorien werfen die Frage nach dem Grunde dessen auf, was der Zeit Bestand und dem Raum Dauer gibt. Darum gilt: „Die Frage nach Gott muß gestellt werden, weil die Drohung des Nichtseins, die der Mensch als Angst erfährt, ihn zu der Frage nach dem Sein treibt, das das Nichtsein besiegt, und nach dem Mut, der die Angst besiegt“ (243).
Die Antwort der Theologie auf die Seinsfrage lautet: Gott ist die Macht, die das Nichtsein und die Angst besiegt. Doch unsere Begriffe von „Gott“ können nur symbolisch sein, da wir sie der Erfahrung der Welt entnehmen. „Person“ ist ein solches Symbol, das bei der Beantwortung der Frage nach Sein und Mut durch den „überpersönlichen“ Seinsgrund relativiert wird (Syst. Th. II, 18). Gott ist Gott über dem Gott des Theismus. Er ist das Sein-Selbst und die „Macht des Seins, die auch noch in denen wirkt, die keinen Namen für sie haben, nicht einmal den Namen Gott“ (ebd.).
Das Sein-Selbst als die einzige Definition für Gott.
2.4. Jesus als Christus
Im Existieren entfremden sich Menschen von ihrem Wesen, das im Sein-Selbst wurzelt. Sie sind nicht in der Wahrheit des Wesens. Sie verwandeln ihre Freiheit in Willkür und ihr Schicksal in ein Fatum. Ihr Begehren zu sein findet kein Ziel. Sie müssen sich und die Welt formen. Aber die Form erstarrt zum fremden Gesetz. Statt Individuen zu sein, verfallen sie der Objektivation. Statt mit anderen zu partizipieren, geraten sie unter die Macht der Dinge. In dem aller ergreift sie die Angst.
Diese Angst ist unausweichlich. Denn existieren heißt per se: in der Entfremdung vom Wesen und damit vom Grunde des Seins zu existieren. Menschen und alles, was existiert, haben ihr wahres Wesen nur in der Potentialität. Theologisch gesprochen bedeutet das: Beim Übergang von der Essenz zur Existenz fallen Menschen in die Sünde, fällt die ganze Schöpfung. Denn Schöpfung und Fall sind identisch.
Tillich interpretiert den Übergang von der Essenz zur Existenz als Sprung (Syst.Theol. II, 52). Im Anschluss an S. Kierkegaards Auslegung von Gen. 3 wird ein Bewusstseinszustand „träumender Unschuld“ angenommen, in welchem die Essenz nicht entfremdet ist (42). Die „Erregung“ der Freiheit angesichts ihrer Möglichkeiten aber verursacht Angst. Mit ihr „springen“ Menschen in die schuldhafte Verwirklichung ihrer Essenz. Sie hat Verzweiflung zur Folge, d.h. das Gefühl, „dass man für den Verlust des Sinnes der eigenen Existenz selbst verantwortlich ist und doch unfähig, ihn wieder zu gewinnen“ (84). Aus dieser Verzweiflung erwächst die Frage nach dem Neuen Sein, in dem die Entfremdung überwunden ist.
Die christliche Antwort auf diese Frage nach dem neuen Sein ist Jesus als Christus. Er ist das „Neue Sein“, in welchem „in einem personhaften Leben das Bild wesenhaften Menschseins unter den Bedingungen der Existenz erschienen ist, ohne von ihnen überwältigt zu werden“ (104). Er ist die letztgültige Manifestation des Neuen Seins, „das Ende der Existenz, deren Kennzeichen Entfremdung, Konflikt und Selbstzerstörung sind.“ Fortan kann die Geschichte nichts hervorbringen, was nicht im Neuen Sein in Jesus als dem Christus schon enthalten wäre (130f.).
In Jesus als dem Christus ereignete sich demnach grundlegend, was auch unsere Erlösung sein soll: Die Vereinigung mit der Essenz. Von ihm geht eine erlösende Macht aus, die in aller Geschichte schon angelegt ist. Denn in ihm kommt zu „vollkommener Darstellung, was an erlösender Kraft in der Geschichte der Menschheit vorhanden ist“ (181). Diese Erlösung setzt sich aber nicht vollkommen durch. Niemand ist völlig erlöst, da er den entfremdenden Mächten noch ausgesetzt ist. Es gibt also in der Aufnahme des Neuen Seins darum ein Mehr oder Minder der Erlösung, weshalb das Christentum zu eschatologischen Symbolen der Zukunft genötigt ist.
Im 3. Band der „Systematischen Theologie“ hat Tillich die Realisierung der Erlösung als einen universalen Prozess des Geistes dargestellt, der die Menschheit durch die Überwindung der Verzerrungen der Macht des Neuen Seins zum Existieren eines nicht entfremdeten essentiellen Seins vorantreibt. Die Christologie und Soteriologie Tillichs werden darum immer mehr zu einer Geschichtsphilosophie, die unter Voraussetzung der Macht des Neuen Seins mit einem Fortschritt von Kultur und Wissenschaft auf ein essentielles Wesen der Endlichkeit hin rechnet (vgl. Syst. Theol. III, 373ff: „Die Dynamik der Geschichte“)
3. Recht und Grenze von Tillichs philosophischer Theologie
Tillichs Theologie ist zweifellos eine Apologie des christlichen Glaubens, die es Menschen des 20. Jahrhunderts ermöglichen soll, aus den Symbolen des christlichen Glaubens Kraft für die Bewältigung der Grundprobleme ihres Lebens zu schöpfen. Sie will zeigen, dass es Menschen, sofern sie ihre Vernunft gebrauchen, schon immer mit Gott zu tun haben. Sie will den Vorwurf der Vernunftwidrigkeit des christlichen Glaubens überwinden. Sie legt dar, dass die Vernunft in ihrer „Ekstase“ selbst die Wahrheit des Glaubens an Gott und Jesus bestätigt.
Dabei werden die Möglichkeiten von Menschen, sich zu Gott in Beziehung zu setzen, nicht idealisiert. Alles, was „Religion“ in Bezug auf Gott vermag, ist immer mit einer Verzerrung des „Mysteriums“ des „Seins-Selbst“ (Symbol: „Gott“) verbunden. Tillichs philosophische Theologie ist – das wurde oft übersehen – grundlegend religionskritisch. Gerade so will sie Anliegen der Religion zu Geltung bringen, das über diese Verzerrung hinausliegt: Die Ergriffenheit von der Macht des „Seins-Selbst“, die sich im „Neuen Sein“ (Jesus als Christus) „manifestiert“ hat.
Um dieses Anliegen zu befördern, erarbeitete Tillich sich eine Philosophie, die aus Elementen des Deutschen Idealismus (Schelling) und des Existentialismus (Kierkegaard) zusammengesetzt ist. Idealistisch ist die Annahme, dass das Sein, an dem alles Irdische partizipiert, eine sich in der Geschichte manifestierende Macht des Geistes ist. Existentialistisch ist die Einsicht, dass die Freiheit Menschen notwendig in die Angst des Existierens stürzt, aus der sie sich selbst nicht befreien können. Der fehlende „Mut zum Sein“ stellt darum das Defizit der Existenz dar, das durch eine Manifestation des Seins-Selbst überwunden werden muss.
Das theologische Problem dieser Einbettung von Gewissheiten des christlichen Gottesglaubens in Tillichs Ontologie ist, dass „Gott“ als „Sein-Selbst“ mit der „Substanz“ des Seins der Welt identifiziert wird. Sie muss darum als unpersonale „Macht“ einer letztlich namenlosen „Tiefe des Seins“ verstanden werden. Wie Menschen zu ihr Vertrauen fassen können, wenn sie – der Manifestation des Neuen Seins entsprechend – ihre „Existenz“ letztlich aufgeben müssen, hat Tillich nicht gut erklären können.
Die Christologie Tillichs ist auch sonst problematisch. Denn nach dem Verständnis der Existenz als Entfremdung kann es ein neues, nicht entfremdetes Sein, das existiert, eigentlich gar nicht geben. Existiert Jesus doch, dann muss er seine Existenz negieren. Tillich belegt das zwar mit dem Kreuz Jesu Christi (die Auferstehung Jesu Christi spielt für ihn keine wesentliche Rolle!). Es handelt sich aber beim „Aufgeben“ der Existenz Jesu mehr um eine ontologische Notwendigkeit, als um ein Widerfahrnis. Das führt zu einem Jesusbild, welches fast gar nicht auf die biblischen Texte angewiesen ist. Sie werden höchstens zur Illustration der Theorie vom „Neuen Sein“ heran gezogen.
Tillichs philosophisch reflektierte Theologie gehört trotzdem zu den großen theologischen Entwürfen des 20. Jahrhunderts, obwohl sein System nicht eigentlich Schule gemacht hat. Dazu ist die Entfernung vieler seiner theologischen Grundaussagen von einer biblisch verantworteten Gotteslehre, Schöpfungslehre, Christologie, Soteriologie und Eschatologie zu offenkundig. Vergleichbares gilt für seine philosophische Leistung, die in ihrer Bindung an den Deutschen Idealismus und den Existentialismus nicht zum Muster des Denkens in der Philosophie geworden ist.
Auf der anderen Seite ist Tillichs Programm aber längst nicht abgegolten. Im Lichte der Offenbarung Gottes, in dem Tillich auf seine Weise zu denken versuchte, gibt es keine Probleme der Ontologie und der Existenz, die es nicht mit Gott zu tun haben. Die Methode der Korrelation ist ein gutes theologisches Verfahren, die offenen und verdeckten Fragen von Menschen nach Gott in die theologische Verantwortung aufzunehmen.
In der Breite und Intensität der Wahrnahme der Wirklichkeit, wie sie Menschen heute erfahren, ist Paul Tillich nach wie vor ein anregender theologisch-philosophischer Denker. Er prägt ein, dass sich die Theologie in ihrer Verantwortung des Glaubens an Gott nicht in einen Sonderbereich zurückziehen kann, in der das universale Anliegen dieses Glaubens verkümmert. Gerade in einer Zeit, in welcher der Glaube an Gott von vielen Seiten in Frage gestellt wird, ist es nötig, ihn im Horizont der „Manifestation“ Gottes in der Geschichte eines Menschen als etwas, das alle „unbedingt angeht“, zur Geltung zu bringen.
Literatur:
Tillich, Paul, Die sozialistische Entscheidung, Potsdam 1933
Ders., Gesammelte Werke, Band 1 - 13, Stuttgart 21959ff.
Ders., Vorlesungen über die Geschichte des christlichen Denkens, Band 1 - 3, Stuttgart 1971
Ders., Systematische Theologie, Band 1 - 3, Stuttgart 31956ff.
Ders., Der Mut zum Sein, Stuttgart 1953 (Berlin 1991)
Ders:Religiöse Reden, in drei Folgen: In der Tiefe ist Wahrheit. Das Neue Sein, Das Ewige im Jetzt, Stuttgart 1952–1964 (Berlin 1987)
Ders., Kritisches und positives Paradox. Eine Auseinandersetzung mit Karl Barth und Friedrich Gogarten, in: Moltmann, Jürgen (Hg), Anfänge der dialektischen Theologie Teil 1, TB 17, München 1962, 165-174
Barth, Karl, Von der Paradoxie des „positiven Paradoxes“, in: Anfänge Teil 1, 174-189
Tillich, Paul, Antwort an Karl Barth, in: Anfänge Teil 1,189-193
Gogarten, Friedrich, Zur Geisteslage des Theologen. Noch eine Antwort an Paul Tillich, in: Anfänge Teil 1, 193-197
Ratschow, Cal-Heinz, Paul Tillich, in: Martin Greschat (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte. Die neueste Zeit IV, Stuttgart 1986, 123-149
Albrecht, Renate/Schüßler, Werner (Hrsg.): Paul Tillich. Sein Leben, Frankfurt 1993