Theologiegeschichte des 20. Jh.
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24.03.2015 08:52 Alter: 9 yrs
Kategorie: Theologiegeschichte des 20. Jh.

§ 4 Der Kulturprotestantismus: Ernst Troeltsch (1865-1923)


Obwohl man die liberale Theologie „Kulturprotestantismus“ genannt hat, kommt dieser Name spezifisch der religionsgeschichtlichen Schule zu, deren bedeutendster systematischer Vertreter Ernst Troeltsch war.  Denn er nimmt das Christentum programmatisch von der Kultur her in den Blick und fragt funktional nach seiner Leistungsfähigkeit für diese Kultur.

Troeltsch war theologisierender Soziologe, Historiker und Philosoph, den die Krise wie der Chance der christlichen Religion in der modernen pluralistischen Gesellschaft umgetrieben haben. Die Krise wird durch das historische Verständnis der Religion ausgelöst. Der Geist der Historismus macht die Relativität des Christentums gegenüber anderen Religionen und auch gegenüber anderen Weltanschauungen offenbar. 

Zugleich kann die moderne europäische Kultur aber ihre christlichen Wurzeln nicht verleugnen. Sie sind selbst noch da wirksam, wo sich ursprünglich christliche Wertvorstellungen in säkulare Werte gewandelt haben. Sie können in einem undogmatischen Christentum so belebt werden, dass sie eine humane, freiheitliche, demokratische Gesellschaft zu fördern vermögen. Troeltsch gilt darum ausweislich der Verlautbarungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft heute als der Modernste unter den liberalen Theologen.

 

1. Zum Werdegang Ernst Troeltschs

Troeltsch wurde am 17.2.1865 in Augsburg geboren. Er studierte von 1885 an in Erlangen und geriet dort  unter den Einfluss der Ritschl-Schule. Von daher galt der Frage nach der Verwurzelung des religiösen Lebens im allgemeinen Leben sein besonderes Interesse. Nicht der subjektive Akt des Glaubens (wie bei Herrmann), sondern der Erweis der objektiven Gültigkeit des Religiösen überhaupt schien ihm die Basis für die Tragfähigkeit des Christentums überhaupt zu sein.

1890 wurde Troeltsch Privatdozent in Göttingen. Dort widmete er sich vor allem historischen Studien, die um das Problem der Entstehung der Neuzeit kreisen. In seinem ersten Werk über „Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhardt und Philipp Melanchthon“ (Göttingen 1891) kam er zu dem Ergebnis, dass die Reformation noch ganz dem Mittelalter verhaftet sei. Die „moderne geistige Gesamtlage“ werde erst mit der Aufklärung geschaffen. 

1894 wurde Troeltsch Professor für systematische Theologie in Heidelberg. Dort „wurde mir zum Grundgedanken“, schreibt er, „dass die Religion als ein Bewußtseinserlebnis zunächst psychologisch unter Offenlassung der verschiedenen konkreten Gestaltungen studiert und in ihre verschiedenen Komponenten und Äußerungen zerlegt werden müsse, dass erst dann die Frage nach dem Wahrheitsgehalt und dem Wertverhältnis der verschiedenen konkreten geschichtlichen Religionen einsetzen könne“ (Meine Bücher. Gesammelte Schriften 4, 8).

Von diesem Konzept her kritisierte er Harnack, der sein Allgemeinurteil über die Geltung des Religiösen (die „Lebenserfahrung“) im Blick auf seine Berechtigung nicht hinreichend reflektiert habe (Gesammelte Schriften 2, 386ff.). Wenn man nach dem Wesen des Christentums fragt, dann muss man die Voraussetzungen, die man mit der Vorstellung von einem „Wesen“ mitbringt, klären. Das geht nur im Vergleich einer religiösen Erscheinung wie der des Christentums mit allen anderen geschichtlichen, religiösen, psychologischen und soziologischen Erscheinungen.

In seiner Arbeit über die „Absolutheit des Christentum und die Religionsgeschichte“ von 1902 bestritt Troeltsch die „Absolutheit“ des Christentums gegenüber anderen Religionen. Erst in der geschichtlichen Relativität auch des Christentums kann nach einem sachlich Absoluten gefragt werden, das durch alle Religionen geht. Geschichtliche Relativität – sachliche Absolutheit: Diese Alternative bezeichnet Troeltsch als den „Keim alles Weiteren“ (9)..

Seine Frage war: Was ist an der Entstehung, Gestaltung und Entwicklung des Christentums soziologisch bedingt und was erweist sich darin als eigenständige religiöse Kraft? Die „marxistische Unterbau-Überbau-Lehre“ ergriff ihn dabei „mit Gewalt“ (11). Ergebnis dieses Bemühens ist das große Buch über die „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ (1912), das Troeltsch als „eine volle Parallele zu Harnacks Dogmengeschichte“ bezeichnet hat, in der „alles Religiöse, Dogmatische und Theologische nur als Hintergrund der sozial-ethischen Wirkungen oder als Spiegel und Rückwirkung der soziologischen Umgebungen“ angesehen wird . 

Die ganze „christliche Vorstellungswelt“ und das Dogma sind demnach abhängig „von den soziologischen Grundbedingungen und von der jeweiligen Gemeinschaftsidee“ (976f.). Drei Gemeinschaftsideen kommen in Frage:

a) die Kirche, die als „die mit dem Ergebnis des Erlösungswerkes ausgestattete Heils- und Gnadenanstalt, die Massen aufnehmen und der Welt sich anpassen kann“, definiert wird.

b) die Sekte „als die freie Vereinigung strenger und bewußter Christen, die als wahrhaft Wiedergeborene zusammenleben, von der Welt sich scheiden und auf kleine Kreise beschränkt bleiben“ und

c) die Mystik als die „Verinnerlichung des Kultes zu einem Gemütsbesitz, wobei nur fließende und ganz bedingte Gruppenbildungen sich sammeln können“.

Alle drei Gemeinschaftsformen hat es im Christentum immer gegeben. Troeltschs These ist aber, dass sich der Glaube an Christus als Erlöser nur in der Gemeinschaftsform der Kirche ausbilden konnte. Denn ihr Zentrum ist die „Zusammenscharung um den Christuskult“ als Erlösungskult. Nur in ihr wurde das Dogma von der Gottheit Christi notwendig. Der Typ der Sekte war dagegen immer mehr an der eschatologischen Verkündigung Jesu orientiert und kam in der Kirche nur vereinzelt vor. Die Mystik schließlich ist an der Gegenwart des göttlichen Geistes orientiert und lässt nur ganz kleine Gruppierungen zu. 

Troeltsch hat auch selbst empfunden, dass er mit diesen Aufstellungen „ein bißchen über die Theologische Fakultät hinausgewachsen“ war. Er vermochte an Christus als der allein geltenden Offenbarung nicht mehr festzuhalten. In den Gemeinschaftsformen des Christentums ist Christus für ihn eine Offenbarung neben anderen. 

Troeltsch hat unter dieser Voraussetzung die Überzeugung vom hohen Wert des Christentums aber nie aufgegeben. Dogmatik im traditionellen Sinn der Orientierung an Schrift und Tradition kam für ihn als theologische Aufgabe freilich nicht mehr in Frage. Er sagt: „Alle Dogmatik sah ich als etwas Praktisches an, bei dem die Unklarheit und Unsicherheit menschlicher Erkenntnis ihre besonders große Rolle spielen, wo aber doch der praktische Hauptwert sich dem Herzen als brennende und treibende Kraft mitteilen ließ“ (12). 

Im Jahre 1914 wurde Troeltsch an die philosophische Fakultät in Berlin berufen mit Lehraufträgen für Kulturphilosophie, Geschichtsphilosophie, Religionsphilosophie und christliche Religionsgeschichte. Von 1919 -1921 war er Unterstaatssekretär im Kultusministerium und hat sich am Aufbau der Weimarer Republik beteiligt. Sein Programm war dabei die Idee eines gesamteuropäischen Friedensreiches unter rechtskräftiger Verwirklichung der Menschenrechte. Der Gedanke einer „Kultursynthese“, in der alle europäischen Traditionen zusammengeführt werden, machten ihn ohne Zweifel zu einem der ersten Europäer in Deutschland!

Er starb am 1. Februar 1923 im Alter von 58 Jahren. Das Torso seiner Forschungen aus dieser liegt im 3. Band der Gesammelten Werke unter dem Titel „Der Historismus und seine Probleme“ vor.

 

2. Glaube und Geschichte als Grundproblem der Religionsphilosophie Ernst Troeltschs

Weil die „moderne Historie“ der „Zentralherd der Bildung aller Weltanschauung“ ist, gilt nach Troeltsch auf für das Christentum: Es „ist in allen Momenten seiner Geschichte eine rein historische Erscheinung mit allen Bedingtheiten einer individuell historischen Erscheinung wie die anderen großen Religionen auch“ (Absolutheit, 48). Es kann nicht den Anspruch erheben, „die absolute Religion zu sein“ oder eine unüberbietbare Offenbarung empfangen zu haben, die alle anderen religiösen Offenbarungen in die Ecke der Sünde und Unwahrheit drängt. Jede Offenbarung in der Geschichte – sei es durch Propheten, religiöse Persönlichkeiten oder durch Inspiration – ist immer nur die teilweise Darstellung des Ganzen der Wirklichkeit, das Troeltsch mit Schleiermacher „Gott“ nennt.

Troeltsch hat darum Ritschl, Herrmann und Harnack vorgeworfen, sie benutzten die Historie bloß, um die Absolutheit der christlichen Religion darzutun. Sie tun nur so als dächten sie historisch, während sie in Wahrheit die Bedeutung Christi für den religiösen Glauben dogmatisch behaupten. Sie üben sich, in der Kunst, „den Pelz zu waschen ohne ihn naß zu machen“ (97). Doch wer historisch beginnt, muss auch mit historischen Relativitäten enden. Das heißt, er muss auch den Mut zu einer radikalen Umwandlung dessen haben, was einmal in der Geschichte als absolute Wahrheit behauptet wurde.  

Der erste Schritt zu dieser Umwandlung besteht darin, dass man alles, was im christlichen Glauben als wahr behauptet wird, mit anderen Religionen historisch, psychologisch und soziologisch vergleicht. Man gewinnt dann die für alle Religion charakteristischen Momente.   

„Offenbarung“ bedeutet dann z.B.: eine „Kundgebung Gottes im menschlichen Seelenleben“ (RGG IV, 921) bzw. „die produktive und originale Erscheinung einer religiösen Kraft oder Lebenserhöhung, die sich als ein praktisches Ganzes des Lebens und der Gesinnung darstellt“ (RGG II, 1439).  

 „Glaube“ heißt: „das die Frömmigkeit mitbestimmende Erkenntnismoment“ (RGG II, 1437). 

„Erlösung“ ist „die Emporbildung der Kreatur aus dem gegebenen, endlich-selbstsüchtigen und gegensatzreichen Natursein in die Freiheit des Geistes durch das in ihr wirkende göttliche Leben“ (RGG II, 484).   

Die Definitionen sind zu verstehen als geschichtliche Beschreibungen, zu der die anderen Religionen ebenso herangezogen werden wie das Christentum. Sie sagen nichts, was sich die Menschheit nicht auch ohne das Christentum sagt. Dennoch hat sich Troeltsch gegen „die Auflösung des Religiösen in den Fluß des psychologischen Geschiebes, aus dem es lediglich als Produkt und nicht als ein gesetzgebendes, eigene Notwendigkeiten entfaltendes Prinzip hervorginge“ (GW 3, 761) mit der transzendentalen Annahme eine „religiösen Apriori“ gewehrt. Er sagt: „Es geht nicht mit dem Psychologismus.“ Der „ist im Grunde eine widersinnige Flachheit. Es geht nicht mit dem Supranaturalismus; er ist die durchsichtige Verabsolutierung eines geschichtlichen Elements. Also muß es mit dem Kritizismus gehen“ (GW 2, 759).  

Kritizismus bedeutet in der Tradition I. Kants die Bestimmung der Grenzen und Möglichkeiten der menschlichen Vernunft. Ein „Apriori“ ist nach Kants Sprachgebrauch eine Annahme der Vernunft, die nötig ist, um eine empirische Erscheinung zu erklären, die aber selbst nicht selbst aus der Empirie abgeleitet werden kann. Ein „religiöses Apriori“ ist dementsprechend die transzendentale Annahme, dass es kein Menschsein ohne Religion gibt. Sie gehört zum geistigen Leben überhaupt.

Die Frage, ob ein solches „Apriori“ auch inhaltlich mit einem System objektiver Werte bestimmt werden kann, konnte Troeltsch nicht mehr bearbeiten. Das Problem der Annahme eines „religiösen Apriori“ aber besteht darin, dass es als transzendentale Annahme nun doch der historischen Nachfrage entzogen und dadurch unangreifbar gemacht wird. Für die, die keinen religiösen Akt kennen, bleibt dieses Apriori deshalb eine Hypothese, die von ihren empirischen Voraussetzungen her nicht einleuchtet. „Für den reinen Psychologisten und Positivisten ist meine Religionstheorie genauso krasser Aberglaube wie die päpstlichen Enzyklika“, hat Troeltsch deshalb geäußert. 

Um zu verhindern, dass jenes „Apriori“ doch wieder zu einem Absolutum wird, hat Troeltsch die Zukunftbezogenheit gerade des christlichen Glaubens betont. Was im religiösen Akt behauptet wird, ist darauf angewiesen, erst in der Zukunft verifiziert zu werden. Troeltsch hat darum so etwas wie eine „Theologie der Hoffnung“ skizziert, die jeder Religion die Spannung zwischen Absolutheit und Relativität erträglich machen soll. 

Das Absolute der Religionen ist der „Begriff eines gemeinsam vorschwebenden in der Geschichte jeweils verschieden klar angebahnten [...] Ziels“, an dem sich der prinzipielle Sinn der Geschichte offenbaren wird (Absolutheit, 66).  Die Zukunftsbezogenheit des Glaubens verhindert, dass sich die konkrete Religion mit der Annahme des „religiösen Apriori“ selbst absolut setzt, wie das der „schlichte“ (von Troeltsch „naiv“ genannte) Glaube zu tun pflegt. 

Das Ausgerichtetsein auf Zukunft befreit den religiösen Glauben dagegen „aus der Enge, Kleinheit und Unduldsamkeit, aus der Unsicherheit, Verschwommenheit und Einseitigkeit des ersten Bildes zum weiten, ruhigen Überblick, zur Größe und Milde der Gesinnung, zur Bildung und Nachsicht und zur Klarheit und Festigkeit der Überzeugung“ (Absolutheit, 19).

  

3. Der christliche Glaube

 

Im Zentrum des christlichen Glaubens steht die Orientierung an der Person Jesu, wobei der historisch erkennbare irdische Jesus gemeint ist. Diese Zentralstellung Jesu ist auch in Ordnung, weil die Berufung auf religiöse Führer und Propheten für jede Religion unentbehrlich ist. Solche Führer senden neue und reine religiöse Impulse aus, die zur Offenbarung Gottes in der Seele von Menschen werden können.

 „Das bleibt wahrlich ein Bild, das Ehrfurcht und Andacht weckt, und von dessen Lichtpunkten die belebenden Strahlen unerschöpflicher religiöser Kraft ausgehen, auch wenn alles in den Grenzen historischer Bedingtheit sich begeben hat, und wenn alle Mängel des Menschlichen hier so wenig gefehlt haben als sonstwo“ (Absolutheit, 90).  

Obwohl Troeltsch das Christentum als „Konvergenzpunkt aller erkennbaren Entwicklungsrichtungen der Religion“ bezeichnen konnte (80),  hat er den Christozentrismus der Theologie abgelehnt. Denn es sei „ schwer vorzustellen, einen einzigen Punkt der Geschichte [...] als alleiniges Zentrum der Menschheit zu denken“. Dem heutigen Menschen ist das unverständlich. 

Dementsprechend unterscheidet Troeltsch in seiner „Glaubenslehre“ zwischen „historisch-religiösen Sätzen“ und „gegenwartsreligiösen Sätzen“. Die letzteren entfalten das eigentlich christliche Prinzip. Die ersteren haben das Historisch-Vergängliche im Blick. Das christliche Prinzip aber ist die Wurzel und die treibende Kraft des ganzen Zusammenhangs des Christentums. Troeltsch hat es folgendermaßen gefasst: 

Das Christentum ist eine „Persönlichkeitsreligion“, die sich historisch und in der protestantischen Fassung als die Idee ausprägt, die „menschlichen Seelen durch die Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott erlösend und heiligend zu Gott emporzuheben und sie in Gott zu verbinden zu [...] in religiöser Liebe verbundenen Persönlichkeiten“ (Geschichtlichkeit, 71). „Die Erhebung vollzieht sich in der religiösen Erkenntnis Gottes (=Glaube) und der gesinnungsmäßigen Hingabe des Willens an Gott, der uns [...] entgegentritt in der Offenbarungsgeschichte bis auf Jesus und von Jesus bis in die Gegenwart“. Darum kann man das christliche Prinzip bezeichnen als ein „Prinzip der religiösen Wiedergeburt oder Höhergeburt zu einem Reich des gotterfüllten Geistes, dem alles bloß Naturhafte zu einem Organ und Mittel der Selbstdurchsetzung und Selbstgewinnung oder zu einer Offenbarung niederen Grades wird“ (72).    

Das ist ein „allgemeines Gesetz des menschlichen Geisteslebens“ (42), dem auch die Besonderheit Jesu zuzuordnen ist. Denn jene Erhebung der Seelen braucht geschichtliche Impulse durch Personen. Jesus kann von daher als das „Urbild“ (Schleiermacher!) des christlich-persönlichen Lebens und als „fortwirkende Verkörperung des christlichen Prinzips“ bzw. „grundlegende Offenbarungspersönlichkeit“ verstanden werden (104). 

Einer Abwendung von Jesus in „persönlichen Enthusiasmen“ wollte Troeltsch darum nicht das Wort reden. Für das Gemeinschafts- und Kultbedürfnis religiöser Gruppen sei der Rückbezug auf eine Identifikationsfigur wesentlich. Alle Geistesreligionen sammeln sich deshalb um „Propheten und Stifterpersönlichkeiten, die als Urbilder, Autoritäten, Kraftquellen, Sammelpunkte dienen und als Bilder persönlich konkreten Lebens“ der „unendlich bewegten und anpassenden Deutung fähig sind“ (28). In diesem Sinne bleibt Jesus „für Kult, Wirkungskraft und Fortpflanzung“ der christlichen Religion unentbehrlich (30). 

Dabei bleibt allerdings offen, „ob in hunderttausend Jahren die Frömmigkeit sich noch aus Jesus nähren oder ein anderes Zentrum haben wird“. „Die Leute, die ihres eigenen Glaubens nur froh werden können, wenn sie sich alle Jahrmillionen daran binden, wissen nichts von der eigentlichen Freiheit und Größe des Glaubens“, meint Troeltsch (51).  

Troeltschs Christologie bzw. Jesulogie zeigt also ein eigenartiges Doppelgesicht. Einerseits wird die besondere Bedeutung Jesu hervorgehoben. Andererseits wird sie im Hinblick auf das allgemein Religiöse relativiert. Das Gleiche gilt für das Verständnis der „Erlösung“. Das Christentum wird als „Erlösungsreligion“ verstanden, die sich „über die Natur“ erhebt. Aber dass ein Akt menschlicher Freiheit wie die Sünde die ganze Weltordnung durcheinander gebracht habe und deshalb ein Eingriff Gottes im stellvertretenden Leiden Jesu Christi nötig werde, wird bestritten.  

Troeltsch hat darum den Gedanken der Erlösung vom Schöpfungsverständnis her entwickelt. Danach hat Gott Menschen als Erlösungsbedürftige geschaffen, indem er sie in einer Welt des Leidens schuf. Das Leiden ist „die Mahnung an die Grenzen und die Unzulänglichkeit des Naturseins [...]. Es treibt uns über die Natur hinaus und läßt uns die tieferen geistigen Kräfte in uns selbst suchen“ (RGG 2, 485).  

Die Sünde verweigert sich dieser Aufgabe. In ihr sinkt der Mensch wieder auf die Stufe zur Tierheit zurück und unterstreicht damit seine Erlösungsbedürftigkeit. „Weltleid und Sünde sind“ insofern „wesentliche, im Sinn und Wesen der Schöpfung liegende Bestandteile der göttlichen Schöpfung“ (484). Sie sind gewissermaßen nötig, um die wirkliche Erlösung zu befördern, wie Troeltsch unter ausdrücklichem Bezug auf Hegel gemeint hat. 

Der Mensch ist in dieser unvollkommenen Weise Mensch, um erlöst zu werden. Alle wesentliche Religion ist darum Erlösungsreligion, die sich auf einen Prozess des göttlichen Geistes bezieht. Erlösung ist insofern „die Rückkehr des schaffenden göttlichen Willens zu sich selbst, aber bereichert durch die in der Erlösung gewordenen, aus Gott stammenden und durch ihre freie Hingabe an Gott Eigenperson gewordenen Geister. 'Gott ist die Liebe' heißt: Er ist der in ewiger Schöpfung sich Mitteilende und aus dieser Schöpfung in der Erlösung zu sich in den Reichtum endlicher Persongeister Zurückkehrende“ (ebd.).

Geschichtlich, empirisch ist dieser Gedanke nicht zu belegen. Er wird auch nicht von Jesus her entwickelt. Vielmehr wird nun auch die konkrete Erlösung, „wie sie von Jesus im Christentum ausstrahlt“, von jenem durchaus spekulativen Gedanken her verstanden. Das Besondere Jesu wird von daher in der eschatologischen Ausrichtung seiner Verkündigung gesehen, die im Verständnis von Troeltsch so etwas wie einen Prozess auf die Zukunft hin impliziert. Die Endvollendung, sagt er, ist „in der Tat die unentbehrliche Konsequenz des Erlösungsgedankens“ (487).   

Denn „wir könnten uns zu der Erlösung kein rechtes Herz fassen“, wenn sie nur auf unseren Erfahrungsbereich eingeschränkt sein sollte. Da würde der Erlösungsglaube bloß zur Phrase und Selbsttäuschung, weil eine innerirdische Erlösung eben nur eine partikulare und geschichtliche Erlösung ist. Wenn man auch mit Jesus die Naherwartung nicht teilen kann, wird man doch seiner Meinung der jenseitigen Vollendung im Reiche Gottes zustimmen.

 

4. Postkonventionelle Theologie?

Friedrich Wilhelm Graf und Hartmut Ruddies haben das schöne Wort „postkonventionell“ erfunden, um Troeltschens besondere Leistung auf dem Gebiete der Theologie zu würdigen (Religiöser Historismus, in: Profile des neuzeitlichen Protestantismus, GTB 1432, Gütersloh 1993, 226 - 335, bes. 322.). Seine „Glaubenslehre“ sei der Versuch, den christlichen Glauben einem nicht mehr kirchlich-institutionell gebundenen, individualisierten Christentum zugänglich zu machen. Die auffällige Vielgesichtigkeit seiner theologischen Versuche erscheint so gerade als der Vorzug seines Denkens. 

Doch nach Troeltsch hat das Christentum ohne die Kirche als Institution überhaupt keinen Haftpunkt in der Gesellschaft. In lauter Privatreligiosität würde es zerfließen bzw. gänzlich aufhören. Wenn alle „privat-religiös“ sind, ist am Ende niemand mehr da, der für die Kirche als institutionalisierte Gemeinschaft Verantwortung übernehmen kann. An einer eigentlich zu verwerfenden Form von Religion festzuhalten, damit eine andere sich frei entfalten kann, ist jedoch absurd. Troeltschs Texte legen eine solche Schlussfolgerung auch nicht nahe. Sie wollen nicht nur Orientierung für ein privatim zersplittertes Christentum sein, sondern auch Orientierung für die institutionalisierte Kirche. 

Wir stehen also vor dem merkwürdigen Sachverhalt, dass auf der einen Seite die Geltung religiöser Wahrheit bestritten wird, wenn es um die konkrete Religion geht. Auf der anderen Seite kommt es aber zu neuen Absolutheiten, die den Anspruch der Religion tragen sollen wie das „religiöse Apriori“ und Anleihen bei Hegels spekulativer Philosophie, die freilich noch einmal eingeklammert und unter den Vorbehalt der Eschatologie gestellt werden. Die „Glaubenslehre“ von Troeltsch kann darum nicht als eine Ermutigung der Verkündigung der Kirche, sondern vielmehr nur als deren tiefgreifende Verunsicherung gelten. 

Troeltsch selber hat dem Auftrag der Kirche zur Verkündigung auch ganz fern gestanden. Wo seine Fragestellungen heute rezipiert werden, sind es darum auch eher seine soziologischen und religionsgeschichtlichen Beobachtungen sowie seine Analysen der Verfassung der Neuzeit als die Wahrheit, für welche die christliche Verkündigung einzutreten hat. 

Es ist darum auch nicht einfach ein Zufall, dass der Protest gegen seine Theologie aus dem Pfarramt, von der Aufgabe der Verkündigung her, laut geworden ist. Dieser Protest hat in der Folgezeit manches von dem zugedeckt, was Troeltsch sagen wollte. Darum hat seine Wiederentdeckung heute ihr Recht. Wie seine besondere theologische Leistung aber auf den Theologen wirkte, der jenen Protest ausgelöst hat, müssen wir dennoch hören, wenn wir uns nun der sog. „dialektischen Theologie“ zuwenden. Karl Barth 1953 im Rückblick auf die „Glaubenslehre“ von Troeltsch sicherlich etwas sehr einseitig gesagt: 

 „Troeltsch war ein geistreicher und in seiner Weise auch frommer Mann. Beides ist ja auch von manchen seiner großen Vorgänger zu sagen. Es war aber offenkundig, dass die 'Glaubenslehre' sich bei ihm in ein uferloses und unverbindliches Gerede aufzulösen im Begriff –  dass die neuprotestantische Theologie überhaupt bei ihm bei allem hohen Selbstbewußtsein ihres Gebarens in die Klippen bzw. in den Sumpf geraten war. Weil wir da nicht mehr mittun konnten, sind wir gegen Ende des zweiten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts aus diesem Schiff ausgestiegen. Es war zum Katholisch-Werden, wie denn die Freiin Gertrud von Le Fort, der wir die postume Redaktion und Herausgabe dieses Buches verdanken, tatsächlich ziemlich unmittelbar nach Abschluß dieser Arbeit katholisch geworden ist. Oder es mußte eben die ernsthafte theologische Arbeit von ganz anders woher in Angriff genommen werden“ (KD IV/1. 427).

Literatur:

Troeltsch, Ernst, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, Tübingen und Leipzig 1902

Ders., Gesammelte Schriften, Band 1-4, Tübingen 1919ff.

1. Band: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen.

2. Band: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik

3. Band: Der Historismus und seine Probleme

4. Band: Meine Bücher

Ders., Art.: Erlösung, RGG 2II 1910, 481ff.

Ders., Art.: Glaube und Geschichte, RGG 2II, 1437ff.

Ders., Art.: Gnade, RGG 2II, 1470ff.

Ders., Art.: Offenbarung, RGG IV, 918ff.

Ders., Art.: Prädestination, RGG IV, 1706ff.

Ders., Glaubenslehre. Nach Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911/12 mit einem Vorwort von M.Troeltsch, München/Leipzig 1925

Ders., Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben, Tübingen 1911

Ders., Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft, Tübingen 21922

Köhler, Walter, Ernst Troeltsch, Tübingen 1941

Voigt, Friedemann (Hg.)  Ernst Troeltsch Lesebuch: Ausgewählte Texte, UTB- Taschenbuch, Tübingen 2003

 

Troeltsch-Studien, hrsg. von Horst Renz und Friedrich Wilhelm Graf, Band 1-15, Gütersloh 1982ff. 


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