Kategorie: Theologiegeschichte des 20. Jh.
Vorlesung im Wintersemester 2014/15 an Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität
Internetzusammenfassung für die Studierenden im "HU-Moodle"
Drei Vormerkungen: Die Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts und die Herausforderungen für Kirche und Theologie in der Gegenwart
1. Die Vergangenheit als Möglichkeit der Zukunft
Geschichte wird durch die Ereignisse konstituiert, die in ihr stattfanden, und nicht durch den bloßen Zeitablauf. Geschichte lässt uns darum die Zeit als Kairos verstehen, d.h. als auf bestimmte Ereignisse konzentrierte Zeit.
Es ist der Sinn der Beschäftigung mit unserer geschichtlichen Vergangenheit, dass sie uns nicht nur Vergangenes nahe bringt, sondern uns Möglichkeiten entdecken lässt, die immer noch Zukunft haben.
Ein waches Leben mit der Vergangenheit übt das Verstehen auf die Zukunft ein und befördert damit unsere menschenmögliche Verantwortlichkeit für die Zukunft.
Für den christlichen Glauben und damit für die Verkündigung der Kirche ist die in Israel wurzelnde Vergangenheit Jesu Christi Grund und Sinn aller Zukunft, nämlich der Zukunft der von Gott bejahten Menschheit.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Theologiegeschichte als Geschichte des Erschließens dieser Zukunft, fragt nach den Möglichkeiten, die in dieser Geschichte noch auf Verwirklichung warten. Sie ist gehört unabdingbar zu Verantwortung des Auftrages der Kirche angesichts seiner Herausforderungen durch unsere Zeit.
Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts ist in diesem Sinne eine Entdeckungsreise zu dem, was für die Kirche und die Theologie heute nötig ist, um dem Kairos des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden.
2. Die Aufgaben der Gegenwart und die Theologiegeschichte
Die Kirche des 21. Jahrhunderts steht in Europa und Deutschland vor zwei Herausforderungen, die ihren Anspruch auf Wahrheit (d.h. auf das, worauf Menschen sich schlechthin verlassen können), aber auch ihre ererbte Struktur einer Flächenkirche in Frage stellen.
Die eine Herausforderung ist die Säkularisierung, Entkirchlichung und Gottesvergessenheit. Sie hat zu einer tiefgreifenden Entfremdung großer Teile der Bevölkerung unseres Landes vom Gottesglauben geführt; im Osten Deutschlands ist regelrecht ein atheistisch grundiertes gottesvergessenes Milieu entstanden.
Die andere Herausforderung ist die Pluralisierung, Individualisierung und Privatisierung von Religion, die für die sogenannte „Wiederkehr der Religion“ in der westlichen Welt charakteristisch ist. Ulrich Beck nennt das Phänomen „Bastelreligiosität“.
Beide Herausforderungen setzen – wie sich am „Mitgliederschwund“ zeigt – dem Wahrheitsanspruch der Kirche nachhaltig zu.
Theologiegeschichtliches Problembewusstsein hilft der Kirche in dieser Situation – ohne in den Traditionalismus zu verfallen – dazu, einen klaren Kopf zu bewahren.
Karl Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 21962, 55f.:
„Die Theologie“ von heute „ist unterdessen hoffentlich etwas weiter gekommen“, als es gestriger Erkenntnis entsprach, „und was sie heute zu erkennen meint, denkt und redet, wird mit dem, was die Väter (gerade ihre unmittelbaren Väter) dachten und sagten, nur selten ohne weiteres übereinstimmen, viel wahrscheinlicher lebhaft davon differieren.
Wenn das, weil die Theologie eine lebendige Wissenschaft ist, in Ordnung geht, so wird sie doch – indem [...] auch sie selbst von jener Theologie von gestern herkommt – gut tun,
mit dieser Kontakt zu behalten und also [...] gerade auf die Väter von gestern mit besonderer Aufmerksamkeit zu hören,
sie in optiman partem zu interpretieren,
gerade ihre Probleme ja nicht fallen zu lassen, sondern weiter zu treiben,
gerade ihre Fragestellungen immer wieder zu bedenken und zu berücksichtigen und dann auch zurechtzustellen.
Es könnte ihr sonst widerfahren, dass die Söhne von heute sich morgen als die begeisterten Wiederentdecker und vielleicht Rächer der Großväter erweisen könnten und dass dann das vielleicht nur scheinbar vollbrachte Werk der Überwindung von deren Schwachheiten und Irrtümern noch einmal von vorne anfangen müsste. Davor bewahr‘ uns, lieber Herre Gott!“
3. Methodische Vorbemerkungen
Die Vorlesung wird sich auf die wesentlichen theologischen Konzeptionen und Bewegungen des 20. Jahrhunderts konzentrieren.
Sie widmet sich vor allem der deutschsprachigen Theologie.
Sie hat – ohne die anderen theologischen Disziplinen aus dem Blick zu verlieren – vor allem die systematische Theologie im Blick.
Sie ist vorgängig Theologiegeschichte der evangelischen Theologie.
Literatur:
Andresen, Carl, (Hg.), Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Band III, Göttingen 1984, Zweiter Teil: Hornig, Gottfried, Lehre und Bekenntnis im Protestantismus, 3.Abschnitt, 221ff.
Fischer, Herrmann, Protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002
Gibellino, Rossino, Handbuch der Theologie im 20. Jahrhundert, Regensburg 1995
Greschat, Martin (Hg.), Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945-2005), Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen IV/2, Leipzig 2010
Härle, Wilfried/ Herms, Eilert, Deutschsprachige protestantische Dogmatik nach 1945, VF 1/2, 1982
Henning, Christian/ Lehmkühler, Karsten (Hg.), Systematische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, UTB 2048, Tübingen 1998
Hirsch, Emanuel, Geschichte der neueren evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Band IV und V, Gütersloh 31964
Hoff, Gregor Maria/ Körtner, Ulrich H.J., Arbeitsbuch Theologiegeschichte. Diskurse. Akteure. Wissensformen, Band 2: 16.-20. Jahrhundert, Stuttgart 2013
Krötke,Wolf, Die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin 1945-2010, in: Tenorth, Heinz-Elmar, Geschichte der Universität Unter den Linden, Band 6: Selbstbehauptung einer Vision, Berlin 2010, 47-87 (vgl. www.wolf-kroetke.de/download)
Lessing, Eckhard, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart, Göttingen 2004
Mau, Rudolf, Der Protestantismus im Osten Deutschlands (1945-1990), Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, Leipzig 2005
Mildenberger, Friedrich, Geschichte der deutschen evangelischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1981
Pannenberg, Wolfhart, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich (UTB 1979), Göttingen 1997
Rohls, Jan, Protestantische Theologie der Neuzeit, Band 1 und 2, Tübingen 1997
Schultz, Hans-Jürgen ( Hg.), Tendenzen der Theologie des 20. Jahrhunderts. Eine Geschichte in Portraits, Stuttgart 1966
Stephan, Horst/ Schmid, Martin, Geschichte der evangelischen Theologie in Deutschland seit dem Idealismus, Berlin 31973