Kategorie: Theologiegeschichte des 20. Jh.
§ 11 Existenziale Interpretation und Entmythologisierung: Rudolf Bultmann (1884-1976)
1. Der Weg der existenzialen Interpretation
Rudolf Bultmann wurde am 20.8.1884 in Wiefelstede bei Oldenburg geboren. Theologiestudium in Tübingen, Berlin und Marburg. 1912: Privatdozent in Marburg. 1916: außerordentlicher Professor in Breslau. 1920: ordentlicher Professor in Gießen.1921-1951: Professor für Neues Testament in Marburg. Emeritierung 1951. Gestorben: 30.Juli 1976 in Marburg.
Bultmann hat nach 1945 wie kein anderer als Exeget des Neuen Testaments mit seinem Bemühen um das Verstehen der biblischen Botschaft unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts Theologie und Kirche beeinflusst und umgetrieben. Er steht dabei wie kein anderer für die Kontinuität der „dialektischen Theologie“ gut. Seine Grundanschauung war: Wir können von Gott nur reden, „sofern wir von seinem auf uns gerichteten Wort, von seinem auf uns gerichteten Tun reden“ (Glauben und Verstehen 1 [GuV], 36.).
Die historische Erforschung des Neuen Testaments führte ihn zu der Überzeugung, dass die Historie und damit der sog. „historische Jesus“ dieses Wort nicht zu erschließen vermögen und damit den Glauben an Gott nicht begründen können. Nur im Durchbruch durch die Historie, welche in der Erfahrung der Auferstehung Jesu Christi begründet ist, wird uns Jesus Christus zum Ereignis des Wortes Gottes, das uns durch die Verkündigung der Gemeinde (Kerygma) betrifft. Sofern dieses Kerygma mich angeht, verstehe ich es.
Von daher hat Bultmann die „dialektische Theologie“ begrüßt. Gottes Anrede an uns Menschen durchbricht alle historischen Bedingtheiten in dem Augenblick, in dem uns Gott trifft. Wenn ein Mensch zum Glauben kommt, dann ist das ein „eschatologisches Ereignis“, in dem Gott, „der ganz Andere“, uns den Zusammenhängen der Welt entnimmt (GuV 1, 30). Wir werden von außerhalb unserer selbst gerechtfertigt und lernen so „aus Gott“ zu leben und zu reden und nicht von weltlichen Gegebenheiten her, die wir Gott nennen.
Bultmann konnte deshalb mit Martin Luther sagen kann: „Es bleibt also dabei, dass alles menschliche Reden von Gott außerhalb des Glaubens nicht von Gott redet, sondern vom Teufel“ (ebd.). Wer jedoch aus dem Glauben heraus von Gott redet, muss zugleich „von sich selbst reden“ (GuV 1, 28). Die Theologie hat darum aufzuklären, was es eigentlich mit dem Menschsein von Menschen auf sich hat, die von sich selbstreden, indem sie von Gott reden.
An dieser Stelle bringt Bultmann Martin Heideggers existenziale Analytik des Daseins ins Spiel, wie er sie in „Sein und Zeit“ expliziert hat. Sie stellt die angemessene Begrifflichkeit zur Verfügung, in welcher vom Menschen zu reden ist.
Von Heidegger hat Bultmann folgende Begrifflichkeit rezipiert:
a) Das menschliche Dasein fragt nach sich selbst, weil es im Ex-sistieren über sein bloßes Da-Sein hinausgeht.
b)Das menschliche Da-Sein als Ek-sistenz ist ein Sein-Können, das immer vor Möglichkeiten steht. Es verwirklicht sich selbst, indem es in diese Möglichkeiten „vorläuft“. Dieses strukturelle Grundmerkmal der Existenz nennt Heidegger die Sorge: „Sich-vorweg-schon-sein (in der Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem) Seienden“ (Sein und Zeit, 192).
c)Die Sorge ist ein Existenzial, welches das Dasein ontologisch konstituiert. Davon ist die existenzielle Verwirklichung des Existenzial streng zu unterscheiden.
d)Diese Verwirklichung steht vor zwei Möglichkeiten. Die Existenz kann sich entweder gewinnen oder sich verlieren. Sie kann eigentlich existieren, d.h. so, wie es dem Existenzial des Sich-Vorwegseins entspricht. Das geschieht nach Heidegger, wenn die eigenste Möglichkeit des Daseins als Vorlaufen zum Tode begriffen wird. Die andere Möglichkeit ist das uneigentliche Existieren. Das vollzieht sich, indem das Dasein sich an innerweltlich Seiendes verliert und im „Man“ bodenlos wird.
Wenn die Theologie diese existenziale Begrifflichkeit übernimmt, entscheidet sie selbst, worin das eigentliche oder uneigentliche Existieren besteht. Wichtig ist, dass Menschen, welche die Anrede Gottes verstehen wollen, ontologisch schon immer im Sich-Verstehen begriffen sind. Der Satz: „Wir können von Gott nur reden, indem wir vom Menschen reden“, muss darum lauten: Wir können von Gott nur reden, indem wir von einem bestimmten Selbstverständnis des Menschen reden. Wenn das Wort Gottes Menschen betrifft, kommt es zu einer Veränderung ihres existenziellen Selbstverständnisses.
Um diese Veränderung zu verstehen, muss das Vorverständnis geklärt werden, in dem sich Menschen schon immer bewegen. Menschliches Dasein wird von der christlichen Verkündigung im Entwurf eines konkreten Selbstverständnisses angetroffen, das die ontologische Seinsstruktur des Sein-Könnens hat, die auch durch den Glauben nicht verändert wird. Genauso nämlich wie sich der Mensch im Unglauben in einem bestimmten Sein-Können bewegt, bewegt sich der Mensch im Glauben in einem bestimmten Sein-Können. Die Struktur der Existenz ist hier und dort die gleiche.
„Paulus sieht“, sagt Bultmann in Bezug auf I Kor 13, „das menschliche Wesen als solches (in seiner ontologischen Struktur) als unveränderlich an, denn in Glauben, Hoffnung und Liebe hat ja der Mensch immer auch ein Verhältnis zu sich selbst, indem er sich [...] in eine bestimmte Richtung des Verhaltens stellt“ (Theologie, 199f.).
Bultmann hat das Vorverständnis dem Schöpfungsglauben zugeordnet. Die Unruhe des Sein-Könnens wird von ihm als die Frage des Geschöpfs nach Gott interpretiert. Augustins Satz „Tu nos fecisti ad te et cor nostrum inquietum est, donec requiescat in te“ wird zugestimmt: „Das menschliche Leben - bewußt oder unbewußt - ist bewegt von der Frage nach Gott“ (Kerygma und Mythos 2 [KuM], 192). „Im menschlichen Dasein ist ein existentielles Wissen um Gott lebendig als die Frage nach Glück, nach Heil, nach dem Sinn von Welt und Geschichte, als die Frage nach der Eigentlichkeit des je eigenen Seins“(KuM 2, 232).
„Existenzielles Wissen“ ist kein objektivierbares Wissen. Es keine Fähigkeit, Gott zu schauen, sondern das Sich-Verstehen auf das Sein-Können als Gerichtetsein auf etwas (vgl. Theologie, 210). Das nicht vom Wort Gottes bestimmte Sich-Verstehen hält allerdings die offene Gerichtetheit nicht durch. Menschen entscheiden sich mit ohne ein bestimmtes Gottesbild so, dass sie uneigentlich existieren, d.h. sich aus sich selbst verstehen. Sie leben in dem „Wahn, das Leben nicht als Geschenk des Schöpfers zu empfangen, sondern es aus eigener Kraft zu beschaffen, aus sich selbst, statt aus Gott zu leben“ (Theologie, 233).
Menschen werden aber nicht ontologisch sündig, sondern nur existenziell und faktisch. Die Sünde kam „durch das Sündigen“ in die Welt (Theologie 251). Der Mensch bleibt strukturell jedoch ein gott-offenes Wesen, wobei betont werden muss, dass die Gottoffenheit dieser Struktur nur vom Glauben aus erkannt wird.
Der Glaube als das Sich-verstehen aus Gott kann nur durch Gottes Wort gewirkt werden. Es befreit Menschen zu einem neuen Selbstverständnis und einem neuen Existenzvollzug. Diese Befreiung zum eigentlichen Vollzug der Existenz in einem neuen Sich-Selbst-Verstehen zur Geltung zu bringen, ist das Ziel von Bultmanns Theologie!
Bultmann nimmt einerseits das Anliegen der liberalen Theologie auf, dass Gott innerhalb der geschichtlichen Möglichkeiten von Menschen zur Sprache kommen muss, um verstehbar verkündigt zu werden. Er nimmt aber zugleich das Anliegen der dialektischen Theologie auf, dass dabei jede Vermenschlichung Gottes ausgeschlossen sein muss. Bultmanns Lösung war, dass von Gott nur im Rahmen des Existenzvollzuges geredet werden kann, er aber nicht aus diesem Existenzvollzug heraus verstanden darf. Gott bleibt ganz jenseitig, indem er nur diesseitig zu Sprache kommt. Er bleibt ferne, indem er ganz nahe der die Existenz des Menschen umwandelnde Gott ist. Er verneint das alte Selbstverständnis nur, indem er ein neues Selbstverständnis schafft, das Menschen in ihrer Eigentlichkeit existieren lässt.
2. Das eschatologische Ereignis und die Entmythologisierung
Die entscheidende Wende im Selbstverständnis von Menschen geschieht nach Bultmann durch das „Heilsereignis“ Jesus Christus. Es ist ein geschichtliches, aber kein historisches Ereignis. Ein historisches Ereignis kann objektiv konstatiert und wissenschaftlich erforscht werden. Ein geschichtliches Ereignis – auch wenn es sich in der Historie ereignet – erschließt dagegen „eine neue Möglichkeit meines Daseins“ (GuV 1, 158).
In diesem Sinne ist Jesus Christus als geschichtliches Ereignis und nicht als historisches Faktum für den christlichen Glauben das Heilsereignis. Er ist das Heil, sofern er das Ende des „Sich-aus-der Welt-Verstehens“ und der Anfang eines letztgültigen, eschatologischen „Sich-Selbst-Verstehens aus Gott“ ist. Er ist das Ende der Geschichte inmitten der durch die Historie geprägten Geschichte. Er ist ein Paradox, das nur glaubend verstanden werden kann.
Glaube ist nach Bultmann ein eschatologisches Ereignis. In ihm ereignet sich eine Entweltlichung der Existenz (vgl. Theologie, 428). Wer „in Christus“ lebt (vgl.2. Kor 5,17), gehört in seinem Existenzvollzug nicht mehr der Welt an. Er lebt aus dem, was weltlich nicht aufweisbar ist. Das bedeutet das Zerbrechen menschlicher Maßstäbe für die Existenz (vgl. ebd.).
Begründet ist das darin, dass der Tod durch die Erfahrung der Erscheinungen des gekreuzigten, auferstandenen Jesus Christus seinen Nichtungscharakter verliert. Dadurch wird das Kreuz Jesu Christi zum Kerygma, zur heilenden, eschatologischen Anrede Gottes, die Menschen ein Existenzverständnis aus Gottes Überwindung des Todes heraus ermöglicht. In diesem Sinne ist „die Rede von der Auferstehung Christi“ nichts „anderes […] als Ausdruck der Bedeutsamkeit des Kreuzes“ (KuM 1, 44f.). Bultmann konnte darum dem Satz zustimmen, Jesus sei in das Kerygma auferstanden.
Von diesem Kerygma betroffen kann sich ein Mensch auf nichts mehr in der Welt berufen, das seinem Glauben Sicherheit böte. Er ist, wie Bultmann in der Terminologie der „dialektischen Theologie“ sagt, „gleichsam in die Luft gestellt“ (KuM 2, 207). Gewissheit des Glaubens findet nur, wer das echte Wunder erfährt, dass Gott das, was aus der Welt heraus unmöglich ist, Wirklichkeit werden lässt (vgl. KuM 1, 198).
Von daher hat Bultmann sein Programm der „Entmythologisierung“ des Neuen Testaments entworfen. Es ist eine „Forderung des Glaubens selbst“ (KuM 2, 207), weil der Glaube „die Befreiung von der Bindung an jedes Weltbild, das das objektivierende Denken entwirft“, verlangt (ebd.). Zu solchem objektivierenden Weltbild gehört auch das Weltbild des Neuen und Alten Testaments. Denn es redet mit der antiken Weltvorstellung vom Unweltlichen – von Gott – auf weltlich objektivierende Weise, wie es z.B. in den Berichten von den Wundern geschieht. Es macht mit solchen mythischen Vorstellungen das Jenseits zum Diesseits. Es verführt zur objektivierenden Verfügung über das Jenseits Gottes.
Dieses mythische Denken ist heute unglaubhaft geworden. „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muß sich klar machen, daß er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht“ (KuM 1, 18). „Entmythologisierung“ ist demgegenüber eine existenziale Interpretation des Mythos, die nach dem sich im Mythos aussprechenden Selbstverständnis von Menschen fragt und dem Glauben jede Sicherung im Bereich des Objektivierbaren entzieht.
Bultmann hat darum die Entmythologisierung eine „Parallele zur lutherischen Lehre von der Rechtfertigung ohne des Gesetzes Werke allein durch den Glauben“ genannt (KuM 2, 207). Der am mythischen Weltbild orientierte Glaube befindet sich in der Gefahr, an die Stelle des wahren Glaubens das objektivierende Für-Wahr-Halten von allen möglichen Einzelfakten und göttlichen Erweisungen zu setzen, wie z.B. den Glauben an die Jungfrauengeburt, an die Wunder, an die Auferstehung als historisches Faktum und an andere Mirakel.
Indem der Glaube existenzial interpretiert wird, braucht man die mythischen Aussagen nicht zu eliminieren. Man muss sie als Ausdruck eines neuen Selbstverständnisses aus Gott interpretieren. Das Paradox – sich ganz aus Gott zu verstehen und doch ganz in der Welt sein –bleibt dabei als eigentliches Ärgernis für die Nichtglaubenden bestehen. Überwunden werden muss dagegen das falsche Ärgernis der Bindung des christlichen Glaubens und der christlichen Verkündigung an das mythische Weltbild.
Bultmanns Entmythologisierungsprogramm wollte den Gottglauben Menschen unserer Zeit sicherlich nicht bequem machen. Es verschärft im Gegenteil die Unannehmbarkeit Gottes vom Menschen her. Kein Anhaltspunkt, der auf Gott in der Welt verweist, kann den Glauben ermöglichen. Durch nichts als durch Gott können Menschen das Selbstverständnis der Glaubenden ergreifen und (existenziell gesehen) als ihre Entscheidung vollziehen.
Diese Entscheidung des Glaubens vollzieht sich immer gegen den Augenschein, dass es sich doch bloß um eine menschliche Entscheidung handele. Bultmann nennt das die „paradoxe Identität“ des menschlichen Selbstverständnisses und des vom eschatologischen Ereignis geprägten neuen Selbstverständnisses (KuM 1, 107). Diese paradoxe Identität kann der Glaube nie hinter sich lassen. Er ist in der Welt und doch nicht von der Welt.
Deutlich kommt diese doppelte Perspektive an der ethischen Haltung der Glaubenden zum Ausdruck. Die Entweltlichung, die Menschen im Paradox des Glaubens widerfährt, ermöglicht es ihnen, sich in Freiheit auf eine weltlich zu verstehende Welt einzulassen. „Gerade für den Glauben wird die Welt profan und in ihrer eigenen Gesetzlichkeit als das Arbeitsfeld dem Menschen zurückgegeben“ (KuM 1, 208). Das heißt, die Welt kann als entgötterte Welt besorgt werden, ohne sie zu überhöhen. Sie wird zum Ort, an dem Menschen nichts als Menschen sein können. Sie ist gerade darin wichtig, dass sie nicht eschatologisch wichtig ist.
Darum gehen glaubende Menschen mit der Welt so um, „als ob“ sie nicht mit ihr umgingen (vgl. 1. Kor.7,29ff.) (vgl. GuV I, 132, u.ö.). Sie treten für eine weltliche Welt ein, indem sie in ihrem Selbstverständnis nicht mehr von der Welt bestimmt sind. Sie bleiben im weltlichen Tun, das in der Nächstenliebe seine Spitze hat, in einer solchen Distanz zur Welt, welche die Welt nicht mehr zu einem sie bestimmenden Absolutum werden lässt.
3. Die bleibende Frage des Verstehens
Für Bultmann stellte sich mit der Aufgabe, den Glauben existenziell als neues Selbstverständnis „aus Gott“ zu interpretieren, zugleich die Aufgabe, den im Neuen Testament in der Vorstellungswelt der Antike bezeugten Glauben in den Verstehenshorizont von Menschen des 20. Jahrhunderts zu übersetzen. Er wollte, indem er sich dabei der existenzialen Analytik bediente, die Theologie keineswegs in der Anthropologie aufgehen lassen. Seine starke „dialektisch-theologische“ Betonung des „extra nos“ Gottes zeigt das. Gerade der fremde Gott als der „ganz Andere“ wird im existenziellen Verständnis zu dem, aus dem Menschen sich heute selbst verstehen können. Die „Objektivierung“ Gottes im Mythos oder in sonstigem Reden und Denken, das von Gott wie einem „Gegenstand“ des Für-wahr-Haltens spricht, blockiert dieses Verstehen und verfehlt das, was „Glaube“ zu heißen verdient.
Die Entmythologisierung, die nach der sich im „Mythos“ ausdrückenden Glaubenserfahrung fragt, bleibt in der Abwehr des Fundamentalismus ein Anliegen der Theologie bis heute – auch wenn an die Art und Weise, in der Bultmann vorgegangen ist, Fragen zu stellen sind.
Bultmanns Begriff des Mythos ist sicherlich zu einfach. Er berücksichtigt nicht die bleibende Bedeutung des Mythos für den Ausdruck des Geheimnisses Wirklichkeit, die Menschen zu Erzählungen von Geschichten veranlasst, mit denen sie ihre Erfahrungen artikulieren können. Auf der anderen Seite ist eine Rückkehr zu den vorneuzeitlichen Mythen als quasi-historischen Berichten aber auch nicht mehr möglich. Insofern ist die Interpretation der biblischen Mythen in ihrer Bedeutung für die sich darin ausdrückenden existenziellen Erfahrungen eine unabweisbare Aufgabe.
Fragen sind auch an Bultmanns Übernahme der existenzialen Analytik zu stellen. Er hat der Theologie damit eine Begrenzung auferlegt, die mit der Überschätzung der geistesgeschichtlichen Stellung von Martin Heideggers früher Philosophie zusammenhängt. Sie hat ein individualisiertes Profil, welches das Subjekt-Objekt-Denken in Konzentration auf das Selbstverständnis der Einzelnen zu überwinden trachtete. Die wesenhafte Beziehung von Menschen auf andere Menschen und die Gesellschaft, aber auch auf die Natur tritt in den Hintergrund.
Indem Bultmann seine Theologie exklusiv an diese Philosophie band, hat er sein theologisches Denken einem Antiquierungsprozess ausgesetzt, der es zu einem bloß zeitgeschichtlichen Phänomen machen musste. Bultmann hat es z.B. nicht mehr gewagt, von Gott selbst zu reden. Wer oder was eigentlich Gott selbst ist, wurde für ihn zu einer abkünftigen Frage.
Diese Einseitigkeit ist das große Thema der Auseinandersetzung zwischen Karl Barth und Rudolf Bultmann gewesen. Barth hat die prinzipielle Bindung der Theologie an Heideggers Philosophie und ihre Begriffe für eine Verarmung der neutestamentlichen Sprache und ihres reichen Gehaltes angesehen.
„Ich bin“, hat er an Bultmann geschrieben, „zwar kein Feind der Philosophie als solcher, wohl aber jedem Absolutheitsanspruch jeder Philosophie, Erkenntnis- und Methodenlehre gegenüber hoffnungslos zurückhaltend geworden [...] Ich bin offenbar gerade 'existentiell' früher zu oft erwischt und nun endgültig abgeschreckt, um von dieser Seite noch einmal erwischt zu werden“ (Briefwechsel, GA V/1, 197). In seinem „…Versuch ihn zu verstehen“ (Zürich 31964, 52) heißt es dementsprechend: Ich will mich nicht „in die Zwangsjacke einer durchaus nicht allgemein bekannten und anerkannten Begrifflichkeit und Sprache stecken lassen, gewissermaßen zuerst Chinesisch lernen, um dann und so erst recht würdig zu sein, an seiner Hand zum wahren Paulus und Johannes vorzudringen“.
Barth hat in Bultmanns Theologie den Versuch gesehen, sich vom Selbstverständnis des modernen Menschen her des biblischen Zeugnisses zu bemächtigen. Als Ausweis dessen erschien ihm gerade das Programm der Entmythologisierung, das in Frage zu stellen schien, dass Gott überhaupt in der Geschichte gehandelt hat. Denn es bleibe bei Bultmann ja nur auf dem Plan, was das glaubende Individuum von Gott als annehmbar zu behaupten in der Lage ist. Darf man aber, so hat Barth gefragt, die Entstehung des Glaubens als eine „Art Parthenogenese ohne äußeren Grund“ verstehen, der bei Bultmann gar nicht mehr als er selbst zur Sprache kommt? (Versuch, 40). Soll man es zur höchsten Ehre der Theologie machen, „rund um das christliche Individuum mit seinem bisschen Glauben zu kreisen“? (KD IV/1, 828) Muss nicht vielmehr alles Gewicht der theologischen Arbeit darauf bleiben, dass man erst von Gott selbst und seinem Tun redet und dann vom Glauben und vom Menschen und dann von der Aufgabe des Verstehens und des Übersetzens?
Bultmann hat Barth seinerseits vorgeworfen, er arbeite, indem er seine Begriffe nicht aufkläre, mit einem ungeklärten Wirklichkeitsverständnis. Das mache ihn unkontrolliert von der Philosophie abhängig. Es richte darüber hinaus falsche Glaubenshindernisse für den Menschen von heute auf.
Über diese wechselseitigen Vorwürfe sind beide Kontrahenten nicht hinausgekommen. Dabei waren die Gemeinsamkeiten, die aus der Zeit der „dialektischen Theologie“ herrühren, nicht unerheblich. Bultmann hat mit Barth die Meinung geteilt, dass man das Problem der natürlichen Theologie nicht auf den Wegen der natürlichen Theologie aufnehmen kann. Beiden ging es darum, dass man von Gott nicht reden kann, ohne vom Menschen zu reden.
Aber diese Gemeinsamkeiten als Basis der Verständigung auszubauen, war Barth und Bultmann nicht mehr gegeben. Heute wird ihnen beiden vorgeworfen, eine „Wort-Gottes-Theologie“ zu vertreten, die ein „autoritäres“ Gottesverständnis „von oben“ befördere. Ob das für den Barth der „Kirchlichen Dogmatik“ zutrifft, wird zu prüfen sein. Bultmann jedenfalls wollte beides. Das „Oben“ Gottes wahren und darlegen, wie Glaube dennoch als grundmenschliche Möglichkeit verstehbar zu machen ist.
Dieses Anliegen wird zu bewahren sein, auch wenn es nicht in den Kategorien der Existentialanalytik zu explizieren ist. Doch so viel bleibt auch in den Grenzen von Bultmanns Bindung an diese Analytik unzweifelhaft: Die Aufgabe des Verstehens Gottes fällt, wenn sie Menschen betreffen soll, zusammen mit der Aufgabe, das dem Menschsein des Menschen angemessene Selbstverstehen aufzuweisen. Ohne sich darum zu bemühen, wird es auch nach Bultmann kein Vorwärtskommen in der Theologie mehr geben können.
Literatur:
Bultmann, Rudolf , Theologie des Neuen Testamentes, Tübingen 3 1958
Ders., Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 41958
Ders., Art. πιστεύω, ThWB VI, 174 - 230.
Ders., Glauben und Verstehen, Gesammelte Aufsätze Band 1-4, Tübingen 1933ff., daraus besonders:
Band 1:
Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, 1ff.
Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden, 26ff.
Die Bedeutung der dialektischen Theologie für die neutestamentliche Wissenschaft, 114ff.
Das Problem der natürlichen Theologie, 294ff.
Band 2:
Christus, des Gesetzes Ende, 32ff.
Die Frage der natürlichen Offenbarung, 79ff.
Anknüpfung und Widerspruch, 117ff.
Ders., Jesus, Tübingen 1926
Ders., Geschichte und Eschatologie, Tübingen 1957
Ders., Neues Testament und Mythologie, Kerygma und Mythos I, Ein Theologisches Gespräch, hrsg. von Hans-Walter Bartsch, Hamburg 41960, 15ff.
Ders., Das Problem der Entmythologisierung, Kerygma und Mythos 2, Diskussion und Stimmen des In- und Auslandes, Hamburg 1952, 179ff.
Ders.: Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, ausgewählt, eingeleitet und herausgegeben von Erich Dinkler, Tübingen 1967
Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 91960
Hamann, Konrad, Rudolf Bultmann. Ein Biographie, Tübingen 32012