Kategorie: Predigten
Ich habe keine Feinde; ich kenne keinen Hass
Predigt am 24.08.2012 in der Hoffnungskirche Berlin
Liebe Gemeinde
„Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass“. Ich hoffe, „Hass durch Liebe zum Schmelzen zu bringen“. – Diese Sätze könnten zweifellos auch im Evangelium stehen. Sie stehen aber nicht im Evangelium. Sie stammen vielmehr von Liu Xiaobo, einem chinesischen Literaturwissenschaftler. Er hat sie gesprochen oder vielmehr geschrieben, als er am 25. Dezember 2009 – zu Weihnachten also – zu elf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Denn laut sagen durfte er das im Gerichtssaal nicht, in dem man ihn der „Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt“ in der Volksrepublik China für schuldig befand.
Diejenigen unter uns, die noch DDR-Erfahrung haben, wissen, was man von solchen Prozessen zu halten hat, die eine Diktatur veranstaltet, um Menschen zu Verbrechern zu stempeln, die von dem Menschenrecht freier Meinungsäußerung und der Kritik an der Staatsgewalt Gebrauch machen. Das Urteil steht schon vorher fest. Die Richter benehmen sich wie die Staatsanwälte. Die Zeugen sagen, was man von ihnen hören will. Und sogar die bestellten Verteidiger plappern nach, was die Staatspartei vom Gericht verlangt. Im Falle von Liu Xiaobo war es genau so. Er hatte keine Chance, dem Urteil zu entgehen, bis 2020 in einem chinesischen Gefängnis 500 km von Peking entfernt sein Leben fristen zu müssen.
Was man sich unter einem chinesischen Gefängnis vorzustellen hat, hat Liao Yiwu, ein Gefährte im Geiste von Liu Xiaobo, in seinem Buche „Ein Lied für hundert Lieder“ gerade auf erschütternde Weise beschrieben. Ich habe dieses Buch, liebe Gemeinde, nicht zu Ende lesen können. Denn das Leid, das in einem solchen Gefängnis einem Menschen angetan wird, greift so auf einen über, das man es selbst beim Lesen nicht ertragen kann. Der chinesische Justizvollzug setzt politische Gefangene gezielten, unmenschlichen Quälereien durch Kriminelle aus, denen jegliche Achtung vor der Menschlichkeit eines Menschen abhanden gekommen ist. „Ich war eine Ratte“, hat Liao Yiwu in einem Zeitungsinterview seine Erfahrungen im chinesischen Justizstrafvollzug summiert.
Wir können nur beten, dass Liu Xiaobo nicht dergleichen widerfährt. Denn im Unterschied zu Liao Yiwu ist Liu Xiaobo nach seiner Verurteilung in das Licht der Weltöffentlichkeit gerückt. Ihm wurde ein Jahr nach seiner Verurteilung der Friedennobelpreis verliehen. Dunkle Machenschaften scheuen das Licht. Vielleicht kommt Liu Xiaobo dieser Preis wenigstens so zu Gute, dass man ihm erträgliche Haftbedingungen einräumt. Ansonsten blieb die chinesische Regierung knall hart. Weder der Preisträger noch seine Frau durften an der Preisverleihung teilnehmen. Es hagelte chinesische Protestnoten wegen der „Einmischung in innere Angelegenheiten“. Wir kennen das aus sozialistischen Zeiten.
Was aber haben wir hier heute in Pankow in einem christlichen Gottesdienst mit der Verurteilung und dem Leiden von Liu Xioabo zu tun? China ist weit weg und wo uns dieses Land nahe kommt, begegnet es uns ganz anders als in den Gerichtssälen von Peking und den Straflagern an der Grenze zur Mongolei. Strahlende Olympiasiegerinnen und Sieger in London wie weiland die muskelbepakten Schwimmerinnen der DDR. Produkte jeder Art „made in China“ in den Geschäften. Blühende Wirtschaftsbeziehungen zu diesem Land, die auch die Bundeskanzlerin nicht gefährden möchte, wenn sie ziemlich zurück haltend an die Menschenrechte erinnert. Spekulationen sogar, ob die Chinesen nicht vielleicht den Euro retten können. Denn diese Volksrepublik hat unterdessen ihre Diktatur über die Menschen mit einem handfesten Kapitalismus zusammen gereimt, der dem Kapitalismus der westlichen Demokratien durchaus behagt. Da passt einer wie Liu Xiaobo nicht so recht ins Geschäft.
Auch ich selbst habe leider von Liu Xiaobo nichts gewusst, bevor ihm der Friedens-Nobelpreis verliehen wurde. Ich hatte nur von der Charta 08 gehört, die eine Gruppe chinesischer Intellektueller verfasst hatte und durchs Internet verbreiten ließ. Diese Charta knüpft direkt an die Charta 77, in der Vaclav Havel und seine Mitstreiter vor 35 Jahren die demokratische Umwandlung der sozialistischen Tschechoslowakei auf der Grundlage der Menschenrechte gefordert hatten. Die Situation in China ist zwar in vieler Hinsicht anders als im damaligen sozialistischen Teil Europas. Die Forderungen der Charta 08 aber zielen auf die gleichen Freiheiten, welche die Völker Osteuropas im Jahre 1989 gewonnen haben. „Freiheit“, heißt es in der Charta, „bildet den Kern universeller Werte. Redefreiheit, Pressefreiheit, Glaubensfreiheit, Versammlungsfreiheit, Freiheit zur Bildung von Vereinigungen, Freiheit der Wahl des Wohnortes, Streik- und Demonstrationsrecht und so weiter sind die konkreten Formen der Freiheit“.
Um diese Freiheit erlangen, ist die Achtung der Menschenrechte, die allen Menschen die gleiche Würde zusprechen, das erste Gebot. Auf ihrer Grundlage soll China ein Land werden, in der die Einparteienherrschaft der kommunistischen Partei ein Ende hat, in der freie Wahlen stattfinden, in der Gewaltenteilung herrscht und es unabhängige Gerichte gibt; kurz: China soll eine Demokratie werden.
Liu Xiaobo ist der führende Kopf unter den Verfassern dieser Charta 08 gewesen. Das war kein Zufall. Denn seinen Lebensweg durchzieht das Eintreten für Menschenrechte und Demokratie in seinem Lande wie ein roter Faden. Er ist in den Zeiten der sogenannten „Kulturrevolution“ aufgewachsen, als die Kommunistische Partei Chinas unter Führung von Mao Tsetung den kommunistischen Einheitsmenschen zu formen versuchte. Die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht noch an die blauen Drillichanzüge, mit der die ganze chinesische Bevölkerung uniformiert wurde. Liu Xiaobo wurde in dieser Zeit mit seinen Eltern vier Jahre lang zur Erziehung in eine Volkskommune am Rande Chinas gesteckt. Erst nach dem Ende der „Kulturrevolution“ konnte er studieren und 1988 auch promovieren.
Für ihn wie für ungezählte Andere aber wurde das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens zum entscheidenden Anstoß, das Eintreten für eine demokratische Umwandlung seines Landes zur Lebensaufgabe zu machen. Am 4. Juni 1989 erstickte die chinesische Führung die Studentenproteste gegen sie auf diesem Platz, indem sie mit Panzern und Sondereinsatzkommandos die Demonstranten zusammen schießen ließ. 155 Tote und unzählige Verletzte ohne ärztliche Versorgung blieben auf der Strecke.
77Bei Ling schildert in seiner Biographie Liu Xiabos mit dem Titel „Der Freiheit geopfert“, wie fürchterlich dieses Massaker aus der Perspektive der Demonstranten war. Liu Xiaobo hat in diesem Inferno versucht, zwischen den Sondereinsatzkommandos und den Studenten zu vermitteln und zur Besonnenheit aufzurufen. Er konnte tatsächlich einige Studenten vor sinnloser Selbstaufopferung bewahren.
Für ihn selbst aber hatte seine Beteiligung an den Demonstrationen zur Folge, dass er zwei Jahre ins Gefängnis gesperrt wurde. Danach hat er dann in Peking gelebt und in Artikeln, Aufrufen, Gedichten und Stellungnahmen unermüdlich die Missstände in diesem Lande angeklagt und die Demokratiebewegung gleich Gesinnter unterstützt. Nach seiner Verhaftung im Jahre 1995 musste er drei Jahre zur „Umerziehung“ in einem Arbeitslager verbringen. Aber das hat ihn nicht gebrochen. Nach seiner Entlassung fuhr er fort, seine Stimme zu erheben. Er durfte das, was er schrieb, zwar nicht in China veröffentlichen. Aber durch das Internet, in dem auch die Charta 08 verbreitet wurde, erfuhren doch seine Texte einen für die chinesische Führung gefährlichen Bekanntsheitsgrad.
Wer sich näher informieren will, welchen Geist diese Texte atmen, kann sich bei uns unterdessen gut in einem Band ausgewählter Schriften und Gedichte des Fischer-Verlages informieren. Bei Youtube gibt es darüber hinaus einige Videos, in denen Liu Xiaobo selbst erzählt, was ihn zu seinem mutigen Widerstand gegen eine übermächtige Staatspartei motiviert. Unter den vielen Gründen, die er da für sein Engagement nennt, aber ragt ein Grund auffällig hervor. Das ist die Motivation zur Menschlichkeit, zu der die Liebe einen Menschen stark macht.
Liebe ist zutiefst an der Freiheit der anderen Menschen interessiert. Sie freut sich über ihre Gaben, über ihre Lebensäußerungen, über ihre Phantasie, über den ganzen Reichtum, mit dem Menschen sich gegenseitig zu bereichern vermögen. Unfreiheit aber gebiert Hass, das Gegenteil der Liebe. Denn, so heißt es in dem Schlussplädoyer von Liu Xiaobo vom Dezember 2009: „Hass kann die Klugheit und das Gewissen eines Menschen verderben, Feindseligkeit vergiftet den Geist eines Volkes, provoziert brutale Kämpfe auf Leben und Tod, zerstört die Toleranz und die Humanität einer Gesellschaft, behindert (sie) auf dem Weg zu Freiheit und Demokratie. Deshalb hoffe ich, meine persönlichen Rückschläge überwinden zu können und mich weiterhin auf den Fortschritt und Wandel unserer Gesellschaft zu konzentrieren und der Feindseligkeit der Staatsmacht mit dem größtmöglichen guten Willen zu begegnen und Hass durch Liebe zum Schmelzen zu bringen“.
7Wie sehr die Liebe Liu Xiaobo selbst trägt und mit Lebensmut erfüllt, kommt einer ganz ungewöhnlichen Passage für eine Verteidigungsrede vor Gericht zum Ausdruck. Es ist eine Liebeserklärung an Liu Xia, seine Frau. „Deine Liebe“, sagt er da, „übersteigt alle Mauern, sie ist der Sonnenstrahl, der durch die Gitterstäbe fällt und jede Faser meiner Haut streichelt, mir jede Körperzelle wärmt und mir zu jeder Zeit inneren Frieden gibt, Licht und Großherzigkeit. Sie verleiht jeder Minute, die ich in meiner Zelle verbringe, einen Sinn. […] Liebste, da ich Deine Liebe habe, kann ich gelassen meinem Urteil entgegensehen, nichts bereuen und dem morgigen Tag mit Optimismus begegnen“.
Und dann ist da auch noch etwas Anderes, was mich zu Beginn veranlasst hat, zu sagen, Liu Xiaobos Bekenntnis zur Feindesliebe könnte auch im Evangelium stehen. Dieses Bekenntnis stammt jedenfalls aus dem Evangelium. „Aufblicken zu Jesus“ heißt eines der Gedichte Liu Xiaobos, an dessen Ende die Verse stehen:
„Von der Krippe der Bauern bis zum gekreuzigten Gott/ ein armes Kind/macht den Hassgott /zum Inbegriff seiner Liebe“.
Ich füge noch einige Gedanken aus dem Artikel „Leben und in Würde leben“ aus dem Jahre 2004 hinzu. Hier versteht Liu Xiaobo die Predigt und die Verwirklichung der Liebe durch Jesus Christus als die stärkste Verheißung für die Zukunft einer freien, gerechten Welt. Denn Jesus Christus wollte eine Gerechtigkeit, die auf Liebe gebaut ist. Darum sagte er „Nein“ zu der Verführung durch Macht und Geld. Selbst angesichts der drohenden Kreuzigung blieb er dabei und ermutigt alle bis heute, auch dabei zu bleiben, wenn Hass und Macht die Liebe aus der Menschenwelt austreiben wollen. „Er ruft nicht dazu auf, Gewalt mit Gewalt zu begegnen“, sondern er „nimmt das Kreuz auf sich und sagt ruhig ‚Nein‘“. Solange Jesus, der Sohn Gottes da ist“, schließt dieser Artikel, „solange gibt es auf der Welt Begeisterung, Wunder und Schönheit“.
Ich weiß nicht genau, liebe Gemeinde, welche konkreten Beziehungen Liu Xiaobo zu den unterdrückten und trotzdem wachsenden Hauskirchen in China hat. Dass das Neue Testament zu den Kraftquellen seines Einsatz für die Menschenrechte gehört, aber ist allenthalben erkennbar, auch wenn er sich nicht direkt auf Bibelstellen beruft. Dass er Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis liest, hat seine Frau berichtet, als sie ihn noch besuchen durfte – im Moment darf sie das nicht.
Liu Xiaobo verdient darum über seine Würdigung durch das Nobelpreiskomitee und viele Menschenrechtsorganisationen hinaus die ganz besondere Aufmerksamkeit, Solidarität und vor allem die Gebete von Kirchen, Christinnen und Christen. Sie sollen ihn wie die „guten Mächte“, von denen Bonhoeffer in dem Ihnen sicher bekannten Lied spricht, unsichtbar umfangen und begleiten und Kraft spenden. Ich habe mich darum gefragt, ob es nicht Wege gibt, ihn auch wissen zu lassen und zu zeigen, dass Menschen, die ganz ferne von ihm leben, doch im Geiste ganz nahe bei ihm sind und für seine Freiheit eintreten.
Die Gelegenheit, ein solches Zeichen zu setzen, ergab sich durch eine Menschenrechtsinitiative des Landshuter Künstlers Richard Hillinger. Er hat schon vor Jahren begonnen, bronzene Friedenstauben zu verfertigen, die er mit den Namen von großen Vorbildern im Kampf um die Menschenrechte versehen hat. Vor zwei Jahren hat er mich gefragt, ob ich nicht mit einer Taube, die Dietrich Bonhoeffer gewidmet ist, Vorträge halten wolle, die Menschen dafür werben, für die Verwirklichung Menschenrechte aktiv einzutreten. Das war die Zeit, als die Verleihung des Nobelpreises für Liu Xiaobo bekannt wurde. Ich fand darum, ihm sollte unbedingt eine neue Taube gewidmet werden. Richard Hillinger hat sie angefertigt und den Namen von Liu Xiaobo in den Sockel, auf dem sie steht, eingraviert. Seitdem hat sie schon viele Stationen hinter sich, auf denen sich Menschen mit dem Kampf und dem Geschick Liu Xiaobos vertraut gemacht haben. Fotos zeugen von jeder dieser Stationen.
Der Plan ist nun, die Taube zusammen mit einer künstlerisch gestalteten Fotodokumentation der Frau von Liu Xiaobo zu überreichen, damit sie sie, wenn sie ihn wieder besuchen darf, in das Gefängnis mitnehmen kann. Im Moment ist das schwer möglich, weil die Polizei ihr Wohnhaus abgeriegelt hat und sie dort gegen Recht und Gesetz so unter Hausarrest steht wie weiland in der DDR Robert Havemann.
Aber ich bin gewiss: es werden sich Wege finden, auf denen diese Taube ihn dennoch erreicht. Der Geist Jesu Christi, aus dem heraus Liu Xiaobo handelt und leidet, lässt sich nicht für immer unterdrücken und damit die sichtbaren Zeichen dieses Geistes auch nicht. Amen.