Kategorie: Predigten
Kleiner paulinischer Trupp unterwegs nach Europa (Apostelgeschichte 16, 9-14)
Predigt in der Luisenkirche Berlin am 30.Juni 2019 im Universitätsgottesdienst
Liebe Gemeinde,
in den Universitätsgottesdiensten dieses Semesters standen und stehen Texte aus der Apostelgeschichte im Zentrum. Sie ist von Lukas geschrieben, dem Verfasser des nach ihm benannten Evangeliums. In dieser Apostelgeschichte wird geschildert, wie es nach der Erfahrung der Auferstehung Jesu Christi in Israel zur erstaunlichen Ausbreitung des Christentums in der antiken, nichtjüdischen Welt kam.
Unser Predigttext von heute ist ein ziemlich kurzes, aber höchst bedeutsames Stück aus dieser Schilderung. Es gehört zur zweiten Missionsreise des Apostels Paulus, dessen Sendung es war, das Evangelium von Jesus Christus in die Welt außerhalb Israels zu tragen. In unserem Text geht es darum, wie das von Paulus verkündigte Evangelium in Europa, also hinaus aus der asiatischen Welt, auf einem anderen Kontinent, Fuß fasste.
Auf dem Flyer des Ablaufs unseres Gottesdienstes können Sie sich einen guten Eindruck davon verschaffen, wo das stattfand. Vielleicht ist dieser und jene von Ihnen ja auch schon einmal mit dem Unternehmen „biblische Reisen“ oder privatim auf den Spuren des Apostels Paulus gewandelt. Man kann seine Reiseroute, wie sie die Apostelgeschichte schildert, jedenfalls ohne größere Probleme nachvollziehen.
Von Troas, das heute in der Türkei Eksi-Stambul heißt, ging es über das Meer hinüber nach Neapolis, dem heutigen griechischen Kavala und von dort nach Philippi.
Der Bericht davon zeichnet sich gegenüber anderen Berichten der Apostelgeschichte nun jedoch durch eine Merkwürdigkeit aus. Lukas, der seine Apostelgeschichte sonst im Stile eines objektiven, selbst nicht beteiligten Geschichtsschreibers verfasst hat, verfällt an dieser Stelle auf einmal in den „Wir-Stil“. Da heißt, er erweckt den Eindruck, dass er selbst mit dabei gewesen ist, als Paulus mit der Verkündigung des Evangeliums nach Europa überwechselte.
Doch davon findet sich bei Paulus selbst und bei Lukas in seinem Evangelium selbst überhaupt keine Spur. Es wird darum vermutet, dass Lukas hier den Bericht eines anderen eingefügt hat, der selbst mit dabei war. Wir wissen nicht, wer das war, vielleicht Timotheus, den Paulus in sein Missions-Team aufgenommen hatte. Aber durch diesen Stil des Beteiligtseins gewinnt unser Predigttext doch einen ganz eigentümlich lebendigen Charakter. Hören wir in meiner Übersetzung selbst, was geschildert wird:
„In der Nacht nun hatte Paulus einen Traum. Ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns. Kaum hatte er diesen Traum gehabt, setzten wir alles daran, nach Mazedonien hinüber zu kommen. Wir waren gewiss, dass Gott uns gerufen habe, den Menschen dort das Evangelium zu verkündigen.
Wir legten also von Troas ab und gelangten auf kürzestem (See-)Weg nach (der Insel) Samothrake. Am Tag darauf erreichten wir Neapolis. Von dort aus kamen wir nach Philippi, einer Stadt im ersten Bezirk von Mazedonien, einerrömischen Kolonie. In dieser Stadt hielten wir uns einige Tage auf.
Am Sabbat aber gingen wir vor das Stadttor hinaus an einen Fluss. Wir nahmen an, dass man sich dort zum Gebet treffe. Wir setzen uns und sprachen mit den Frauen, die sich dort eingefunden hatten. Auch eine Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus Thyatira, eine Gottesfürchtige, hörte uns zu. Ihr tat der Herr das Herz auf und sie ließ sich die Worte von Paulus angehen. Nachdem sie sich mit ihrem ganzen Hause hatte taufen lassen, bat sie uns: Wenn ihr überzeugt seid, dass ich an den Herren glaube, so kommt zu mir in mein Haus und bleibt da. Und sie bestand darauf.“
Als Erstes, liebe Gemeinde, gibt uns dieser Bericht einen ganz interessanten Einblick in die Missionspraxis der Frühzeit des Christentums. Anlaufstelle für das Bekanntmachen des christlichen Glaubens im römischen Reich, zu dem Griechenland damals gehörte, sind nämlich in der Regel die jüdischen Gemeinden gewesen. Als Paulus und seine Begleiter in Philippi ankamen, war das auch so. Sie sind nicht auf die Straßen gegangen oder haben an Haustüren geklopft, um Menschen, die vom Gott Israels keine Ahnung hatten, die Nachricht von Jesus Christus zu bringen. Sie hielten auch keine donnernden Reden auf öffentlichen Plätzen, wie das an anderen Stellen der Apostelgeschichte durchaus erzählt wird.
Sie haben da offenkundig bloß ein paar Tage herumgesessen und sich von der strapaziösen Reise erholt, bis sich die Gelegenheit bot, eine jüdische Gemeinde zu besuchen. Das war am Sabbat, dem jüdischen Feier- und Ruhetag. Weil es in Philippi offenbar keine Synagogen gab, trafen sich die Juden zum Sabbatgebet immer an einem Fluss außerhalb der Stadt. Davon haben unsere Missionare erfahren und sind dorthin gegangen.
Ich denke, wir können gut verstehen, warum sie sich so verhalten haben. Denn wir befinden uns heute in mancher Hinsicht in einer ähnlichen Situation wie die Christenheit der Anfangszeit. Auch wir haben Menschen mit dem Evangelium bekannt und vertraut zu machen, die von seinem Einwohnen in Europa unterdessen kaum mehr eine Ahnung haben. Wie es dazu kam, besonders in unserem östlichen Teil Deutschlands dazu kam, brauche ich hier nicht auszubreiten. Es hat sich jedenfalls in der DDR-Zeit und zunehmend heute auch in ganz Deutschland ein gesellschaftliches Milieu gebildet, in dem der Glaube an Gott, die Kirche und die Kenntnis der Bibel nicht mehr vorkommen.
In diesem Milieu haben die Menschen mit dem allem so viel und so wenig zu tun, wie die Mazedonier vor 2000 Jahren in Philippi. Unsere Kirche, zu deren Selbstverständnis es gehört, Menschen zum Glauben einzuladen, aber fragt sich ziemlich hilflos, was sie denn machen kann, um Menschen, die von Gottes Wort nichts hören wollen, die Ohren zu öffnen.
Denn Eines ist ganz klar: Durch Frontalansprachen und öffentliche Propaganda werden diese Menschen so gut wie nicht erreicht. Unsere Kirche ist zwar in den Medien ziemlich präsent. Alleine durch das Radio werden jede Woche eine halbe Million Menschen erreicht, sagen evangelische und katholische Rundfunkbeauftragte stolz.
Doch bei den Menschen, deren Kontakt zur christlichen Verkündigung abgebrochen ist, prallt das ab. Wenn es zum Hinhören auf das kommt, was Christinnen und Christen zu sagen haben, dann geschieht das in persönlichen Begegnungen, im unmittelbaren Kennlernen dessen, wie wir unseren Glauben verantworten und was das für das Leben bedeutet.
Genau so hat es der kleine paulinische Trupp auch in Philippi gemacht. Er hat die Begegnung mit Menschen gesucht, die er persönlich für das Evangelium begeistern wollte. Paulus und seine Begleiter sind also an das Flussufer gegangen, wo sich die jüdische Gemeinde versammelte. Sie haben sich dort zwischen die Menschen gesetzt und angefangen, mit ihnen zu sprechen. Wir müssen uns vorstellen, dass sie auf dem Erdboden gesessen haben. Da kann man keine großen Reden schwingen. Da unterhält man sich, erzählt, wer man ist und warum man hier ist. Da bekommt man Fragen gestellt und stellt selber Fragen. Kurzum, da entsteht eine Situation, in der Menschen sich näher kommen, indem sie darüber reden, wie Gott uns nahe kommt. In unserem Falle ist es sogar eine ganz besondere Situation. Denn die Apostel sitzen da offenkundig mitten unter lauter Frauen.
Dass es Jüdinnen waren, ist eher unwahrscheinlich. Denn die Frau, welche ihr Herz für das Evangelium öffnete, gehörte zu den sogenannten „Gottesfürchtigen“. Das waren nichtjüdische Besucherinnen und Besucher der Synagoge. Wahrscheinlich bestand die ganze Frauengruppe, zu der sich die Apostel bei dem Freilandgottesdienst am Fluss vor dem Stadttor setzen, aus solchen „Gottesfürchtigen“. Denn die Mission der Apostel war es ja, zu den nicht-jüdischen Menschen des römischen Reiches ihre Botschaft zu tragen. Wenn sie dabei zuerst den Kontakt zu den Menschen suchten, die durch ihre die Teilnahme an jüdischen Gottesdiensten schon etwas mit dem Gott Israels vertraut waren, ist das durchaus verständlich.
Überraschend für die damalige, von Männern dominierte Welt ist jedoch, dass nach unserer Geschichte gerade die Frauen die bevorzugten Ansprechpartnerinnen der Apostel waren. Ich habe in unserer Kirche ja noch die Zeiten erlebt, als Frauen keine Pfarrerin werden durften. Schon damals und bis heute, wenn es gilt, von Männern geschaffene Strukturen und Denkweisen in unserer Kirche zu überwinden, spielt die Geschichte vom Fußfassen des Evangeliums in Europa bei den Frauen eine wichtige, ermutigende Rolle. Dass die erste Europäerin, die getauft wurde, nach der Darstellung der Apostelgeschichte eine Frau war, wird deshalbmit Recht immer wieder hervorgehoben.
Daran marktet auch nichts die Tatsache ab, dass die Apostelgeschichte unseren Blick auf die erstaunliche Ausbreitung des Christentums im römischen Reich etwas auf die Perspektive des Paulus verengt. Denn diese Ausbreitung ist vor allem durch Wanderungsbewegungen von Menschen und Familien, die Christinnen und Christen wurden, zu erklären. Darum hat der Apostel Paulus z.B. in Rom, wohin er seinen Römerbrief geschrieben hat, schon eine christliche Gemeinde vorgefunden. So ganz stimmt das also gar nicht, dass Europa das erste Mal in Philippi mit dem Evangelium vertraut gemacht wurde. Und auch mit der ersten Europäerin, die getauft wurde, ist das so eine Sache.
Diese Frau hieß, wie wir gehört haben, Lydia. Lukas oder der, von dem unsere Geschichte stammt, erzählt uns davon so, als sei das ihr persönlicher Name gewesen. Das war aber kaum der Fall, weil „Lydia“ einfach bloß bedeutet: Eine „Lydische“, eine Frau also, die aus Lydien stammt (so wie wir eine, die aus Mecklenburg stammt, eine „Mecklenburgische“ nennen würden). Lydien aber ist eine Landschaft in Kleinasien, in der auch das berühmte Pergamon liegt (das uns Berlinerinnen und Berlinern durch den Pergamonaltar vertraut ist).
Lydia war also sicherlich gar keine geborene Europäerin, sondern allenfalls eine Europäerin „mit Migrationshintergrund“, würden wir heute sagen. Darüber hinaus war sie eine erfolgreiche Geschäftsfrau, die mit Purpur handelte, mit roter Farbe, die aus Schnecken gewonnen wurde und die damals sehr kostbar war. Dieser Handel hat sie in die Lage versetzt, ein eigenes Haus zu führen, in dem offenbar eine ganze Anzahl von Menschen – seien es Familienangehörige oder Bedienstete – wohnten.
Leider geht unsere Geschichte, nachdem sie von der Öffnung des Herzens der lydischen Frau für das Evangelium berichtet hat, aber nun sehr knapp und gleichsam im Telegrammstil zu Ende. Wir wüssten ja nun gerne, wie und wo sich die Taufe dieser Frau vollzog, vor allem, was es bedeutet, dass sie sich „mit ihrem ganzen Hause“ taufen ließ.
Diese Stelle wird von unserer Kirche bis heute gerne herangezogen, um zu beweisen, dass in der jungen Christenheit auch unmündige Kinder getauft wurden. Aber zum „ganzen Hause“ gehörten ja auch Erwachsene. Wurden sie etwa auf Befehl der Hausherrin getauft, ohne sie nach ihrem eigenen Ja zum Evangelium zu fragen? Wir wollen es nicht hoffen, nachdem die Öffnung des Herzens für das Evangelium bei der in unserem Text so genannten Lydia selbst die Basis für den Wunsch war, sich taufen zu lassen.
Vielleicht aber hat Lukas oder der, von dem er unsere Geschichte im „Wir-Stil“ hat, hier einfach die Ereignisse nur etwas unglücklich erzählt. Denn diese Geschichte endet ja damit, dass jene Lydia die Apostel geradezu gedrängt hat, in ihr Haus zu kommen und dort zu bleiben. Natürlich könnte das so gemeint sein, dass sie diese Boten des Evangeliums bewirten wollte. Aber die Aufforderung, dass sie bleiben sollen, weist im Geiste dieser Geschichte doch eher darauf hin, dass sie die Menschen in ihrem Hause auch ausdauernd so mit dem Evangelium vertraut machen möchten, dass ihr Herz geöffnet wird und sie sich taufen lassen.
So gesehen schließt sich der Bericht vom Fußfassen des Evangeliums in Europa doch mit dem zusammen, was wir von der erstaunlichen, weil rasanten Ausbreitung des Christentums im römischen Reich wissen. In den Familien, im persönlichen Leben von Menschen, im Herzen von Menschen, ist das Evangelium auf fruchtbares Land gefallen. In Hauskirchen, wie wir das heute nennen, und nicht in Domen und Kathedralen einer Staatsreligion hat es auf unserem Kontinent Fuß gefasst.
Wir können heute, wo wir uns als Christinnen und Christen in unserer weithin gottesvergessenen Gesellschaft so vorkommen wie der kleine paulinische Trupp in Philippi, auch umgekehrt sagen: Wo das Evangeliums in den Familien, im persönlicen Leben, im Herzen von Menschen nicht mehr vorkommt, da hat es keinen Wurzelgruind in der Realität.
In unserer Verantwortung liegt es darum, unsere Kinder, unser Verwandten und Bekannten, unsere Kolleginnen und Kollegen, Nachbarinnen und Nachbarn so für das Evangelium einzuladen, dass ihre Herzen für die gute Botschaft geöffnet werden. Denn die Herzen – das lehrt uns die Geschichte vom Einwohnen des Evangeliums in Europa – sind der fruchtbare Boden, auf dem Gottes Menschenfreundlichkeit in unserem Leben und in ganzen Kontinenten aufblühen kann und aufblühen wird. Amen.