Kategorie: Vorträge
Ökumenische Ungeduld. Das Drängen Dietrich Bonhoeffers auf die Einheit der Kirche im Geiste Jesu Christi
Vortrag bei den Bonhoeffer-Tagen am 14. Juni 2014 in Szczecin
1. Dietrich Bonhoeffer als ökumenischer Christ und Theologe
Die letzten Worte, die wir von Dietrich Bonhoeffer kennen, sind ökumenische Grüße. Der englische Geheimdienstoffizier Payne Best, der auf dem Häftlingstransport vom KZ Buchenwald nach Schönberg im Bayrischen Wald dabei war, als Bonhoeffer zur Hinrichtung in das KZ Flossenbürg abgeholt wurde, hat sie uns überliefert. Sie lauten: „Wollen Sie diese Botschaft von mir dem Bischof von Chichester ausrichten: Sagen Sie ihm, dass dies für mich das Ende ist, aber auch der Anfang. Mit ihm glaube ich an den Grund unserer universalen christlichen Bruderschaft, die sich über alle nationalen Hassgefühle erhebt, und dass unser Sieg gewiss ist“ (DBW 16, 468).
Es ist sicherlich nur ein Zufall, dass Bonhoeffer auf seinem letzten Wege einem Menschen begegnet ist, dem er seine tiefe Verbundenheit mit der universalen ökumenischen Gemeinschaft der Christenheit mitteilen konnte. Dennoch hat dieser letzte Gruß große Bedeutung für uns, wenn wir uns heute an Dietrich Bonhoeffer zu orientieren versuchen. Bonhoeffer war ein Theologe, für den der Einsatz für die Ökumene zum Zentrum seines Lebens und seiner Theologie gehörte.
Dieses Eintreten Bonhoeffers für die Ökumene spielt jedoch bei der weltweiten Beschäftigung mit der Theologie und dem Leben Dietrich Bonhoeffers nach 1945 und bis heute aber eher eine untergeordnete Rolle. Dafür gibt es eine einfache Erklärung. Bonhoeffers Wirken in der Bekennenden Kirche Deutschlands, seine Beteiligung am Kirchenkampf in Deutschland und am Widerstand gegen Hitler haben in der Wahrnehmung vieler Menschen sein ökumenisches Engagement in den Hintergrund treten lassen. Doch wie wir noch sehen werden, ist sein Wirken für die Bekennende Kirche eng mit dem ökumenischen Anliegen verbunden. Auch seine Widerstandstätigkeit kann ohne seine Verankerung in der Ökumene gar nicht verstanden werden. Denn die Gründe für diesen Widerstand lagen nicht nur in den deutschen Verhältnissen. Sie waren von weiter her. Sie waren darin begründet, dass sich Bonhoeffer als Christ und Theologe nicht anders verstehen konnte, als im Kontext der weltweiten ökumenischen Christenheit.
Dennoch sind die ökumenischen Impulse, die von Bonhoeffer ausgehen, in der Nachkriegszeit nur spärlich aufgenommen worden und spielen heute z.B. in der „Gemeinschaft Europäischer Kirchen“ (GeKe) keine hervor gehobene Rolle. So weit ich sehe, hat das, was Bonhoeffer auf dem ökumenischen Felde wollte und getan hat, nur in der Zeit, als der „real existierende Sozialismus“ zu Ende ging, eine bemerkenswertere Rolle gespielt. Da hat Bonhoeffers Forderung nach einem ökumenischen Friedenkonzil, das den Krieg ächtet, die Friedensbewegung nicht nur in der DDR inspiriert und den Prozess für „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ weltweit in Gang gebracht. Von diesem Prozess sind heute aber nur noch Spurenelemente vorhanden. Außerdem hat ihm ein wesentliches Element von Bonhoeffers ökumenischer Denkweise gefehlt. Das ist sein Verständnis der Ökumene als einer Gemeinschaft Bekennender Kirchen. Ob ein solches Verständnis ökumenischer Gemeinschaft angesichts der vielen, verschiedenartigen Bekenntnisse, an welche sich die Kirchen der Welt gebunden wissen, überhaupt realistisch ist, kann in der Tat gefragt werden.
Hinzu kommt aus heutiger Perspektive ein Problem, das wir, die wir es vor allem mit Christinnen und Christen der römisch-katholischen Kirche zu tun haben, besonders als einen Mangel bei Bonhoeffer empfinden. Ökumene ist für Bonhoeffer fast durchgehend die Gemeinschaft der nicht-römisch-katholischen Kirchen gewesen. Es gibt – bis auf eine Ausnahme – keine nennenswerten Bemühungen Bonhoeffers, die römisch-katholische Kirche in seine ökumenischen Bestrebungen einzubeziehen. Zur Bewegung der „una sancta“ gibt es sogar eine abwehrende kritische Stellungnahme (vgl. Brief vom 16.11.1940, DBW 16, 70). Das lag nicht nur daran, dass sich die römisch-katholische Kirche dem Beitritt zur ökumenischen Bewegung, an der Bonhoeffer beteiligt war, verweigerte, sondern nur beobachtend dabei war. Es lag auch am theologischen Gegensatz zum Katholizismus, in dem Bonhoeffer theologisch groß geworden ist.
Ein Moment der Wirklichkeit der römisch-katholischen Kirche ist für sein theologisches Profil und für seinen Weg freilich prägend geblieben. Das ist seine Beeindruckung von der Kirche in ihrer sichtbaren Gestalt, von der er im Tagebuch über seinen Romaufenthalt im Jahres 1924 schreibt (vgl. DBW 9, 80-112). „ Ich glaube, ich fange an den Begriff Kirche zu verstehen“, sagt er da. Was damit gemeint ist, erläutert eine Predigt aus der Vikariatszeit in Barcelona. Für die Evangelischen, sagt er da, bezeichne der Begriff „Kirche“ etwas „Banales“ und „Überflüssiges“. Bei den Katholiken aber löse er „Gefühle der Liebe und der Seligkeit“ aus. Die Kirche müsse in ihrem „Glanz“ bei den Evangelischen wieder wichtig werden, fordert er darum bei der Auslegung von I Kor 12, 27f: „Ihr seid Christi Leib...“ (DBW 10, 486).
Man wird nicht fehl gehen, wenn man Bonhoeffers Wahl des Dissertationsthemas „sanctorum communio“, welches der sichtbaren Sozialgestalt der Kirche gilt, auch auf jene Beeindruckung vom Erscheinungsbild römischen-katholischen Kirche zurück führt. Man wird auch nicht fehl gehen, wenn man den Versuch klösterlichen Lebens, den er von 1935 an am Predigerseminar in Finkenwalde unternommen hat, der römisch-katholische Tradition zuordnet, auch wenn sich Bonhoeffer seine Eindrücke vom Klosterleben in anglikanischen Klöstern besorgt hat. Eine theologische Offenheit für Grundanliegen der römisch-katholischen Kirche war bei Bonhoeffer also durchaus vorhanden, auch wenn sie – bis auf jene noch zu behandelnde Ausnahme – nicht zu ökumenischen Gesprächen geführt hat. Wir werden die Frage, was Bonhoeffers ökumenisches Engagement für die Beziehung der Evangelischen Kirchen zur römisch-katholischen Kirche heute bedeutet, deshalb in eigener Aufnahme der Intentionen Bonhoeffers stellen müssen.
Dazu brauchen zunächst ein paar Informationen aus der Zeit, in die Bonhoeffers ökumenisches Engagement fiel. Es ist der Beginn der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Einen ökumenischen Rat der nicht-katholischen Kirchen gab es damals noch nicht. Die ökumenische Bewegung war zersplittert in den „Weltbund für die Freundschaftsarbeit der Kirchen“, in den „Rat für praktisches Christentum“ (for life und work) und in den „Rat für Glaube und Kirchenverfassung“ (for faith and order).
In diese ökumenische Situation platzt nun ein junger, ein sehr junger Theologe aus Deutschland hinein – 25 Jahre alt ist er gerade. Er kommt aus Deutschland, wo der Nationalsozialismus im Anzug ist und 1933 durch Wahlen zur Macht gelangt, wo die „Deutschen Christen“ Geist und Ordnung der Evangelischen Kirchen zerstören. Er ist Ökumeniker aus einem ganz spezifischen Grunde, wie wir gleich sehen. Und er ist Deutscher, der mit dem Nationalsozialismus nichts, aber auch gar nichts gemein haben will. Er tritt drängend auf den Plan. Und er hat ein Thema, das von der ökumenischen Christenheit nur ein Wort verlangt. Kein halbes Wort, sondern wie er in der unterdessen berühmten Friedensrede bei der Tagung des „Weltbundes für die Freundschaftsarbeit der Kirchen“ auf der dänischen Nordseeinsel Fanø am 28. August 1934 sagt: „ein ganzes Wort, ein mutiges Wort, ein christliches Wort“! Ökumene auf ein Wort konzentriert – das klingt verwegen. Das war es auch. Wir wollen versuchen, zu verstehen, was damit gemeint war, indem wir uns Bonhoeffers christliches und theologisches Profil jener Zeit vergegenwärtigen.
2. Bonhoeffers Position: Die Wahrheit, das Gebot, der Frieden
Wir setzen mit der Rückkehr Bonhoeffers von seinem einjährigen Studienaufenthalt in den USA im Jahre 1931 ein. In diesem Jahr ist er für sich selbst zu einer entscheidenden Einsicht gekommen, die ihn dann lebenslang bestimmen wird. Ihm ging der, wie er im Rückblick 1936 sagte, „christliche Pazifismus [...] als Selbstverständlichkeit“ auf(DBW 14, 115). Der Glaube an Jesus Christus bedeutet seit jener Zeit für ihn, das Friedensgebot Jesu in der Bergpredigt „einfältig“ und ohne Wenn und Aber ernst nehmen. Wo Christus in der Kirche gegenwärtig wird, wird das Geschenk seines Friedens gegenwärtig. Darum muss der Friede von der Christenheit im Gehorsam gegen das Gebot Christi gegen alle Menschenfurcht gewagt werden. Das ist fortan das eine Standbein seiner Theologie und Frömmigkeit.
Das andere ist durch den offenbarungstheologischen Ansatz der Theologie Karl Barths geprägt. Durch sie wurde es für Bonhoeffer selbstverständlich, alle theologischen und kirchlichen Probleme im Hören auf Gottes Wort in Jesus Christus zu entscheiden. Das bedeutete: Nicht im Hören auf die Religion oder Religiosität, die Menschen von sich her ausbilden, nicht im Hören auf ein vermutetes Walten Gottes in der deutschen Geschichte, in Rasse, Blut und Boden. Obwohl Bonhoeffer bei der Bekenntnissynode von Barmen im Jahre 1934 nicht dabei war, ist das Bekenntnis zu dem „einen Wort Gottes“, das Jesus Christus heißt, der Leitfaden seines theologischen Denkens und kirchlichen Wollens gewesen.
Mit diesem doppelten theologischen Profil (ein christlicher Pazifist und ein Christozentriker) steigt Bonhoeffer nun aktiv in die ökumenische Arbeit ein. Gleich bei seiner ersten Teilnahme an einer Tagung des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen vom 1.-5. September 1931 in Cambridge wird er aufgrund seiner engagierten Beteiligung zu einem der drei Jugendsekretäre dieses Bundes gewählt. Hier und im ökumenischen Rat von „Life and Work“ hat er vor allem mitgearbeitet. Auf den zahlreichen ökumenischen Konferenzen des Weltbundes, an denen er teilgenommen hat,drängte Bonhoeffer vor allem auf drei Dinge:
1) Die ökumenische Bewegung muss sich der „Wahrheitsfrage“ stellen (vgl. den Bericht über die theologische Konferenz der Mittelstelle für ökumenische Jugendarbeit am 29. – 30. April 1932 in Berlin, DBW 11, 321). Das bedeutet: Sie muss die Fähigkeit auszubilden, zwischen dem, was Christus allein gelten lässt und dem, was die Kirche auf anderen Grundlagen baut, zu unterscheiden. „Nur in der Wahrheit (ist) Einheit möglich“, lautet sein Grundsatz (Die Bekennende Kirche und die Ökumene, DBW 14, 390). Wo es aber um Wahrheit geht, muss die Unwahrheit benannt werden. Bonhoeffer fordert darum: „Der Begriff der Häresie“ darf der ökumenischen Bewegung nicht abhanden kommen (vgl. DBW 11, 321). Sie muss Ja und Nein sagen können und darf Fragen, welche die Grundlagen der Kirche berühren, nicht unter den Teppich eines allgemein-freundlichen Wohlwollens miteinander kehren.
2) Ja und Nein sagen lernt die ökumenische Bewegung, indem sie auf das konkrete Gebot Jesu Christi hört. Sie darf dieses Gebot nicht zu einer allgemeinen christlichen Moral verarbeiten, die diesem Gebot ausweicht und z.B. den Krieg unter Berufung auf Gottes Gesetz, das aus der Schöpfung erkennbar sein soll, rechtfertigt (DBW 11, 340).
3) Dieses Gebot sagt nämlich der Weltchristenheit, dass sie sich an keinem Krieg mehr beteiligen kann. „Dem Christen ist jeglicher Kriegsdienst, es sei denn Samariterdienst, und jede Vorbereitung zum Krieg verboten“, heißt es in einem Vortrag, den Bonhoeffer im Dezember 1932 gehalten hat („Christus und der Friede“, DBW 12, 234). Die Weltchristenheit hat dafür zu sorgen, dass kein Christ sich an irgendeinem Krieg beteiligt.
Die Wahrheit, das Gebot, der Frieden – in diesem Dreiklang hat Bonhoeffer die Ökumene verstanden und mit großer Entschiedenheit und Kompromisslosigkeit in der ökumenischen Arbeit vertreten. Das machte es ihm nicht nur auf dem ökumenischen Parkett schwer, wo man nicht gewillt war, der Gemeinschaft der Kirchen diese Zuspitzung zu geben. Im Deutschland jener Zeit aber grenzte das, was er da sagte, an „Vaterlandsverrat“. Denn hier war für Nationalisten und erst recht Nationalsozialisten die Ökumene ein verdächtiges Unternehmen, das als „Internationalismus“ beschimpft wurde. Bonhoeffer hat sich aber davon nicht abhalten lassen, die Wahrheit, das Gebot und den Frieden als die ökumenischen Themen schlechthin ins Spiel zu bringen.
3. Kirchenkampf auf ökumenischer Ebene
Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht an sich gerissen hatten und versuchten, auch über die Kirche Herr zu werden, hat Bonhoeffer von der Ökumene verlangt, dass sie sich klar auf die Seite der „Bekennenden Kirche“ in Deutschland und nicht auf die der „Reichskirche“ stellt. Denn nur auf dem Boden des Bekenntnisses zur Wahrheit war Ökumene für ihn möglich. Die Vorstellung dagegen, die Wahrheit könne aus zwei Teilwahrheiten bestehen, die teils von der Bekennenden Kirche und teils von der deutsch-christlich geprägten Reichskirche vertreten werden, zerstört nach seiner Ansicht den Begriff der Wahrheit wie den der Kirche.
Nicht zuletzt dem Einfluss Bonhoeffers ist es deshalb auch zu danken, dass das Exekutivkomitee des Weltbundes im September 1933 in Sofia einen Beschluss fasste, in dem der Arierparagraph der Nazis, nach dem Juden keine Beamten mehr sein durften, als eine „Verleugnung der eindeutigen Lehre und des Geistes des Evangeliums Jesu Christi“ bezeichnet wurde (DBW 12, 135). Es muss um „der ökumenischen Sache willen [...] klar werden“, schreibt Bonhoeffer ein Jahr später an Bischof Ove Valdemar Ammundson, den späteren Präsidenten des Weltbundes, „dass die Entscheidung vor der Tür steht: Nationalsozialist oder Christ“ (Brief vom 08. 08. 1934, DBW 13, 179). Und wieder ist die Begründung dafür eindeutig: „Es ist jetzt nur mit der ganzen Wahrheit und Wahrhaftigkeit geholfen“ (ebd.).
Als Bonhoeffer das im August 1934 schreibt, ist er schon seit Oktober 1933 Auslandspfarrer in zwei deutschen Gemeinden in London. Er ist also – wenn man das so sagen darf – aus dem deutschen Kirchenkampf direkt vor Ort ausgestiegen und erst im April 1935 nach Deutschland zurückgekehrt. Was er aber in dieser Zeit getan hat, kann man durchaus als Kirchenkampf der Bekennenden Kirche auf ökumenischer Ebene bezeichnen. Er hat seine Londoner Gemeinden veranlasst, sich von der deutschen Reichskirche zu lösen. Er kämpft um das internationale Bekanntwerden der Barmer Theologischen Erklärung. Er gewinnt das freundschaftliche Vertrauen des Bischofs Bell von Chichester, der ihm hilft, für Flüchtlinge aus Deutschland zu sorgen. Als Mitglieder des Oberhauses des britischen Parlaments war Bell zudem unermüdlich bemüht, die Bekennende Kirche international aufzuwerten und über die Lage in Deutschland aus der Sicht zu informieren, die Bonhoeffer ihm vermittelte. Er hat Bonhoeffer darum auch auf der schon erwähnten gemeinsamen Tagung des Weltbundes für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen und des Ökumenischen Rates für Praktisches Christentum vom 23. – 30. August 1934 auf der Nordseeinsel Fanø unterstützt.
Für Bonhoeffer war das wichtigste Ergebnis dieser Konferenz eine Entschließung des Ökumenischen Rates „zur kirchlichen Lage in Deutschland“ vom 30. August 1934. In dieser Entschließung wird erklärt, dass „ein autokratisches Kirchenregiment“, „die Anwendung von Gewaltmethoden und die Unterdrückung freier Aussprache mit dem wahren Wesen der Kirche unvereinbar sind“. Der Kirche dürfe keine „mit dem christlichen Glauben im Widerstreit stehende [...] Weltanschauung“ aufgezwungen werden. Die Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche wird des Gebetes und der „herzlichen Verbundenheit“ des Ökumenischen Rates mit ihrem Zeugnis versichert. Vor allem aber wird die Absicht erklärt, mit den Brüdern der Bekenntnissynode „enge Gemeinschaft [...] aufrechtzuerhalten“ (vgl. den Text der Entschließungen bei Armin Boyens, Kirchenkampf und Ökumene 1933-1939. Darstellung und Dokumentation, München 1969, 337f.).
Bonhoeffer hat hinterher geurteilt, „noch nie“ sei die evangelische „ökumenische Christenheit in einer Glaubensfrage so eindeutig und einmütig gewesen wie hier“ (Die Bekennende Kirche und die Ökumene, DBW 14, 378f.) In einer anderen Sache jedoch, auf die es Bonhoeffer nicht weniger ankam, fehlte diese Einmütigkeit freilich – und das war die Friedensfrage. Was Bonhoeffer in dieser Hinsicht sagte, stammte nicht aus den theologischen Intentionen der Bekennenden Kirche in Deutschland. Weder Karl Barth noch Martin Niemöller haben je so geredet, wie Bonhoeffer hier geredet hat. Bonhoeffer hatte nämlich den Auftrag, in Fanø zu einem „Friedenkatechismus“ zu reden. Sein Plenarvortrag dazu am 28. August 1934 zum Thema „Die Kirche und die Welt der Nationen“ ist leider nicht erhalten geblieben, aber das als „Friedensrede“ bekannt gewordene Impulsreferat „Kirche und Völkerwelt“ (vgl. DBW 13, 298-301). Es ist eine Auslegung von Psalm 85, 2: „Ach, daß sie hören sollten, was der Herr redet, nämlich dass er Frieden zusagte seinem Volk“.
Er sagt, dass Friede ist, „weil Christus in der Welt ist“, der Versöhner der Menschheit (DBW 13, 299). Er sagt, dass die Kirche der gegenwärtige Christus ist und dass die „Brüder in Christus“ deshalb nicht die Waffen gegeneinander richten können, weil sie „damit die Waffen auf Christus selbst“ richten (DBW 13, 300). Darum halten sie sein Gebot, dass Friede sein soll auf Erden in „unbedingtem Gehorsam“ (DBW 13, 298). Sie fangen einfach an, diesen Frieden zu wagen und zu praktizieren. Sie beteiligen sich auf keiner Seite an einem Krieg, weil Krieg per se eine gegen Christus gerichtete Dämonie ist. Darum ist er ihnen von Gott verboten. Das hat die ökumenische Christenheit bei ihren Versammlungen allen Christen der Welt zu sagen und wenn sie das nicht sagt, ist jede ihre Tagungen „verlorene und verschwatzte Zeit“ (DBW 11, 343).
Fanø sollte keine verlorene und verschwatzte Zeit sein, sondern Christuszeit, in der endlich der Friede in konkreter Tat gewagt wird. Diese konkrete Tat aber ist, das „Eine große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Jesu Christi” ins Leben zu rufen, welches das Wort vom Frieden so spricht, dass die Welt es „zähneknirschend [...] vernehmen muß und daß die Völker froh werden, weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet (!) und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt“ (DBW 13, 301). Angesichts des Scheiterns der Abrüstungsverhandlungen in Europa, der Herrschaft der militanten Nationalsozialisten in Deutschland und der Faschisten in Italien war Krieg für Bonhoeffer 1934 eine reale Gefahr. Darum ruft er dieser ökumenischen Versammlung zu: „Die Stunde eilt – die Welt starrt in Waffen und furchtbar schaut das Mißtrauen aus allen Augen, die Kriegsfanfare kann morgen geblasen werden – worauf warten wir noch“? „[...] wer weiß, ob wir uns im nächsten Jahr noch wiederfinden“ (ebd.).
Es ist kein Zweifel, dass Bonhoeffer mit der Forderung der Ächtung des Krieges diese ökumenische Versammlung gänzlich überfordert hat und jede Ökumene bis heute überfordert. Das Eine große ökumenische Friedenskonzil der Heiligen Kirche Jesu Christi hat nie gegeben. Die Kirchen haben es als die eine Kirche Jesu Christi nicht vermocht, das Wort vom Frieden „bis zur Ermattung, bis zum Ärgernis, bis zum Martyrium“ in das „rasende Toben“ der Welt hinein zu rufen. Sie waren schon gar nicht bereit, es darauf ankommen zu lassen, dass „ein Volk betend und wehrlos und darum bewaffnet mit der allein guten Wehr und Waffen“ (nämlich mit Gottes Wort) die Angreifer empfängt (DBW 13, 300). Zwar hat die Jugendkonferenz in Fanø mehrheitlich erklärt, dass das Recht auf Kriegdienstverweigerung von allen Staaten eingeräumt werden müsse und die Kirche in keinem Fall einem Krieg geistlichen Beistand leihen darf (vgl. DBW 13, 193-195). Zu einem Frieden-Stiften im Sinne Bonhoeffers aber hat sie nicht aufgerufen, sondern von einer „Wahl“ gesprochen, vor welcher der Einzelne im Falle eines Krieges steht (vgl. DBW 13, 195). Das aber ist in dieser Sache schon immer die Lehre der Großkirchen gewesen und geblieben.
Für Bonhoeffer persönlich jedoch war alles bitterernst, was er hier gesagt hat. Einer der Teilnehmer der Jugendkonferenz hat sich erinnert, dass er Bonhoeffer damals gefragt habe, was er denn selbst im Falle eines Krieges tun würde. Da hat er sinngemäß geantwortet, er bitte Gott darum, dann die Kraft zu haben, nicht in einen solchen Krieg zu gehen. Dass er das tatsächlich versucht hat, ist für viele heute durch seine Teilnahme an der militärischen Verschwörung gegen Hitler überdeckt worden. Sein weiterer Weg wird aber dadurch bestimmt sein, dass er entschlossen war, sich der Einberufung in die Deutsche Wehrmacht zu entziehen. Als er 1943 verhaftet wurde, lautete die Anklage zunächst nicht zufällig auf „Wehrkraftzersetzung“, weil er ausdauernd versucht hatte, seiner Einberufung zum Militär zu entgehen. Eine ökumenische Position war es also, die ihn auf den Weg in den Widerstand gebracht hat.
5. Ökumene im Ernstfall
Nachdem Bonhoeffer im April 1935 die Leitung des Predigerseminars der Bekennenden Kirche zunächst in Zingst und dann in Finkenwalde zu übernommen hatte, ging seine aktive Beteiligung an der ökumenischen Bewegung langsam zu Ende. Er hat kurz nach seiner Rückkehr aus London im Aufsatz „Die Bekennende Kirche und die Ökumene“ noch einmal gefordert, dass die Ökumene Bekennende Kirche und Bekennende Kirche ökumenisch sein müsse (DBW 14, 378 – 399). Beides war faktisch nicht der Fall. Das ist vor allem der Grund, warum Bonhoeffer 1937 von seinem Amt als Jugendsekretär zurückgetreten ist. Er wollte nicht zusammen mit den Vertretern der deutschen Reichskirche in den ökumenischen Gremien sein. Für ihn war diese Reichskirche der „Antichrist“, der in der Ökumene nichts zu suchen hat. So ist Bonhoeffer gewissermaßen einen einsamen ökumenischen Weg weiter gegangen.
Nach der Schließung von Finkenwalde und der „Sammelvikariate“ war Bonhoeffer beruflich am Ende. Über ihn wurde ein Rede- und Veröffentlichungsverbot verhängt. Er musste sich regelmäßig bei der Polizei melden und ihm drohte die Einberufung zur Wehrmacht. In dieser Situation half ihm sein Schwager Hans von Dohnanyi. Er besorgte ihm eine Stelle als Agent der militärischen Abwehr in München. Von dort bekam die so dringend nötige Unabkömmlichkeitserklärung, die ihn von der Wehrpflicht befreite. Damit begann aber begann für Bonhoeffer noch einmal eine ganz besondere Art der Beziehung zur Ökumene.
Offiziell wurde Bonhoeffer von der militärischen Abwehr angefordert, um seine ökumenischen Auslandskontakte für die Auslandsaufklärung dienstbar zu machen. In Wirklichkeit ging es darum, das Ausland auf den möglichen Umsturz in Deutschland vorzubereiten und die Reaktionen der Alliierten für einen solchen Fall zu erkunden. Auf den ersten Blick wirkt das wie eine Funktionalisierung der Ökumene für einen politischen Zweck. Doch dieser politische Zweck bestand darin, dem Massensterben im Kriege und dem Massenmorden an den Juden und den Völkern Europas, von denen Bonhoeffer detailliert wusste, ein Ende zu bereiten.
Aus dem sog. „Tarnbrief“ an Hans von Dohnanyi, den Bonhoeffer im Februar/März 1943 angesichts der Gefahr der Verhaftung auf den Oktober 1940 zurückdatiert hat und in dem er sich selbst der Abwehr anbietet, wird eine atemberaubende Fülle von Personen in der Ökumene genannt, zu denen er Kontakt aufnehmen könnte (vgl. DBW 16, 385 – 390). In Wirklichkeit konnte er sich in seiner Mission nur wenigen Menschen anvertrauen. Das war Bischof Bell, mit dem er sich im schwedischen Sigtuna getroffen hat. Und das war bei seinen drei Reisen in die Schweiz im Laufe der Jahre 1941/42 vor allem Karl Barth und – auch im ökumenischen Sinne besonders wichtig! – den späteren Generalsekretär des Ökumenischen Weltrates der Kirchen Visser’t Hofft. Mit Letzterem hat er Perspektiven der politischen Verantwortung der Kirchen im Blick auf die Friedensziele und den Wiederaufbau nach dem Kriege diskutiert.
„Erfolgreich“ war Bonhoeffers Mission nicht. Die Alliierten haben nicht an einen Putsch von deutschen Offizieren geglaubt. Er ist denn ja auch gescheitert. Dennoch hat Bonhoeffers Mission Früchte getragen. Sie hat mitten in einer Welt des Tötens und des Wahns einen Samen für eine neue Zukunft der Ökumene gelegt, der im Vertrauen von Christenmenschen zueinander bestand.
5. „Worauf warten wir noch“?
In die Zeit der ungewöhnlichen ökumenischer Aktivität Dietrich Bonhoeffers, die ich nur in aller Kürze geschildert habe, fällt eine neue Entwicklung der ökumenischen Gesinnung Dietrich Bonhoeffers. Sie verdankt sich der Begegnung mit Menschen der römisch-katholischen Kirche. Bonhoeffer hatte in der Zeit des Widerstandes persönliche Kontakte zu Joseph Müller, dem Verbindungsmann der Widerständler zum Vatikan und zum Mettener Abt Corbinian Hofmeister. Vor allem aber war es sein Aufenthalt in Kloster Ettal, wo er während seine Tätigkeit für die Münchener Dienststelle der militärischen Abwehr untergebracht war, die ihn zu einem Überdenken seines Verhältnisses zur römisch-katholischen Kirche veranlasste. Bonhoeffer hat in Ettal intensive Gespräche mit dem Abt Angelus Kupfer und mit dem Gastpater Johannes Albrecht geführt. Im Kapitel der „Ethik“ über das „Letzte und Vorletzte und das „natürliche Leben“, das in Ettal entstanden ist, sind deutliche Spuren dieser Gespräche zu erkennen. Bonhoeffer hat darüber hinaus häufig der Messe beigewohnt und sich vorgenommen, „besser zu verstehen“, was dort geschieht. Die „christliche Ehrerbietung“, die ihm die Benediktiner entgegen gebracht haben, hat ihn darüber hinaus sehr beeindruckt (vgl. DBW 16, 76).
Es ist darum kein Wunder, dass sich in dieser Zeit auch Erwägungen Bonhoeffers darüber finden, wie sich das Verhältnis zwischen den evangelischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche in Zukunft gestalten könnte. Er macht dazu von einem Element seiner Frömmigkeit und seines Denkens Gebrauch, das in der Regel viel zu wenig beachtet wird. Bonhoeffer hat nämlich in dem starken Glauben gelebt, dass sein persönliches Leben, die Geschichte und die Kirche unter der „Führung Gottes“ stehen. In einem Brief vom 16.11.1940 gibt er zu erwägen, ob beide Kirchen nicht doch durch die Führung Gottes zusammen wieder zusammen kommen könnten. Er hat dabei nicht an Entscheidungen von Bischöfen und Kirchenleitungen gedacht. Er hatte die Entscheidungen der Glaubenden in beiden Kirchen im Blick. Unter der Führung Gottes wird ihnen die Gegenwart Jesu Christi wichtiger werden, als die theologischen Gedanken, die darüber in beiden Kirchen vertreten werden (DBW 16, 71). Das entspricht seiner auch sonst geäußerten Anschauung, dass sich auf dem Wege von Christinnen und Christen in der Zeit „kirchenspaltende Gegensätze“ in bloße „Schulverschiedenheiten“ verwandeln können, die keine Zementierung der Kirchenspaltung rechtfertigen. Gerade in der Gegenwart seien die Kontroversfragen zwischen den Konfessionen „nicht mehr echt“, hat in den Briefen aus dem Gefängnis geurteilt (vgl. DBW 8, 356).
Das Fragmentarische solcher Äußerungen erlaubt es nicht, daraus irgendein ökumenische Konzept abzuleiten. Bonhoeffers Meinung war, dass das Bekenntnis zur Gegenwart Jesu Christi im Leben der Glaubenden der wahre Wurzelgrund der Einheit der getrennten Konfessionen ist. Sich auf Christus zu konzentrieren, ist darum der Aufruf, der vom Leben und Werk Dietrich Bonhoeffers an die Christinnen und Christen aller Konfessionen ausgeht. In dieser Konzentration, welche die Dogmen veralten und verdorren lässt, welche die Trennung der Kirchen befestigen, hat er die Zukunft der Ökumene gesehen.
„Worauf warten wir noch“? – hieß die drängende Frage, mit der Bonhoeffers „Friedensrede“ von Fanø endete. „Worauf wartet ihr noch“? – fragt er uns heute, wo Gewalt und Terror an allen Ecken und Enden der Welt wüten? „Worauf wartet ihr noch“? angesichts der globalen Herausforderungen und schlimmen Entwicklungen im Felde der Wirtschaft, der Ökologie, aber auch im Verhältnis der Religionen zu einander? Bringt mit einer Stimme den Geist Jesu Christi in unsere Welt und grabt euch nicht in eure religiösen Besonderheiten ein, die das Wirken dieses Geistes blockieren! Redet mit einer Stimme, die euch Jesus Christus leiht!
Anders als in ökumenischer Ungeduld, die auf ökumenische Praxis drängt, war für Bonhoeffer Ökumene nicht denkbar. Brennt diese Ungeduld auch in unseren Kirchen? Was antworten wir, wenn wir gefragt werden, worauf wir noch warten, um unsere Stimme mit der der anderen Christinnen und Christen in der anderen Konfession zu vereinen? Versuchen wir bloß, den anderen die Schuld daran zu geben, dass das Christusbekenntnis in unserer Welt so zersplittert ist? Welche Impulse gehen von uns aus, die Christinnen und Christen einer anderen Kirche reizen und einladen, mit uns gemeinsam den „Frieden Jesu Christi“ in unserer Welt darzustellen? „Worauf warten noch“? – das ist also eine Frage, die als ökumenisches Vermächtnis Bonhoeffers gelten kann.