Vorträge
< "Wir verwerfen die falsche Lehre". Wahrheitsanspruch und Widerspruch in der Geschichte des Christentums gestern und heute
25.10.2013 00:00 Alter: 11 yrs
Kategorie: Vorträge

Zu Christian Danz: 'Religionslosigkeit' - gibt es das überhaupt?

Korreferat auf einem Symposion zum 65. Geburtstag von Matthias Petzold in Leipzig am 25.10.2013


Omnis aequivocatio mater errorum – der Gleichklang der Worte, die etwas verschiedenes bedeuten, ist die Mutter der Irrtümer – hat Martin Luther in der „Disputatio de sententia“ von 1539 gesagt (vgl. WA 39/II, 28, 28). Auf kaum ein von Theologie, Philosophie und Religionswissenschaft heute benutztes Wort trifft das so sehr zu, wie auf den Begriff der „Religion“. Sein Zwie- ja Mehrklang ist schon im Titel des Vortrags zu vernehmen, zu dem ich Stellung nehmen soll. Dass es heute Massen von Menschen gibt, die sagen, sie hätten keine Religion und sie seien auch nicht „religiös“, duldet eigentlich überhaupt keinen Zweifel. Wer ihn dennoch hegt, dem sei im Namen der Kirchengemeinde einmal ein Hausbesuchstag z.B. in Berlin-Marzahn empfohlen, wo keine 5% der Bevölkerung einer Kirche angehören. Nachdem er zum x-mal gehört hat: „Ich habe mit Religion nichts am Hut. Lassen sie mich damit in Ruhe“, wird er am Abend des Tages bestimmt nicht fragen: „Religionslosigkeit – gibt’s das überhaupt“? Es reicht aber auch, z.B. das gerade erschienene Buch von Rita Kuczynki mit dem Titel „Woran glaubst du eigentlich? Weltsicht ohne Religion“ zu lesen (Woran glaubst Du eigentlich? Weltsicht ohne Religion, Berlin 2013). Dieses Buch mit 80 Interviews  ost- und westdeutscher sich „religionslos“ verstehender Menschen wird zudem helfen, die Frage zu stellen: Was meinen die Menschen überhaupt, die sagen, sie hätten mit Religion nichts zu tun und seien auch nicht religiös? Doch diese für die Begegnung von Kirche und Gemeinde mit Menschen, die sich selbst als religionslos ansehen, eminent wichtige Frage leitet den Vortrag nicht.

         Diese Enthaltsamkeit könnte dadurch gerechtfertigt sein, dass es ja möglich ist, dass die Menschen sich irren, wenn sie sich für religionslos halten. Zur Phänomenologie des Religiösen gehört zweifellos – noch einmal mit Luther geredet – sein Herz auf etwas zu hängen (vgl. die Erklärung zum 1. Gebot im Großen Katechismus in. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1530, Göttingen 41959, 560 (Abk.: BSlK). Treffen wir so etwas nicht auch in dem Milieu an, in dem die Menschen sich für religionslos halten? Die mehr oder weniger irrationale Verehrung von Personen und Trends der Unterhaltungsindustrie und des Sports, das Bedürfnis nach Ritualisierungen der Lebensetappen, die Hingabe an mittlere, kleine und ganz kleine Transzendenzen in der Immanenz, die dem eigenen Leben so etwas wie Sinn – d.h. einen Zusammenhang geben, in den es gehört – ist das nicht auch „Religion“? Belehrt uns die Soziologie nicht, dass die Säkularisierung die gesellschaftsintegrierende Funktion der Religion keineswegs überflüssig, sondern nur „transformiert“ hat, so dass alle an der Funktion von Religion partizipieren, auch wenn sie keine explizit und ausdrücklich  religiösen  Vollzüge kennen?

         Bei dieser letzten Frage verweilt  der Vortrag erstaunlicherweise ausführlich. Er führt uns noch einmal vor Augen, welchen Anlass – von anderen Religionstheorien abgesehen – die religionssoziologische Forschung der letzten 50 Jahre gegeben hat, in Frage zu stellen, ob es Religionslosigkeit überhaupt „gibt“. Das Ergebnis dieser Durchmusterung ist freilich widersprüchlich. Auf der einen Seite gilt: Das funktionale Religionsverständnis der Soziologie habe den Religionsbegriff „entscheidend präzisiert“, weil sie ihn von der „kirchlichen Sozialform“ gelöst habe (6). Auf der anderen Seite wird kritisiert, dass dieser Begriff hier mitnichten präzisiert, sondern im Gegenteil „unscharf“ werde, geradezu „inflationär“ gebraucht werden könne und zur Unterstellung einer „unbewussten Religion“ von Menschen führe (7).  Demgegenüber soll das, was als „Religion“ zu verstehen ist, aus der sogenannten „Teilnehmerperspektive“ (8), nämlich dem religiösen Akt selbst, wie ihn Menschen vollziehen, erschlossen werden. Dieses Vorhaben ist insofern aber den soziologischen Einsichten verpflichtet, als es entsprechend der Individualisierung und Pluralisierung von Religion auch seine Zugehörigkeit zur sogenannten „modernen Gesellschaft“ unter Beweis stellen möchte, indem es sich auf den subjektiv-individuellen religiösen Akt in seinem Vollzug konzentriert.

          Welcher konkrete Akt dabei die Basis der Analyse ist, wird aufgrund der abstrakten Formalisierung eines solchen Aktes nicht ganz klar. Geht es um das Beten als dem Grundakt eines Glaubenden? Geht es um das Singen als dem Lobpreis Gottes? Geht es um das Hoffen? Geht es um das Halten der Gebote? Geht es um das Verkündigen? So wie dieser Akt geschildert wird, ist offenkundig bloß der nackte Glaube ohne die Vollzüge gemeint, die zu ihm gehören. Im Blick ist dabei außerdem nur der christlich-religiöse Akt. Von ihm wird gesagt, dass er auf Offenbarung – vermittelt durch die Schrift – angewiesen und insofern „unableitbar“ und „kontingent“ ist (vgl. 9f.). Nur ihm ist Gott erschlossen, weshalb Martin Luthers Satz aus der Erklärung zum Ersten Gebot im Großen Katechismus zitiert wird, der da heißt: „Gott und Glaube gehören zuhaufe“. Das ist zutreffend. Dringend erläuterungsbedürftig ist dagegen ist die Aussage: „außerhalb des Glaubens findet man lediglich (!) den Teufel“. Er soll wohl Luthers Verständnis des in seiner Majestät verborgenen Gottes aufnehmen, der auch den auch den Teufel antreibt und uns in seinem undurchschaubaren Wirken selbst regelrecht zum Teufel werden kann. Das bedeutet aber nicht, dass er der Teufel ist und die von ihm regierte Welt als teuflische Welt verstanden werden muss. Menschen, die nicht an Gott glauben, ein solches Verständnis des Glaubens zu empfehlen, kann sie – von aller theologischen Fragwürdigkeit dieses Satzes abgesehen – im Grunde nur in der Ablehnung eines solchen Glaubens bestätigen.

Aber wie dem auch sei: Ob es reicht, für das, was „Religion“ ist, allein den christlich gefärbten  individuellen religiösen Akt heranzuziehen, darf angesichts der Vielfalt religiöser Akte in der Welt der Religionen gefragt werden, wenn denn auf eine „Theorie der Religion“ überhaupt gezielt wird, die auf alle Menschen zutrifft. Aber diese Engführung verdankt sich vielleicht nur dem knappen Raum, der unserem Referenten für seinen Vortrag zur Verfügung stand, so dass die Abgleichung mit religiösen Akten in anderen Religionen unterblieben ist.

Noch schwerwiegender für die theologische Optik jedoch ist, wie hier ihr Glaube beschrieben wird. Es werden nämlich die genannten Merkmale des Glaubens von vornherein in eine Selbstbewusstseinstheorie aus dem 19. Jahrhundert eingefädelt. Richtiggehend dogmatisch wird von vornherein dekretiert: „Religion ist ein strikt selbstbezügliches Geschehen“ (8) – „incurvatus in se ipsum“, nannte Luther das (vgl. Scholion zu Römer 5, 4, WA 56, 304, 25-29), wobei er gerade den Menschen in seinen religiösen Höhenflügen im Blick hatte. Noch nicht einmal Gott oder abstrakter die Transzendenz ist diesem Menschen ein Gegenüber, in dem ihm etwas anderes begegnet als er selbst. Gott – zudem auf einen bloßen „Gottesgedanken“  reduziert – stellt nur die „eigene Selbsterschlossenheit“ des sich selbst reflektierenden Subjektes dar (9). Er ist eine Funktion eines „Sich-Selbst-Verstehens“, dessen „Gehalte“, d.h. das, woran geglaubt wird, füglich so oder so flottieren können. „Bastelreligiosität“ nennt Ulrich Beck den „eigenen Gott“, den sich Menschen heute auf der Grundlage dieser religiösen Gesinnung zusammen reimen (Vgl. Ulrich Beck, Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt/a.M und Leipzig 2008, bes. 123-175).

Aber nun geht es ja in unserem Zusammenhang nicht darum, in welche Zweideutigkeiten eine Interpretation des christlichen Glaubens unsere Kirche hinein zieht, die Gott, der uns Kraft seines Geistes begegnet, zu einem Spielball unserer Selbstreflexion macht. Zielpunkt des in der geschilderten Weise eng geführten religiösen Vollzuges bleibt eine daraus abgeleitete „Theorie der Religion“, die – wenn ich das recht verstehe – Kontrapunkt der „Religionslosigkeit“ sein soll, in der menschliches Selbstbewusstsein sich nicht so entwickelt und darstellt, dass dabei ein „Gottesgedanke“ in Anspruch genommen werden muss.

Diese „Theorie der Religion“ sieht in der Lapidarität, in der sie uns hier mitgeteilt wird, allerdings so aus, dass sie Ludwig Feuerbach ohne weiteres für seinen Atheismus in Anspruch nehmen könnte und der Religionskritik, wie sie Menschen ohne Gottesglauben bevorzugt üben, kräftig Wasser auf die Mühlen leitet. Denn der Vortrag sagt: Mit der Religion, in welcher „sich das Selbst herstellt“, wie es mit einer Kategorie des produzierenden Handelns heißt, verständigt sich der Mensch mit einem „selbsterschaffenen Bild über sich selbst“ (10). Projektion  heißt dieses Bildschaffen Gottes bei Feuerbach. Es ist dann bloß noch eine wendbare Alternative, ob es sich um eine Illusion oder um eine unerlässliche transzendentale Bedingung menschlichen Selbstverständnisses handelt. Im ersteren Fall wird die Projektion ein Opfer des über sie aufklärenden Atheismus. Er hat die Gestalt einer Anthropologie, die das Wesen des Menschen als das „höchste Wesen“ versteht (vgl. Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, in: Ludwig Feuerbach. Gesammelte Werke, Band 5, hg. von Werner Schuffenhauer, Berlin 21984, 444). In der Gottesprojektion spiegeln, reflektieren Menschen demnach nur ihr eigenes Wesen und die Eigenschaften dieses Wesens. Da kann jeder kritische Religionslose freudig zustimmen.

Im anderen Fall dürfte es eigentlich überhaupt keinen religionslosen Menschen  geben, da der, welcher sich im Bildschaffen Gottes nicht selbst „herstellt“, sich selbst als Mensch eigentlich überhaupt nicht verstehen kann. Friedrich D. E. Schleiermacher hat gemeint, einen solchen Zustand des Selbstbewusstseins „in seiner höchsten Steigerung“ müsse man „durch die Ausdrükke Gottlosigkeit oder besser Gottvergessenheit bezeichnen“(Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Die christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Teilband 1, hg. von Rolf Schäfer, in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, Band 13,1, Berlin/New York 2003, 96). Ihm fehle die „Leichtigkeit […], das Gottesbewußtsein in den Zusammenhang der wirklichen Lebensmomente einzuführen und darin festzuhalten“ (ebd.). Schleiermacher konnte und wollte aber nicht zugeben, dass das Gottesbewusstsein bei Menschen im Zustand der „Gottvergessenheit“ gleich „Null“ sei (a.a.O., 97). Denn diese Meinung würde sich einer der von ihm so genannten „natürlichen Kezereien“ des Christentums annähern, in unserem Falle dem Manichäismus, der Menschen überhaupt als unfähig zur Gottesbeziehung versteht, wie sie durch Jesus von Nazareth erschlossen ist (vgl. a.a.O., 156-158). Die in unserem Vortrag dogmatisch über die Analyse des Phänomens des religiösen Aktes gelegte Matrix müsste also streng genommen zu dem Urteil führen, dass es Religionslosigkeit als völlige Abwesenheit des Gottesbewusstseins nicht geben kann.

Merkwürdigerweise aber kommt der Vortrag, nachdem er sich teilweise mit der Religionssoziologie und mit einer anzufragenden Schleiermacher-Interpretation  auf den Weg zu diesem Urteil begeben hat, bei diesem Urteil gar nicht oder nur gebrochen an. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass dem religiösen Akt Unableitbarkeit und Kontingenz zugesprochen wurde. Gewissermaßen ein Selbstbewusstseins-Offenbarungspositivismus würde dann verhindern, dass die religiöse Reflexionsleistung allgemeine anthropologische Geltung beanspruchen kann. Das leuchtet aber überhaupt nicht ein, weil es zum religiösen Selbstbewusstsein gehört, menschliches Selbstbewusstsein in sein Wesen zu bringen. Aus diesem Grunde ist die Polemik am Ende des Vortrags gegen Wolfhart Pannenbergs Satz, „daß der Mensch nur in der Gottesbeziehung zu sich selbst kommen kann“ (13; vgl. Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983), auch nicht angebracht.  Dieser Satz definiert zwar nicht Pannenbergs „Begriff der Religion“ (wie fälschlich behauptet wird), sondern bringt sein Verständnis der Gottebenbildlichkeit des Menschen zum Ausdruck.  Gesetzt aber den Fall, er würde die Religion definieren, dann ist zu fragen: Was gibt es auf der Basis des vorgetragenen Religionsverständnisses dagegen eigentlich einzuwenden? Die Antwort, die gegeben wird, ist: Einem Religionsbegriff, der Religion geradezu als „konstitutiv für das Menschsein als solches“ ansieht, fehle die analytische Schärfe und es sei um seine „empirische Triftigkeit“ nicht gut bestellt (13). Das soll ja wohl heißen, faktisch, objektiv oder wenigstens statistisch stimmt das nicht. Der Mensch kann auch ohne die Gottesbeziehung zu sich selbst kommen. Ich lasse die Frage beiseite, ob ein solches Urteil überhaupt „empirisch“ gewonnen werden kann. Mich interessiert, ob mit dem Zu-sich-selbst-Kommen ohne Gott die Religionslosigkeit charakterisiert werden kann, damit endlich theologisch zu entscheiden ist, was es damit auf sich hat. Diese Entscheidung umgeht der Vortrag jedoch.

Anknüpfend an Unterscheidungen, die unser Jubilar in Bezug auf das Verständnis von „Religionslosigkeit“ getroffen hat, wird nämlich zunächst die „Religion (!) ohne Gott“ als eine Option der Moderne stark gemacht. Zu ihr soll Friedrich Schleiermacher in seiner zweiten „Rede über die Religion“ den Anstoß gegeben haben (vgl. 11). Welche konkreten religiösen Vollzüge diese „Religion ohne Gott“ auszeichnen, wird wiederum nicht gesagt. Nach Lage der Dinge müssen wir hier heute aber sicherlich an die individualisierte „Bastelreligiosität“ denken, die Ingolf U. Dalferth auch „Cafeteria-Religion“ genannt hat („Was Gott ist, bestimme ich!“. Theologie im Zeitalter der „Cafeteria-Religion“, in: Gedeutete Gegenwart. Zur Wahrnehmung Gottes in den Erfahrungen der Zeit, Tübingen 1997, 10-35). Es dürfte jedoch mehr als zweifelhaft sein, dass Schleiermacher dergleichen religiöses Herumprobieren befördern wollte, als er die Religion des Gefühls dem Fürwahrhalten eines metaphysischen Begriffsgottes entgegen gesetzt hat.

Aber auch abgesehen davon weiß man nicht so recht, was auf dem Hintergrund einer Religionstheorie aus der „Teilnehmerperspektive“, die sich des Gottesgedankens bedient, von der bedeutungsvollen Betonung der „Religion ohne Gott“ zu halten ist, wenn es um die Beurteilung von „Religionslosigkeit“ geht. Denn diese „Religion ohne Gott“  bestätigt nur Karl Barths Urteil, dass Religion „geradezu die Angelegenheit des gottlosen Menschen“ sei und darum der theologischen Kritik unterzogen werden muss (vgl Vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik I/2, Zollikon-Zürich 1948, 327). Für das Verständnis von Religionslosigkeit ist damit aber eigentlich nichts gewonnen. Das gilt auch für die Feststellung, der Funktionsverlust von Religion in der modernen Gesellschaft führe zur „Autonomisierung der Religion“ in der Weise bloß „religiöser Kommunikation“ (12). Dort, wo weder an Gott geglaubt noch gebetet noch auf ein Eschaton gehofft wird, ist das aber offenkundig nicht der Fall.

Dem trägt der Vortrag auch Rechnung. „Ausfall von Transzendierung“ wird wiederum mit Matthias G. Petzold schlussendlich als „Kern des Phänomens der Religionslosigkeit“ bezeichnet (12), wobei das „Phänomen“ aber weder näher beschrieben noch einer analytischen Untersuchung ausgesetzt wird. Einen harten Kern hat es jedoch offenkundig nicht. Denn mit der Frage, ob sich die „Unbestimmtheit des eigenen Lebens wirklich sistieren“ lässt (ebd.), wird trotz der Anerkennung des Faktischen ein zweifelnder Spalt in diesen Kern getrieben, in dem die Frage nistet, ob es Religionslosigkeit „überhaupt gibt“.

         Demgegenüber ziehe ich es vor, zunächst einmal ernst zu nehmen, was Menschen meinen, wenn sie sagen, sie hätten „keine Religion“ und seien auch nicht „religiös“. Was dabei vor allem gewürdigt werden muss, deute ich hier nur in aller Kürze und unvollkommen an, da die Bestandsaufnahme in dieser Hinsicht ja Thema anderer Beiträge zu diesem Symposion ist. Als Äußerung aus dem ostdeutschen konfessionslosen Milieu, dem ca 80 % der Bevölkerung zuzurechnen sind, bedeutet jene Selbstbezeichnung zweifellos: Menschen glauben nicht an Gott und pflegen keine Beziehung zu Gott. Denn die Verneinung von Religion ist hier – auch wenn es religionsähnliches oder gar pseudoreligiöses Verhalten gibt – atheistisch grundiert.

Das bedeutet nicht, dass sie von einer argumentierenden Widerlegung des Gottesglaubens und der Absicht, über seine Verderblichkeit aufzuklären, getragen ist, wie das für die sogenannten „Neuen Atheisten“ aus der westlichen Welt charakteristisch ist. Das Leben ohne Gott und damit ohne die Kirche ist hier vielmehr durch Generationen hindurch zu einer selbstverständlichen Gewohnheit geworden und prägt so auch das Leben der heranwachsenden Generationen. Wie innerlich hohl die Jugendweihe nun auch immer ist: Eltern, die ihre Kinder dort massenweise hinschicken, geben zu erkennen, dass sie mit der „Religion“, für welche die Kirche und also der Gottesglaube gut stehen, nichts zu tun haben wollen. Alles Wissen um den Gottesglauben verflüchtigt sich bis auf Vorurteile und Ressentiments gegen ihn auf diese Weise fortlaufend. Ich rede deshalb lieber gar nicht mehr von „Atheismus“, sondern mit Schleiermachers etwas anders gewendetem Begriff von „Gottvergessenheit“, die so weit reichen kann, dass auch schon vergessen ist, dass man Gott vergessen hat.

         Die säkularistische Lebenseinstellung, die das zur Folge hat, ist auf den ersten Blick einfach. Sie beschränkt sich aufs Irdische. Menschen verstehen sich als zufälliges Produkt einer Naturgesetzlichkeit und versuchen ihr Leben so erfreulich und erträglich zu führen und zu gestalten, wie nur irgend möglich. Wenn es sich dem Ende zuneigt, möchten sie möglichst von Krankheiten verschont bleiben und schmerzfrei sterben. Natürlich gibt es auch viel Leid, Scheitern und Verzweiflung auf der einen Seite und viel Verdrängung der Lebensgrenzen auf der anderen. Aber das ist für Menschen, die nicht an Gott glauben, kein Anlass, sich der Religion des Gottesglaubens, wie sie die Kirche vertritt, zu öffnen oder sich auf irgendeine andere Weise einer Macht jenseits der Welt anzuvertrauen. Sie suchen Halt in dem, was ich oben mittlere, kleine oder ganz kleine Transzendenzen in der Immanenz nannte.

         Es besteht kein Grund für Theologie und Kirche, solche und ähnliche Lebenseinstellung – mit Dietrich Bonhoeffer geredet – aus apologetischen Gründen „madig“ zu machen, wie das z.B. auch im Verdikt des „Ausfalls von Transzendierung“ anklingen könnte (vgl. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, DBW 8, München 1998, 511.. Jeder mit Bewusstsein begabte Mensch transzendiert sich selbst in seiner empirischen Vorfindlichkeit. Er verdiente sonst gar nicht, Mensch zu heißen. Dass er sich, da er jenseits der Welt nur auf das Nichts trifft, wo ihn der „leere Raum anhaucht“, mit mittleren und kleinen Erhebungen über das Vorfindliche bescheidet, hebt – theologisch geurteilt – seine Weltoffenheit und damit seine Fähigkeit, sich vom Geheimnis der Wirklichkeit berühren zu lassen nicht auf. Das geschieht im zwischenmenschlichen Erleben ebenso wie bei ästhetischen Erfahrungen.

Auch trifft die häufig im kirchlichen und theologischen Raum zu hörende Behauptung, dass das Leben ohne Gott und ohne ausdrücklich auf ihn bezogene religiöse Akte zu einem Verfall der Moral führen müsse, nicht zu. Hans Joas z.B. sieht vielmehr die ethische Stabilität des nicht an Gott glaubenden Milieus einerseits im „Nachklang“ der Ethik des Christentums begründet (Hans Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg/Basel/Wien 2012, 50-56), die – füge ich hinzu – mit der Einprägung von Gemeinschaftswerten auch in der sozialistischen Sozialisation eine gewisse prägende Rolle spielte. Andererseits bleibt nach Joas auch in diesem Milieu die „soziale Reziprozität“ eine „Quelle der Moral“ (a.a.O., 59). Wir haben es hier – alle ethischen Verwerfungen, die sich auch anderswo finden, zugegeben – durchaus mit einem menschenverträglichen Ethos zu tun, das sich nicht gravierend von dem unterscheidet, welches wir in christlich dominierenden Lebenswelten antreffen.

         Was trägt der Vortrag, den ich etwas durchgemustert habe, nun zum Verstehen und zur theologischen Bewertung des hier nur in Umrissen dargestellten Phänomens der sogenannten „Religionslosigkeit“ bei? Was fangen die Kirche und vor allem die Gemeinden und die Christinnen und Christen, die in der Begegnung mit Menschen leben, die den Glauben an Gott für eine längst widerlegte Illusion halten, mit dem an, was hier zur Frage ausgeführt wird, ob es „Religionslosigkeit“ überhaupt gibt? Dass diese Frage bejaht wird, können sich alle, die mit nicht-glaubenden Menschen en masse zusammenleben- und wirken, selber sagen. Dazu bedarf es keiner Theologie.

Wenn die Theologie sich aber zu Worte meldet, dann muss ein Erkenntnisgewinn sichtbar werden. Er müsste die Kirche und die Gemeinden, die Christinnen und Christen in die Lage versetzen, den Glauben an Gott im religionslosen Milieu so darzustellen, zu artikulieren und zu leben, dass er die Gewohnheit des Nichtglaubens zu unterbrechen vermag. Das Umkreisen der Religionslosigkeit mit einem in allen Farben schillernden teils soziologisch, teils bewusstseinstheoretisch, teils offenbarungstheologisch, teils gottlos profilierten, teils das „Unbestimmte“ anzielenden Religionsverständnisses weicht dieser Herausforderung aus.

Das ist umso unverständlicher, als es ja im Anschluss an Dietrich Bonhoeffers fragmentarische Überlegungen zur theologischen Beurteilung der Religionslosigkeit eine seit dem Erscheinen von „Widerstand und Ergebung“ seit nahezu 50 Jahren andauernde breite Diskussion über die „Religionslosigkeit“ gibt. Sie gilt der Frage, wie Christinnen und Christen sich auf Menschen einlassen können, für die der Gottesglaube keine Bedeutung für ihr Leben hat. Der Vortrag ignoriert einfach diese weltweite Diskussion. Auch wenn man (wie ich) Bonhoeffers theologische Intentionen nur teilweise zu rezipieren vermag, bleibt sie bedeutungsvoll.  Sie forderte uns nicht nur in der DDR-Zeit, sondern sie fordert uns auch heute dazu heraus, das Zusammenstimmen und Zusammenleben mit Menschen zu suchen, die zu Christus gehören, auch wenn sie nicht an ihn glauben.

 „Religionslosigkeit – gibt’s das überhaupt“? – Das ist keine realitätsbezogene, sondern eine in Begriffswelten von Religion flügge werdende Frage, welche in Versuchung führt, die Phänomene der Religionslosigkeit zu umflattern, statt sich ihnen auszusetzen.


Nach oben