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< Gottes Hand und Führung. Dietrich Bonhoeffers Vertrauen auf Gottes Vorsehung in seinem Leben
07.12.2018 18:41 Alter: 5 yrs
Kategorie: Vorträge

Ein "aristokratischer Christ" und "visionärer Denker". Dietrich Bonhoeffer in der Wahrnehmung Karl Barths

Vortrag am 08.12.2018 bei einer Matinee im Dietrich-Bonhoeffer-Haus Berlin


1. Christologische Konzentration – persönliche Hochschätzung

Karl Barth war zweifellos der Theologe des 20. Jahrhunderts, der Dietrich Bonhoeffers eigenen theologischen und kirchlichen Weg am nachhaltigsten geprägt hat. Es ist m.E. noch immer nicht ganz klar, aus welchen Motiven sich schon der Student Bonhoeffer mitten in der Atmosphäre des Berliner theologischen Liberalismus der sogenannten „dialektischen Theologie“ zuwandte. Klar ist dagegen, dass sich Bonhoeffers Denken auf fast allen Stationen seines Lebens ohne den Hinter- und Vordergrund der Theologie Karl Barths gar nicht verstehen lässt.

Das bedeutet nicht, dass Bonhoeffer ein sogenannter „Barthianer“ gewesen ist, also ein Typ, der Barths Theologumena nur unkritisch übernimmt oder gar nachplappert. Was Bonhoeffer von Karl Barth aufgenommen hat, wird hier zugleich immer auch in etwas anderes verwandelt. Aber in der Grundsatzentscheidung, was christliche Theologie zu sein hat, passt zwischen Barths und Bonhoeffers Theologie eigentlich kein Blatt. Das war die christologische Konzentration der Theologie, die Barth mit seinem Anselm-Buch von 1931 und im ersten Band der „Kirchlichen Dogmatik“ von 1932 vollzogen hat.

Ich hatte „zu lernen“, beschreibt Barth selbst diese Konzentration, „daß die christliche Lehre ausschließlich und folgerichtig […], direkt oder indirekt Lehre von Jesus Christus als dem uns gesagten lebendigen Wort Gottes sein muß, um ihren Namen zu verdienen und um die christliche Kirche in der Welt zu erbauen, wie sie als christliche Kirche erbaut sein will“ (How my mind has changed, in: Karl Kupisch (Hg.), Der Götze wackelt. Zeitkritische Aufsätze, Reden und Briefe von 1930 bis 1960, Berlin 1964, 185).

Diese Grundsatzentscheidung hat Bonhoeffer ohne Wenn und Aber mitvollzogen. Wir finden in seinem Werk – bis auf einige Nebensächlichkeiten – auch nicht einen Pfad, der von anderswo her gebahnt wird als von Jesus Christus aus. Wir finden sie bei Bonhoeffer in der Zeit des Kirchenkampfes sogar noch radikaler als bei Barth selbst. Bonhoeffer war in dieser Zeit in der Bekennenden Kirche der kompromissloseste Anwalt der Barmer Theologischen Erklärung, die – im Wesentlichen von Karl Barth verfasst – die Kirche auf das „eine Wort Gottes“ verpflichtet, dem sie „im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen hat“. „Hinter Barmen und Dahlem können wir nicht […] mehr zurück […], weil wir hinter Gottes Wort nicht mehr zurück können“, konnte Bonhoeffer sagen (Zur Frage der Kirchengemeinschaft, in: Dietrich Bonhoeffer Werke [DBW] 14, Gütersloh 1996, 668). Das hätte Barth nicht sagen können, der zwischen einem kirchlichen Bekenntnis und dem Wort Gottes wohl zu unterscheiden wusste.

Zu diesem durchaus nicht unbedenklichen Bekenntnis zur Grundsatzentscheidung der Theologie Karl Barths kommt noch etwas anderes hinzu, was dann in einem besonderen persönlichen Verhältnis Bonhoeffers zu Karl Barth seinen Ausdruck fand. Bonhoeffer war von der Person Karl Barths und seiner Art, Theologie lebendig zu vermitteln, tief beeindruckt. Als er 1931 nach seinem Amerika-Aufenthalt für drei Wochen an Barths Lehrveranstaltungen in Bonn teilnahm und Barth ihn zur Societät und zum "offenen Abed" einlud, faszinierte ihn vor allem bei aller "Offenheit und Bereitschaft" Barths für jeden Einwand seine gleichzeitige "Konzentration" und das ungestüme  "Drängen auf die Sache". Bonhoeffer sagt: "Ich habe so etwas vorher nie gesehen und erlebt" (Brief vom 29.07.1931 an Erwin Sutz, DBW 11, 19).

Barth war für ihn von daher zweifellos eine Autorität, an dessen Urteil ihm sehr lag. Barth ist das, nachdem er die Bonhoeffer-Biographie von Eberhard Bethge gelesen hat, so richtig erst nachträglich bewusst geworden. Er habe sich bisher „nur für einen der ‚Bauern‘, nicht für einen ‚Läufer‘ oder gar für einen ‚Turm‘ auf seinem (sc. Bonhoeffers) Schachbrett gehalten“ (Brief an Eberhard Bethge vom 22.05.1967,  in: Karl Barth, Briefe 1961-1968, Karl Barth Gesamtausgabe V/6, Zürich 1975, 404). Doch aus Bonhoeffers Briefverkehr mit Barth geht diese Hochschätzung des Schweizer Theologen zweifellos hervor. Er hat Barth im Jahre 1932 auch auf dem „Bergli“, dem Schweizer Wochenendhaus Barths, besucht und sich für sein Bleiben in Bonn eingesetzt.

Am Eindrücklichsten aber ist das große Vertrauen, das er Barth schenkte, als er 1941/42 dreimal in Schweiz weilte. In seiner Doppelfunktion als Agent der militärischen Abwehr der deutschen Wehrmacht einerseits und als Abgesandter des deutschen Widerstandes andererseits, der das Ausland über diesen Widerstand informieren sollte, hat er Barth nicht nur als Gewährsmann bei der Schweizer Grenzpolizei angegeben. Er hat Barth wohl auch ziemlich präzise über das geplante Attentat auf Hitler und was danach geschehen sollte, unterrichtet. Doch nicht nur das: Er hat jede freie Stunde genutzt, um die Druckfahnen der „Kirchlichen Dogmatik“ II/2 lesen. Das ist die Lehre von der Erwählung aller Menschen zu Partnerinnen und Partnern des in Jesus Christus gnädigen Gottes.

Doch dieses große Vertrauen und Zutrauen zu einem Menschen, das darin begründet war, die Theologie auch existenziell und persönlich ernst zu nehmen, für die Barth gut stand, war beileibe nicht einseitig. Barth hat den Menschen Bonhoeffer mit seinen großen Gaben von Anfang an außerordentlich geschätzt. Er ist ihm in Erinnerung geblieben als ein "offener und reicher und zugleich tiefer und erschütterter Mensch", als ein "aristokratischer Christ" und "impulsiver, visionärer Denker" (Brief an Walter Herrenbrück vom 22.12.1952, in: Karl Barth, Offene Briefe 1945-1968, Karl Barth Gesamtausgabe V/15, Zürich 1984, 324).  Wo Bonhoeffer sich an ihn wandte, hat er sofort reagiert. Auch als er sich im Gefängnis nicht mehr direkt an ihn wenden konnte, hat er ihm als Zeichen seiner Verbundenheit eine Schweizer Zigarre in das Gefängnis schmuggeln lassen. 

Aber nun gerade aus diesem Gefängnis hat Bonhoeffer Briefe an seinen Freund Eberhard Bethge geschrieben, in denen Barths Theologie einer harschen Kritik unterzogen wird, welche durch die Veröffentlichung dieser Briefe weite Verbreitung fand. Barth hätte, schreibt Bonhoeffer da, angesichts der "Religionslosigkeit", die sich einer durch die Wissenschaft "mündig" gewordenen Welt verdanke, keine "konkrete Wegweisung gegeben", wie dieser Welt durch die Kirche zu begegnen sei (vgl. DBW 8, 481). Barths "ganz großes Verdienst" sei es zwar, als "erster Theologe [...] die Kritik der Religion begonnen" zu haben. Aber er habe dann "an ihre Stelle eine positivistische Offenbarungslehre gesetzt, wo es dann heißt 'Friß Vogel oder stirb'; ob es nun Jungfrauengeburt, Trinität oder was immer ist (DBW 8, 415). Demgegenüber fragte Bonhoeffer danach, "wie Christus der Herr auch der Religionslosen werden" kann und ob es eine "religionsloses Christentum" geben könne (DBW 8, 404).

Bonhoeffers Überlegungen dazu haben bekanntlich eine jahrzehntelange Diskussion darüber ausgelöst, ob es ein „religionsloses Christentum“ geben könne und wie die „Kirche für andere“ im „Teilnehmen am Leiden Gottes“ in der Welt zu realisieren sei. Diese Diskussion ist heute im Großen und Ganzen zum Erliegen gekommen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Bonhoeffers Prognose, wir gingen einer „völlig religionslosen Zeit“ entgegen (DBW 8, 403), von vielen für irrig gehalten wird. Barth selbst aber hat der Vorwurf des „Offenbarungspositivismus“ ziemlich irritiert und sogar ein wenig gekränkt.

Er sei „ein bißchen errötet bei der Vorstellung, daß es immerhin möglich war, daß sich das Erinnerungsbild an meine Bücher […] bei einem so gescheiten und wohlmeinendem Mann wie Bonhoeffer so gestalten konnte“ (Brief an Herrenbrück, 326). Wann und wo hätte er wohl „einem Vogel geboten […], die Jungfrauengeburt zu ‚fressen‘ oder zu ‚sterben‘“, hat er indigniert gefragt (a.a.O., 325). Er hat auch bezweifelt, ob Bonhoeffer, wenn er überlebt hätte, seine Überlegungen so veröffentlicht hätte, wie sie in den Gefängnisbriefen begegnen.

 

2. Theologische Existenz kirchlich und politisch

Dieser unbefriedigende Ausgang der Beziehung zwischen Barth und Bonhoeffer, der durch beide selbst nicht mehr geklärt werden konnte, hat nicht wenig dazu beigetragen, ein schiefes Bild von dieser Beziehung entstehen zu lassen. In ihm wird der abstrakte „Dogmatiker“ Barth dem um Konkretion des Glaubens im Leben und in der Gesellschaft bemühten Bonhoeffer entgegengestellt. Damit endet diese Beziehung in einer Sackgasse. Aus ihr kann man eigentlich nur herausfinden, wenn man das Gespräch zwischen Barth und Bonhoeffer selbst fortsetzt, statt es in einem unfruchtbaren Gegensatz zwischen diesen beiden einzufrieren.

Zuerst muss dieser frostigen Blockade damit widersprochen werden, dass es sich nicht hier um einen Gegensatz von abstrakter Theologie auf der einen und konkreter, lebensnaher Theologie auf der anderen Seite handelt. Niemand hat sich so für die konkreten Konsequenzen seiner Theologie im kirchlichen sowie im politischen und gesellschaftlichen Bereich engagiert wie Karl Barth. Sein Engagement im Kirchenkampf, sein Widerstand gegen die Naziherrschaft, seine Positionierungen im „Kalten Krieg“ der 50er und 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts belegen das. Theologische Existenz bedeutete für Barth: persönlicher Einsatz für die praktischen Konsequenzen theologischer Einsicht in Kirche und Gesellschaft. In diesen Zusammenhang gehört auch sein persönliches Engagement für den Theologen Dietrich Bonhoeffer. Ich nenne dafür auswahlweise zwei Beispiele, eines aus dem kirchlichen und ein anderes aus dem politischen Engagement beider Theologen:

Zum Einen: Bonhoeffer hatte sich Ende 1933 aus Enttäuschung über die lasche Haltung der sich formierenden Bekennenden Kirche gegenüber der Ausbreitung der „Deutschen Christen“ in der Kirche und der Verwässerung des Betheler Bekenntnisses im Hinblick auf die kirchliche Solidarität mit den Juden aus dem Kirchenkampf vor Ort zurück gezogen. Er übernahm ein Auslandspfarramt in London. 6 Wochen nach dem Antritt dieses Pfarramtes hat er an Karl Barth geschrieben, warum er sich „in die Stille […] begeben“ habe, aber zugleich seine Sorge geäußert, er sei damit Karl Barth „persönlich untreu geworden“ (DBW 13, 14).

Barth ihm daraufhin am 19.11.1933 einen Brief geschrieben, in dem er beinahe so etwas wie väterliche Autorität in Anspruch nimmt, die sich überhaupt nur aus dem Vertrauensverhältnis zwischen beiden erklären lässt. Er hat Bonhoeffer aufgefordert,

„schleunigst zurück auf Ihren Berliner Posten“ zu kehren. Er schreibt: „Was heißt ‚Abseitsgehen‘, ‚Stille des Pfarramts‘ in einem Augenblick, wo Sie in Deutschland einfach gefordert sind? […] Sollten Sie mit Ihrem schönen theologischen Rüstzeug und noch dazu eine Germanengestalt wie Sie, sich nicht fast ein wenig genieren vor einem Mann wie Heinz (Heinrich!) Vogel, der verhutzelt und aufgeregt wie er ist, einfach immer wieder da ist […]? Man darf jetzt nicht müde werden. Und so darf man jetzt noch weniger nach England gehen. Was in aller Welt wollen und sollen Sie dort drüben? Sie müßten jetzt [...] nur das Eine bedenken, daß Sie ein Deutscher sind, daß das Haus Ihrer Kirche brennt, daß Sie genug wissen und was Sie wissen, gut genug zu sagen wissen, um zur Hilfe befähigt zu sein und daß Sie im Grunde mit dem nächsten Schiff auf Ihren Posten zurückkehren müßten: Nun sagen wir: mit dem übernächsten“ (DBW 13, 31-33).                      

Barth hat sich später Vorwürfe gemacht, dass er Bonhoeffer damit an einen Ort zurück gerufen und auf einen Weg gebracht hat, der mit der Hinrichtung in Flossenbürg endete. Das war jedoch wohl übersensibel. Denn wirklich hatte sich Bonhoeffer ja nicht aus den deutschen kirchlichen Verhältnissen zurückgezogen. Sein Aufenthalt in London ist – nicht zuletzt durch seinem Einsatz für die Bekennende Kirche in der Ökumene – vollständig geprägt von der Anteilnahme am deutschen Kirchenkampf. Doch worauf es mir hier ankommt, ist etwas anderes: Ein abstrakter Theologe auf der einen und ein konkreter auf der anderen: Auf diese Summe kann das Verhältnis von Barth und Bonhoeffer unmöglich bringen. Da ist vielmehr ein auf konkrete, persönliche Bewährung der Theologie drängender Mensch auf der einen Seite und ein anderer, der damit übereinstimmt, so dass er nach Deutschland zurückkehrt.

            „Der Stachel hat damals […] gesessen“, schreibt Bonhoeffer am 19.09.1936 aus Finkenwalde an Karl Barth. „Ich glaube, es war wirklich das übernächste Schiff, mit dem ich kam“ (DBW 14, 235). Und er fügt hinzu, „die ganze Zeit“ danach sei „eine andauernde stillschweigende Auseinandersetzung“ mit Karl Barth gewesen (ebd.). Dabei ging es darum, ob es wohl richtig sei, die „jungen Theologen“, für die Bonhoeffer in Finkenwalde verantwortlich war, „in einem Leben, das durch morgendliche und abendliche Sammlung um das Wort, durch feste Gebetszeit bestimmt ist“, auf ihren Dienst in der Kirche vorzubereiten (DBW 14, 237.). Barth, der von frommen Ritualisierungen überhaupt nicht viel hielt, hat sich dazu ziemlich skeptisch geäußert. Ihm gefiel die grundsätzliche Unterscheidung zwischen „theologischer Arbeit und erbaulicher Betrachtung“ ebenso wenig wie „der schwer zu definierende Geruch eines klösterlichen Eros und Pathos“ (Brief vom 13.10.1936, DBW 14, 252f.).  Dass es ihm wie Bonhoeffer aber um das Konkretwerden der theologischen Orientierung am Worte Gottes, das Jesus Christus heißt, im Leben der Kirche ging, duldet überhaupt keinen Zweifel. Barth ist Bonhoeffer und Bonhoeffer ist Barth in dem gemeinsamen Anliegen verbunden gewesen, für diese Orientierung im Leben der christlichen Gemeinde mit ihrer Person konkret einzutreten.

            Das andere Beispiel für das Drängen auf Konkretion der theologischen Orientierung an Gottes Wort führt in den Bereich der politischen Konsequenzen dieser Orientierung in der damaligen Zeit. Bonhoeffer hatte für sich entschieden, das Wagnis der Teilnahme an der militärischen Verschwörung gegen Hitler einzugehen. Barth war dagegen der Überzeugung, dass nur die Alliierten der Naziherrschaft ein wirkliches Ende bereiten könnten. Wie er Bonhoeffers Informationen über den geplanten Militärpusch beurteilt hat, geht aus einer Passage der „Kirchlichen Dogmatik“ III/4 hervor, also der Ethik der Schöpfungslehre, in der sich Barth dem Problem des „Tyrannenmordes“ zugewendet hat, zu dem er das geplante Attentat auf Hitler rechnete. Bonhoeffers Auftrag durch den deutschen Widerstand war bekanntlich, zu  erkunden, wie sich die Alliierten im Falle des Gelingens des Putsches verhalten würden. Barth schreibt dazu:

„Der lutherische Theologe Dietrich Bonhoeffer hat zu diesen Kreisen gehört“, die das Attentat auf Hitler planten. Er war auf Grund seines Verständnisses des Evangeliums eigentlich Pazifist. Es steht aber fest, daß er diese Frage (sc. den Tyrann Hitler zu töten) jedenfalls auch nicht negativ beantwortet hat.“ (KD III/4, 513).  

Was Barth dann aber zur Durchführung dieses Attentats weiter sagt, klingt einigermaßen merkwürdig. Er sagt: „Das Attentat scheiterte schlicht daran, daß niemand es ausführen wollte, ohne das Nachher zu erleben, das heißt aber niemand unter rücksichtslosem Einsatz seines eigenen Lebens“. Er hat daraus geschlussfolgert, dass „ein klarer, kategorischer Befehl Gottes zu jener Tat […] nicht“ vorlag. Doch dann räumt er ein, dass es – mit Thomas von Aquin geredet –  ad liberationem patriae tyrannum occidere (für die Befreiung des Vaterlandes einen Tyrannen zu töten), „doch wohl gebotener Gehorsam sein“ konnte (ebd.).

Als Kommentar dazu darf man wohl das Tagebuch heran ziehen, welches Barths letzter Assistent, Eberhard Busch, über sein Zusammensein mit Barth in seinen letzten Lebensjahren geführt hat und in dem er davon berichtet, dass Barth mehrmals und immer wieder auf Dietrich Bonhoeffer und so auch auf seine Beteiligung am Widerstand gegen Hitler  zu sprechen gekommen ist. Busch berichtet, dass Barth darüber entsetzt war, „wie unprofessionell dieser Putsch eingefädelt wurde“ und dass ihm nach den Mitteilungen von Bonhoeffer unklar war, wie im Falle seines Gelingens danach das „Verhältnis zu den gegen Deutschland kämpfenden und […] leidenden Nationen zu gestalten sei. Ja, Bonhoeffer habe gemeint, die deutschen Armeen sollten die eroberten Territorien ruhig behalten“ (Eberhard Busch, Meine Zeit mit Karl Barth, Tagebuch 1965-1968, Göttingen 2011, 13).

Ob das nun stimmt, kann ich nicht beurteilen. Vielleicht gehört es in den Zusammenhang von Bonhoeffers Gedanken zu William Patons Schrift „The Church and the new order in Europe“ von 1941. Von der letzten Seite des Bonhoefferschen Manuskripts ist leider nur ein Teilstück erhalten geblieben, in dem Bonhoeffer vor der Gefahr des „Panslawismus“ im Falle des Sieges der russischen Truppen warnt (DBW 16, 541). Der Generalsekretär des ökumenischen Rates der Kirchen Visser’t Hooft hat das unter der Überschrift „The Russian Problem“ so aufgenommen, dass (ich zitiere die Übersetzung) der „Bolschwismus“ nach Ende des Krieges zu einer „gewaltigen Bedrohung aller Länder werden“ könne, die der Nazi-Diktatur vergleichbar sei (DBW 16, 808).

Man kann nur vermuten, dass Bonhoeffer und Barth, als sie in seinem Arbeitszimmer zusammen gesessen haben, über das alles redeten. Ein abstrakter Theologe auf der einen und ein konkreter auf der anderen aber haben sich da auch ganz bestimmt nicht gegenüber gesessen. Da war der Schweizer, der als eine „Schweizer Stimme“ die Christenheit in ganz Europa unermüdlich dazu aufgerufen hat, der militärischen Ausbreitung des Naziregimes Widerstand zu leisten. Und da war der Theologe aus Deutschland, der es unter großer Gefährdung seines Lebens vor Ort gewagt hat, dieses Leben gegen die Schreckensherrschaft der Nazis einzusetzen. Zwei Theologen saßen sich da also gegenüber, die sich beraten haben, was in einer dramatischen Situation das für die Christenheit gebotene Handeln ist. Mögen sie auch unterschiedlicher Meinung gewesen sein, abstrakte und konkrete Theologie haben sich in Gestalt dieser beiden Theologen hier bestimmt nicht getroffen.

Weil Barth das bewusst war, hat er auch nachdem sein Verhältnis zu Bonhoeffer durch dessen Kritik an ihm in den Gefängnisbriefen für die Nachwelt in ein schiefes Licht geraten war, nicht aufgehört, beim Entfalten seiner theologischen Einsichten auf Dietrich Bonhoeffer zu hören.

     

3. Dietrich Bonhoeffer in der „Kirchlichen Dogmatik“

Karl Barth hat fast alles zur Kenntnis genommen, was Bonhoeffer selbst veröffentlicht hat oder was von Eberhard Bethge posthum herausgegeben wurde. Dass er dem, was Bonhoeffer theologisch zu sagen hatte, intensive Aufmerksamkeit geschenkt hat und sich davon beim Verfassen seiner „Kirchlichen Dogmatik“ bewegen und inspirieren ließ, ist offenkundig. Bonhoeffer war für ihn ein Theologe, der für die Zukunft der Kirche gut stand und der bei seiner eigenen Rechenschaft über den Auftrag der christlichen Kirche auf keinen Fall überhört werden durfte. Ich belege das in aller Kürze, indem ich an den Bezugnahmen Barths auf Bonhoeffer in der „Kirchlichen Dogmatik“ in der zeitlichen Reihenfolge entlang gehe, in der Bonhoeffers Schriften zu Lebzeiten und nach seinem Tode veröffentlicht wurden. 

3.1. Sanctorum communio

In der Ekklesiologie der „Kirchlichen Dogmatik“ IV/2, die von der Erhöhung Jesu Christi zu wahrer Menschlichkeit ihren Duktus der Erbauung und damit auch des „Wachstums“ der christlichen Gemeinde erhält, hat Barth in höchsten Tönen des Lobes von Bonhoeffers Dissertation „sanctorum communio“ geredet. Es heißt dort mit einem Seitenhieb auf Bonhoeffers Doktorvater:

„Wenn es eine Rechtfertigung Reinhold Seebergs gibt, dann mag sie darin bestehen, daß aus seiner Schule nun auch dieser Mann (Dietrich Bonhoeffer) und diese Dissertation hervorgehen konnte, die mit ihrer weiten und tiefen Sicht nicht nur im Rückblick auf die damalige Lage tiefsten Respekt erregt, sondern heute noch instruktiver, anregender, erleuchtender, wirklich ‚erbaulicher‘ zu lesen ist, als allerlei Berühmteres, was seither zum Problem der Kirche geschrieben wurde. […] Ich gestehe offen, daß es mir selbst Sorge macht, die von Bonhoeffer damals erreichte Höhe wenigstens zu halten […] und in meiner Sprache nicht weniger zu sagen […] als es dieser junge Mann damals getan hat“ (KD IV/3, 725). 

Wir können hier nicht im Einzelnen verfolgen, wo Einsichten aus Bonhoeffers „sanctorum communio“ in Barths Ekklesiologie deutlich bemerkbar sind. Es muss hier genügen, auf den ekklesiologischen Leitsatz des § 67 der KD hinzuweisen, in dem Barth Bonhoeffers zentrale Formulierung von „Christus als Gemeinde existierend“ in der Weise aufnimmt, dass er den Leib Christi, welcher die Gemeinde kraft des Wirkens des Heiligen Geistes ist, als Christi „eigene irdisch-geschichtliche Existenzform“ versteht (KD IV/2, 695). 

3. 2. Nachfolge

Auf Bonhoeffers Habilitation „Akt und Sein“ ist Barth in der „Kirchlichen Dogmatik“ nicht eingegangen. Nur wo er sich mit dem Vorwurf des „Aktualismus“ seiner Theologie seiner Theologie auseinandergesetzt hat, kommt er gelegentlich auf die Verhältnisbestimmung von Akt und Sein Gottes zu sprechen (vgl. z.B. Karl Barth, Gespräche 1964-1968, Karl Barth Gesamtausgabe IV/28, Zürich 1997, 286f.). Dagegen hat er in seiner Lehre von der Heiligung des Menschen in einer extensiven Weise von Bonhoeffers Buch  „Nachfolge“ Gebrauch gemacht. Er sagt zu Beginn des Kapitels „Der Ruf in die Nachfolge“:

„Mit Abstand das Beste, was dazu geschrieben ist, scheint mir in dem Buch „Nachfolge“ von Dietrich Bonhoeffer vorzuliegen: nicht in allen […], wohl aber in den gleich am Anfang erscheinenden Abschnitten: „Der Ruf in die ‚Nachfolge‘, ‚Der einfältige Gehorsam‘ und ‚Die Nachfolge und der Einzelne‘, in denen die Sache so tief angefaßt und so präzis behandelt ist, daß ich wohl versucht sein könnte, sie hier einfach als großes Zitat einzurücken, weil ich wirklich nicht der Meinung bin, etwas Besseres dazu sagen zu können, als da gesagt ist: von einem Mann, der die Nachfolge […] auch persönlich und mit der Tat bis zum Ende wahrmachen wollte und in seiner Weise wahrgemacht hat“ (KD IV/2, 604). 

Man kann es sich nicht anders vorstellen, als dass Barth Bonhoeffers Buch neben sich zu liegen hatte, als er selbst sein Verständnis der „Nachfolge“ entfaltete. Verweise auf Bonhoeffer begegnen darum in Barths Lehre von der Heiligung immer wieder. Besonders wichtig war ihm die Zusammengehörigkeit von Glaube und Gehorsam, nämlich einem frei vollzogenen Gehorsam in konkreter Tat. „Bonhoeffer hat zehnmal recht“, wenn er diesen Zusammenhang „scharf gemacht hat“, pflichtet Barth ihm bei (KD IV/2, 612).  Er lobt ihn ausdrücklich dafür, dass er den „einfältigen Gehorsam“ als Nachfolge vom Kreuz Jesu Christi her in der Perspektive der Hoffnung auf Gottes Reich verstanden hat (vgl. KD IV/2, 677). Bonhoeffers Unterscheidung zwischen der „teuren“ und der „billigen Gnade“ ist regelrecht in Barths eigene theologische Sprache eingegangen und wird nicht nur hier verwendet, sondern taucht in der „Kirchlichen Dogmatik“ und anderswo in Texten Barths immer wieder auf (vgl. z.B. KD IV/1, 74; KD IV/2, 571; 626). Dass wir es hier – wie bei sanctorum communio – mit einem engen Zusammenstimmen des theologischen Denkens Barths und Bonhoeffers zu tun haben, duldet also gar keinen Zweifel. 

3. 3. Schöpfung und Fall

Barth hat seine Schöpfungslehre ja bekanntlich nicht so entfaltet, dass er in einen Dialog mit den Naturwissenschaften eingetreten ist, um in der Auseinandersetzung mit ihnen und im Einverständnis mit ihnen darzulegen, dass die Welt als Gottes Schöpfung und die Menschen als Gottes Geschöpfe zu verstehen sind. Er hat vielmehr versucht, die Wahrheit über die Geschöpflichkeit der Welt und der Menschheit den biblischen Texten abzulauschen, die diese Wahrheit in Form von Mythen und Legenden zum Ausdruck zu bringen.

Ich will jetzt nicht diskutieren, ob das wohl getan war. Dass Barth sich bei diesem Vorgehen mit Dietrich Bonhoeffer völlig einig wusste, geht aus seinen Exegesen der Schöpfungsgeschichten aber klar hervor, bei denen er sich mit der Auslegung von Genesis 1-3 durch Dietrich Bonhoeffer in seinem Büchlein „Schöpfung und Fall“ auseinander gesetzt hat. Besonders im Blick auf das Verständnis des Menschen als Gottes Ebenbild hat er Bonhoeffers Auslegung von Genesis 1, 26f. gegenüber anderen Auslegungen einen „Fortschritt in die Textnähe“ bescheinigt. Er besteht darin, dass Bonhoeffer das gottebenbildliche Menschsein strukturell als „Gegenüber-, Miteinander-, Aufeinanderangewiesensein“ des Menschen als Mann und Frau verstanden hat (KD III/1, 219).  Zwar kritisiert Barth, dass bei Bonhoeffer nicht richtig klar werde, inwiefern das Menschsein in dieser Weise strukturell eine Analogie zu Gottes Sein darstellt, der sich selbst ein Gegenüber ist. Doch da wäre von Bonhoeffer her eher zu fragen, ob es geraten ist, das trinitarische Gottesverständnis hier einzutragen, das Barth im Selbstgespräch Gottes „lasst uns (!) Menschen machen“ anklingen sieht (vgl. KD III/1, 220).  Doch wie dem auch sei: Für die „Förderung“ dieses Verständnisses der Gottebenbildlichkeit des Menschen im Sinne einer analogia proportionalitatis (einer Entsprechung von Verhältnissen), in denen Gottes Sein und das Sein von Menschen sich „ähnlich“ sind, hat Barth Bonhoeffer nachdrücklich Anerkennung gezollt (KD III/1, 218). 

3. 4. Die „Ethik“

Auf die Passage in  Barths Ethik der Schöpfungslehre, in der er auf Bonhoeffers Beteiligung am „Tyrannenmord“ eingeht, haben wir schon Bezug genommen. Doch das war nicht nur ein zufälliger Blick Barths in die Ethikfragmente, die Eberhard Bethge zu einem Buch zusammengestellt hat. Gleich auf zweiten Seite von KD III/4 wird vielmehr „freudig anerkannt“, dass der Zusammenhang von Dogmatik und Ethik, für den Barth eingetreten ist, auch der „geistvollen Ethik von Dietrich Bonhoeffer […] nachzurühmen ist“ (KD III/4, 2) Zwei lange Zitate aus Bonhoeffers Ethik heben hervor, dass christliche Ethik in Gottes konkretem Gebot begründet sein muss und nicht in irgendeiner allgemeinen ethischen Theorie (vgl. KD III/4, 9; 14f.). Bonhoeffers Ethik gehört darum schon einleitend zu denjenigen ethischen Konzeptionen, auf die Barth bei seiner eigenen Entfaltung der Ethik der Schöpfungslehre intensiv gehört hat.

Allerdings ist dieses Hören auch mit kritischen Fragen verbunden, insbesondere was Bonhoeffers Lehre von den „Mandaten Jesu Christi“ betrifft. Bonhoeffer hat diese Mandate ja so verstanden, dass Christus mit ihnen die menschliche Gesellschaft „gliedert“. Er erteilt „Aufträge“ an irdische Personen in Kirche, Staat, Ehe, Familie, Wirtschaft und Kultur.  Diese Personen stattet er als seine „Stellvertreter“ mit göttlicher Autorität aus, so dass die Mandate ein „klares Oben und Unten“ der Ausübung von Herrschaft im Raum der Gesellschaft begründen. Ich selbst gehöre zu den entschiedenen Kritikern dieser Lehre. Sie führt zu einem undemokratischen Staatsverständnis, im Raum der Kirche zu einer Marginalisierung des „Priestertums aller Gläubigen“ zugunsten der Autorität des „Amtsträgers“ und im Raum von Ehe und Familie zur Befestigung der Autorität des Mannes.

Karl Barth war da mit seiner Kritik viel vorsichtiger, obwohl er bei Bonhoeffers Lehre von den Mandaten, wie er sagt, „einen kleinen Geschmack von norddeutschem Patriarchalismus nicht ganz“ losgeworden ist (KD III/4, 23). Er hat diese Lehre dennoch „weiterführend“ genannt, weil sie entgegen der traditionellen Lehre von den „Schöpfungsordnungen“ irdische Ober- und Unterordnungsverhältnisse nicht schon an sich als Gottes Gebot versteht. Die Mandate „leuchten nicht aus Wirklichkeit heraus, sondern in sie hinein“, lobt Barth (KD III/4, 22). Aber dann fragt er unter anderem weiter, warum Unterordnung und nicht „Freiheit auch der untersten […] Personen“ das Charakteristische der Mandate Christi sein soll. Er stellt in Frage, ob es überhaupt neben dem einen Gebot Jesu Christi, das allen Verhältnissen gilt, in denen Menschen immer schon sind und leben, noch besondere Imperative Jesu Christi geben muss (vgl. KD III/4, 23).

Weil ihm das nicht einleuchtete, hat Barth von Bonhoeffers Mandatenlehre keinen Gebrauch gemacht. Das bedeutet aber nicht, dass er die Ethik-Fragmente Bonhoeffers damit zur Seite gelegt hat. Sie tauchen in KD III/4 immer wieder auf. Von Bonhoeffers ethisch-theologischem Eingehen auf das Problem des „Selbstmords“ sagt Barth zum Beispiel, es sei das „Umsichtigste, was zu der Sache geschrieben ist“ (KD III/4, 460). Er nimmt positiv Bezug auf Bonhoeffers Verständnis des Berufs als „Ort der Verantwortung“ (vgl. KD III/4, 687). Obwohl er – meines Erachtens zu Unrecht – auch beklagt, dass bei Bonhoeffer der Gesichtspunkt der „Ehre“ der Menschen „nicht erwogen“ ist (KD III/4, 751), tut das Barths respektvoller Würdigung der Ethik-Fragmente Bonhoeffers keinen Abbruch. Im Grundsatz, dass christliche Ethik sich von Gottes Gebot in Jesus Christus leiten lassen muss, stimmte er mit Bonhoeffer völlig zusammen.

Im Fragment der Ethik der Versöhnungslehre (KD IV/4), in dem Barth seine Tauflehre entfaltet hat, ist das Taufgutachten Bonhoeffers aus dem Jahre 1942 (DBW 16, 563-587) nicht beachtet worden. Aber dem aus dem Nachlass Barths herausgegebenen Fragment der Auslegung des Vaterunsers, die als Mittelstück dieser Ethik gedacht war, aber ist Barth mehrfach – auch ohne die Nennung seines Namens – auf Bonhoeffers Überlegungen zu einem „religionslosen Christentum“ in einer „mündigen Welt“ eingegangen. Was er da und auch in anderen Zusammenhängen sagt, kann für uns heute, wenn wir denn das Gespräch zwischen Barth und Bonhoeffer so fortsetzen möchten, dass es zum Schaden unserer Kirche nicht in einer Sackgasse enden soll, Ermutigung sein, es selbst fortzuführen und wegzuräumen, was dem im Wege steht.

 

4. Solidarität mit den „religionslosen“ Menschen

Dass es nicht einfach, ja vielleicht unmöglich ist, hinreichend zu verstehen, worauf Bonhoeffer mit seiner Frage nach einem „religionslosen Christentum“ eigentlich hinaus wollte, duldet keinen Zweifel. Das Vorhaben, einer „religionslosen Interpretation biblischer Begriffe“ hat er nicht durchgeführt. Kein einziger dieser Begriffe ist von ihm „religionslos“ interpretiert worden. Seine Kreuzestheologie, nach Gott sich aus der Welt heraus drängen lässt und gerade so bei uns ist, scheint darauf hinaus zu laufen, dass die Kirche sich ins Arkanum zurück zieht und ihren missionarischen Auftrag aufgibt. „Religionslos“ leben Christinnen und Christen mitten unter anderen Menschen dann so, indem sie, wie Jesus, als „Mensch für Andere“ „ethisch“ für ihre Mitmenschen eintreten. Die Transzendenz Gottes wird horizontal zur Transzendenz des Mitmenschen umgelegt.

In den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte sich die sog. „Gott-ist-Tod-Theologie“ dieses Gedankens bemächtigt und zum Beispiel – wie Barth grimmig gesagt hat – mit der „Plattfußtheologie“ des Bischofs Robinson in seinem Buche „honest to God“ „einfach alle Grenzen […] zwischen der Kirche und der Welt“ aufgehoben (Karl Barth, Gespräche 1963, in: Karl Barth Gesamtausgabe IV/41, Zürich 2005, 281). Man kann es Barth im Grunde nicht verdenken, dass er Bonhoeffer, wie er ihn kannte, in dieser Plattfußtheologie nicht wiedererkannte. Er hat darum versucht, sich Bonhoeffers eigentliche Absicht auf der Linie der paulinischen Ermahnungen, dass Christen sich mit den Fröhlichen freuen und mit den Weinanden weinen sollen (Röm 12, 15), aber auch „allen alles“ zu werden (1. Kor 3, 21f.),  klarzumachen. Christinnen und Christen existieren dementsprechend in Solidarität mit denen, die außerhalb der Kirche ihr Leben führen und in deren Leben Gott und Glaube keine Rolle spielen. Darum kann es so etwas geben wie eine „christliche Weltlichkeit oder weltliche Christlichkeit“. Das bedeutet, dass sich der Christenmensch unter den „Weltkindern“

„ihrer Haltung und Sprache, ja wo möglich schon ihrer Denkweise tunlichst nähert und angleicht, ihre Bestrebungen tunlichst mitmacht, um ihnen damit in seiner Person die Tatsache der Liebe Gottes vor Augen zu stellen, sie so zu deren Erkenntnis zu führen oder mindestens anzuleiten“ (Das christliche Leben, 338).  

 Barth war sich unsicher, ob Bonhoeffer es „unter den außerordentlichen Eindrücken und Erfahrungen (sc. des Gefängnisses) wirklich so meinte“ (a.a.O., 339). Im Grunde passt es doch aber zu Bonhoeffers Ausgangsfrage, nämlich „wie Christus auch der Herr der Religionslosen werden“ kann (DBW 8, 404). Von alleine werden sie es nicht. Es bedarf der Begegnung mit Menschen, die sich als Zeugen Jesu Christi verstehen. Es bedarf – wie Bonhoeffer ganz richtig gesehen – des Vorbildes einer menschlichen Lebensführung, die der Menschlichkeit Jesu entspringt (vgl. DBW 8, 50f.). Es klingt fast wie eine Charakterisierung des Menschen Bonhoeffer selbst, wenn Barth sagen kann:

Der Christ wir sich „darin am auffallendsten [...] als Eiferer um die Ehre Gottes, darin am bemerkenswertesten als Zeuge dessen sich darstellen, was er (selber ein Weltmensch mit anderen seiner Art) zu vertreten hat, dass er ihnen das Bild eines seltsam menschlichen Menschen bietet“ (346).   

Was aber Bonhoeffers Frage betrifft, ob es ein „religionsloses Christentum“ geben kann, so hängt ihre Beantwortung daran, was man unter „Religion“ versteht. Barth und Bonhoeffer waren sich einig, das „Religion“ eine menschliche Verhaltensweise ist, in der Menschen ihrer Beziehung zu Gott, aber auch zu allerhand sehr weltlichen Gottes-Surrogaten Ausdruck geben. Sie waren sich auch einig, dass Religion theologisch der Kritik unterliegen muss, wenn Menschen sich mit solchem Verhalten Gottes zu bemächtigen trachten oder Pseudogötter verehren. Barth hat aber bestritten, dass der christliche Glaube ohne solche Verhaltensweisen, in denen Menschen ihre Beziehung zum unverfügbaren Gott mit Reden, Beten, Singen, Riten, Frömmigkeit usw. und also mit „religiösen“ Verhaltensweisen gestalten, überhaupt lebensfähig ist.

Er hat andererseits in Frage gestellt, ob die „Religionslosigkeit“, die Bonhoeffer beschrieben hat und die wir heute bei Menschen erleben, denen der Gottesglaube völlig gleichgültig ist, sich der „Mündigkeit“ von Menschen verdankt. Was gerade die wissenschaftlich-technische Welt mit ihren Möglichkeiten und nicht zuletzt mit ihren Waffen an Unheil anrichtet, war für ihn alles andere als ein Ausdruck von „Mündigkeit“. „Man geht zum Mond und hinter den Mond, doch das ändert nicht viel an unserer menschlichen Situation“, in der Menschen immer wieder des Menschen Wolf werden (vgl. Gespräche IV/28, 24). Barth hat darum ausgerufen:

„Genug nun mit der wehleidigen Eitelkeit oder eitlen Wehleidigkeit, in der man uns wieder und wieder versichert, die Kirche habe es in unserem Jahrhundert [...] mit einer Gott in ganz besonders radikaler und raffinierter Weise entfremdeten, nämlich säkularisierten, autonom, mündig und profan gewordenen Welt zu tun (als wären das neunzehnte oder das sechzehnte oder das Mittelalter in dieser Hinsicht goldene Zeiten gewesen)“ ( Christliches Leben, 207).

 

Doch das ist zu simpel. Barth hat einfach unterschätzt, welche Macht die wissenschaftliche Erkenntnis des Werdens von uns Menschen auf das Bewusstsein der Menschen ausübt. Sie verstehen sich als Produkt der Naturgesetze, die zufällig ins Dasein gekommen sind, deren Leben eigentlich sinnlos ist (das heißt in keinen tragenden Zusammenhang gehört) und denen nur bleibt, dieses Leben so angenehm wie möglich und wenn’s sein muss auch mit Gewalt über die Runden zu bringen, um am Ende dann möglichst schmerzlos von der Erde zu verschwinden. Bonhoeffer hat dieses Phänomen der Säkularisierung viel realistischer eingeschätzt als Barth. Er hat darum nach meinem Verständnis solchen Wert darauf gelegt, dass Menschen, die so leben, nicht von Christus aufgegeben sind.

Er hat darum versucht, ihrer Säkularität das Beste abzugewinnen und ihre „stärkste Stelle“ ernstnehmen (DBW 8, 511), nämlich dass sie sich derjenigen „Mündigkeit“ verdankt, die Gott nicht als „Lückenbüßer“ in Anspruch nimmt. Dass seine Zeitgenossen, verstrickt in das menschenmörderische Nazitum, solche mündigen Menschen faktisch waren, wollte er ganz bestimmt nicht sagen. Er wollte jene Mündigkeit „vom Evangelium, von Christus her“ „besser verstehen“ als es jene Menschen faktisch getan haben (DBW 8, 482). Er wollte, dass die Christenheit ihnen mit ihrem Eintreten „für Andere hilft“, ihrer Verantwortung für das von Christus bejahte menschenwürdige Leben gerecht zu werden. Darum sagt am 08.06.1944, an dem der große Brief über „Christus und die mündig gewordene Welt“ geschrieben wurde in der Auslegung der Herrenhuter Losung 1. Petrus 3, 9 von diesen Menschen:

„Wir verlassen sie nicht, wir verwerfen, verachten, verdammen sie nicht, sondern wir rufen sie zu Gott, wir geben ihr Hoffnung, wir legen die Hand auf sie und sagen: Gottes Segen komme über dich“ (DbW 16, 657).

In Barths Ethik der Versöhnungslehre klingt das so: „Der eigentliche, der erste und letztlich interessante Gegenstand“ der „Aufmerksamkeit“ von Christinnen und Christen, „ihrer Liebe, ihres Wollens […] ihres Denkens, Redens und Tuns“ kann nur „der Mensch sein […], dessen Bruder Gott selbst wurde“ (Das christliche Leben, 461f.).  Sie werden in diesem Sinne mit ihren Mitmenschen, in deren Leben Gott und Christus, Bibel und Kirche keine Rolle spielen, „auf der ganzen Linie solidarisch“ sein. Sie werden sich jedem Menschen „unbekümmert um seine Gewandung und Maske als seine Weggefährten und Freunde […] erweisen, sie werden seine Sache zu ihrer eigenen zu machen haben.“ Das ist ihr Fragen nach Gerechtigkeit, Menschenrecht und Menschenwürde. Denn „wer – wie irrend, wunderlich und ohnmächtig immer – nach Gerechtigkeit fragt und sucht“, hat „Gott auf seiner Seite“(a.a.O., 468).

Die Christinnen und Christen „müssen auch im Kleinen zu ihm stehen, die kleinen Schritte zu relativen Besserungen, wo immer er sie versucht, hoffend mit ihm wagen und tun; auf die Gefahr hin, sich oft und oft mit ihm zu irren und mit ihm enttäuscht zu werden […] Wichtiger ist (je)doch, daß sie ihm, indem sie ihm zur Seite treten, Mut machen, sich mit der Weltunart und dem Weltunheil nicht abzufinden, sondern auch innerhalb von dessen Horizont nicht rückwärts, sondern vorwärts zu blicken. Schande über sie, wenn sie sich von ihm an Mut dazu übertreffen ließen“(a.a.O., 470).


So steht es auf der letzten Seite der „Kirchlichen Dogmatik“, mit der dieses Lebenswerk von Karl Barth abbricht. Ich bin sicher, dass diese Sätze auch von Bonhoeffer stammen könnten. 

 


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