Kategorie: Vorträge
Wenn Theologie auf Wirklichkeit trifft
Kurzvortrag in der Evangelischen Akademie zu Berlin am 22.11.2012
Christliche Theologie ist meinem Verständnis eine Funktion der Rede von Gott, wie sie der christlichen Kirche und damit allen Christinnen und Christen aufgetragen ist. Sie fragt einerseits danach, ob und wie das Reden von Gott in der Kirche und durch die Kirche seinem biblischen Grunde entspricht und treu bleibt. Wenn sie nicht mehr danach fragt, kann sie sich schwerlich christliche Theologie nennen, sondern Theosophie oder sonst was. Indem sie christliche Theologie eines besonderen Begegnens Gottes in der Welt ist, fragt sie andererseits danach, ob und wie das Reden von Gott den Verständnismöglichkeiten der Menschen in unserer Zeit gerecht wird bzw. gerecht werden kann. Sie geht also aus von einer Erfahrung der Wirklichkeit Gottes, wie sie in der Bibel begegnet und sie bezieht sich darauf, wie diese Erfahrung heute unter den Bedingungen des neuzeitlichen Verständnisses von Wirklichkeit gemacht werden kann, so dass die christliche Kirche mit Recht zum Teilnehmen an dieser Erfahrung einlädt.
Die Überschrift über unsere heutige Veranstaltung („Wenn Theologie auf Wirklichkeit trifft“) stimmt darum für mich von hinten und vorne nicht. Sie suggeriert, Theologie sei irgendein abstraktes Theoretisieren über Gott, eine „Theoriewelt“, in der irgendwelche Doktrinen von Gott ersonnen werden, die dann auf die Wirklichkeit der Menschen von heute knallen und in der Gefahr sind, dort zu zerplatzen oder zu verpuffen. Alles Denken und so auch die Theologie als denkende Verantwortung des Gottesglaubens vollzieht sich natürlich immer im Abstandnehmen vom unmittelbaren Erleben von Wirklichkeit; aber doch nur, damit das Reden von Gott, das sich an konkrete Menschen wendet, sich umso intensiver und angemessener auf die Wirklichkeiten einlassen kann, in der Menschen ihr Dasein erfahren und ihr Leben führen. Insofern bewegt sich christliche Theologie schon immer in den Wirklichkeiten, die dieses Dasein konkret charakterisieren.
Ich verwende bewusst den Plural, wozu alleine schon das Wort „Wirklichkeit“ einlädt. Es ist die Übersetzung des griechischen Wortes energeia, „Energie“. Wirklichkeitserfahrung ist Erfahrung von Energien, von Kräften, die unser Leben in der Beziehung auf andere Menschen und die Gesellschaft, durch Kenntnisse der Natur, durch Erlebnisse von Geschichte und vieles andere mehr bestimmen. Wir haben in der letzten Woche von „Milieus“ geredet, von Wirklichkeitsräumen, die atheistisch oder religiös energetisch grundiert sein können und das, was Menschen als „wirklich“ erfahren, bestimmen. Das Reden von Gott in der pluralistischen Gesellschaft von heute muss sich auf viele solcher größeren und kleineren Milieus einlassen. Es ist darum normal und nicht verwunderlich, wenn es in der Kirche dadurch zu vielen, durchaus einseitigen Zuspitzungen und Pointierungen der Gottesrede kommt. Ich selbst gestehe, dass ich das, was von Gott zu sagen ist, nicht zuletzt unter dem Eindruck der seit Kindesbeinen um mich her erlebten Gottesvergessenheit der Menschen pointiert habe. Wer weiß, was für ein Lehrer der Rede von Gott ich geworden wäre, wenn mein Umfeld der pietistische Fundamentalismus in manchen Gegenden des Schwabenlandes oder der religiöse Subjektivismus gewesen wäre, der heute die sogenannte „Wiederkehr der Götter“ mit ihrem drive ins natur-religiöse Heidentum auszeichnet!
Aber in diesem verschieden pointierten Sicheinlassen des christlichen Redens von Gott auf das verschiedenartige Wirklichkeitserleben der Menschen in der pluralistischen Gesellschaft steckt natürlich auch ein Problem. Zerfasert das christliche Reden von Gott nicht in so vielen unterschiedlichen Pointen, so dass am Ende niemand mehr so richtig weiß, zu welchem Glauben an Gott die christliche Kirche eigentlich einladen will? Nehmen wir z.B. einmal den Auftritt von Margot Käßmann am vergangenen Sonntag bei Günther Jauch. Auf die Frage, ob ein allmächtiger Gott uns nicht auch Leiden zuschickt, hat sie geantwortet, sie habe ein anderes Gottesbild. Danach ist Gott nicht allmächtig, sondern leidet mit den Leidenden und spendet ihnen auf diese Weise Trost.
Wie soll dann eine Pfarrerin oder ein Pfarrer aufgrund dieser Auskunft seinen Konfirmandinnen und Konfirmanden den ersten Glaubensartikel erklären, der da heißt: Ich glaube an Gott, den Allmächtigen, den Schöpfer Himmels und der Erden? Jauch hat nicht nachgefragt. Die religiöse Authentizität der Auskunft reichte fürs Fernsehen. Doch darf das Publikum daraus schlussfolgern, die christliche Kirche habe den Glauben an den allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde aufgegeben?
Diese Frage berührt sich offenkundig mit der Problematik, die uns jetzt vier Wochen lang in der Reihe „Gott glauben“ beschäftigt hat. Der Einfluss, den die naturwissenschaftliche Erklärung der Welt auf das Wirklichkeitserleben- und empfinden von Menschen hat, scheint dem Glauben an den Schöpfer und damit dem Glauben an Gott überhaupt das Wasser abzugraben. Die Verbreitung eines Lebens von Menschen ohne Gottesbeziehung – sei es in atheistischer oder in gottesvergessener oder sogar in religiöser Zuspitzung – verdankt sich vor allem der Überzeugung, dass die Wissenschaft die Existenz eines Gottes ausschließe. Warum kann ich mit gutem Gewissen dennoch von Gott reden, ohne ihn als allmächtigen Schöpfer zu leugnen? Die Antwort darauf möchte ich in völlig unangemessener Kürze als Einstieg in unser Gespräch in sechs Hinsichten geben:
1) Die Naturwissenschaften können die Existenz Gottes weder beweisen noch widerlegen. Sie können höchstens darlegen, dass sich die Bibel und die Kirche einmal verkehrte Vorstellungen über das Entstehen des Universums und des Lebens sowie über die Naturgesetzlichkeiten gemacht haben. Würden sie Gott aber mit Naturgesetzen erfassen wollen, dann hätten sie ihn zu einem Teil der Welt, also zu einem Götzen, gemacht. Gott sei Dank können sie das nicht, können wir darum nur sagen. Sie sind – angefangen vom „Urknall“ (wenn es ihn denn gab) – zuständig fürs Irdische-Gesetzmäßige und nicht fürs Tranzendente, für Gott.
2) Für uns Menschen, die mit ihrem Bewusstsein alles, was ist, zu überschreiten vermögen, geht Realität niemals in dem auf, was sich naturgesetzlich objektivieren lässt. Unser Wirklichkeitserleben ist unabsehbar reicher. Im unmittelbaren, existenziellen Erleben unseres Daseins kann man uns niemals bloß mit physikalischen und chemischen Formeln erfassen oder uns gar mit ihnen vorschreiben, was wir wahrnehmen dürfen und wie wir leben sollen. Das Fühlen, das Denken, das Lieben, die ästhetische Wahrnehmung, das Ängstigen auch und das Sorgen und vieles, vieles andere mehr macht die Atmosphären von Wirklichkeit aus, in denen wir leben. Sie sind für sogar aufdringend wirklicher als das, was im Elektronenmikroskop wahrgenommen werden kann, so dass nur ein Ignorant behaupten könnte, hier passiere nichts. Auf diese Ebene von Wirklichkeitserleben gehört auch die Gotteserfahrung.
3) Wenn wir es evolutionstheoretisch formulieren wollten, dann müssten wir sagen, die Evolution des Lebens hat in uns Menschen Wesen hervor gebracht, in denen der Kosmos anfängt, sich selbst zu reflektieren. Kein Mensch hat eine Erklärung dafür, warum dieser schlechthin wundersame Vorgang in einer Ecke des Universums inmitten von Werden und Vergehen von Sternen und Milchstraßensystemen, von „schwarzen Löchern“ und „roten Riesen“, auf einmal mit uns einsetzt. Noch nicht einmal 1 % spricht in naturwissenschaftlicher Perspektive dafür, dass das geschehen konnte (vgl. Harald Lesch, Sind wir allein im Universum?, 2000). Der lutherische Theologe und Astronom Johannes Kepler, dem wir den entscheidenden Durchbruch zum neuzeitlichen Weltbild verdanken, hat es im 17. Jahrhundert mit der paulinischen Rechtfertigungslehre erklärt. Entsprechend dem, dass uns Gott am Kreuz Jesu Christi seine Gnade in einem leidenden, niedrigen Menschen zugewendet habe, sagt Kepler, hat er die Kloake, das „Scheißhaus“ des Universums, erwählt, um sich dem Universum kund zu tun.
4) Interessant an diesem Argument Keplers auch für uns heute ist, dass es die naturwissenschaftliche Perspektive mit einer lebensweltlichen Erfahrung in eine neue Perspektive stellt. Diese Erfahrung ist der Glaube an Gott, der strukturell zu unserer menschlichen Fähigkeit gehört, Unverfügbarem, Unsichtbaren, Geistigem vertrauen zu können, das sich uns in bestimmten geschichtlichen Situationen als vertrauenswürdig aufdrängt. Das geschieht in den unterschiedlichen Religionen aus den verschiedensten Anlässen. Im Falle des christlichen Glaubens kommt es zum Glauben an Gott als Geheimnis der Wirklichkeit durch die Begegnung mit der Geschichte Jesu Christi im Kontext der Geschichte Israels. Sie stiftet Vertrauen zu Gottes unsichtbarer, geistiger, jenseitiger Wirklichkeit. Gott und Glaube gehören „zuhaufe“ (zusammen), sagt Martin Luther darum. Glaube, der alles Irdische transzendiert, ist der einzige Weg für uns Menschen, Gottes gewiss zu werden.
5) Zu dieser Gewissheit gehört an erster Stelle, dass Gottes Verhältnis zu uns durch Liebe geprägt ist, weshalb Gottes Wesen in der evangelischen und katholischen Theologie heute in einem breiten Konsens als Liebe bestimmt wird (was ich jetzt nicht diskutiere). Zu dieser Glaubensgewissheit gehört aber auch, dass der sich uns zuwendende Gott der Schöpfer ist. Das ist keine unserem Wissen vom Werden des Universums und des Lebens mühsam abgezwirbelte Überzeugung. Der Gott, der sich uns zuwendet und unserem Leben Daseinsgewissheit und Sinn gibt, kann nicht anders denn als schöpferischer, ewiger Grund der irdischen Wirklichkeit verstanden werden, der sie zu eigenem Werden frei gesetzt hat und nicht aufhört, sie frei zu setzen. Seine Allmacht ermächtigt das Irdische zu diesem Werden. Deshalb können wir die Erde und unser Leben als Geschenk verstehen, auch wenn dieses Geschenk uns kein Schlaraffenland beschert, sondern uns heraus fordert, mit Grenzen zu leben, die uns auch den Schmerz der Endlichkeit spüren lassen.
6) Wenn der Glaube an Gott die Wirklichkeit, wie sie uns die Naturwissenschaften erschließen, in das Licht der schöpferischen Liebe Gottes stellt, dann ist er zuhöchst daran interessiert, soviel wie möglich von der Wirklichkeit der irdischen Welt zu erfahren und zu wissen. Er ist deshalb ein Freund der fortschreitenden naturwissenschaftlichen Forschung. Sie lässt uns das Wunder der ganzen Wirklichkeit, die sich vor uns auftut, im Grunde noch viel größer erscheinen, als es der begrenzten antiken Weltsicht möglich war, welche sich unser Dasein unter der Mauer des Firmaments oder in der Umklammerung von Himmelssphären vorgestellt hat. Bei der Begegnung des Glaubens und der Theologie mit dem wissenschaftlichen Weltwissen kommt es darum beileibe nicht zu einem crash, sondern zur Intensivierung der Dankbarkeit für unser Leben auf der Erde.