Kategorie: Vorträge
Die Kirche als Leib Christi und als religiöse Institution. Wie kann die Kirche im Osten Deutschlands ihrem Auftrag gerecht werden?
Vortrag auf dem Thüringer Pfarrertag am 24.05.2012
1. Selbstverständlichkeiten der Ekklesiologie und der „Reformprozess“ der EKD
Wir erinnern zu Beginn an zwei Selbstverständlichkeiten, die theologisch immer im Blick sein müssen, wenn von der Kirche die Rede ist.
Auf der einen Seite ist ihre Wirklichkeit nicht weniger als ein Sachverhalt des Bekenntnisses. Das credo ecclesiam des Nicaenums (credo in ecclesiam im Apostolicum) bringt das zum Ausdruck. An die Kirche wird in der Christenheit auf einer Linie mit dem Glauben an Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist geglaubt. Die Kirche ist demnach keine Größe von dieser Welt. Ihr Entstehen und ihr Dasein sind nicht einfach ein Zufall unter den vielen Zufällen in der säkularen und religiösen Weltgeschichte. Wo an Jesus Christus geglaubt wird, da kommt es kraft des Wirkens des Heiligen Geistes zu einer Versammlung von glaubenden Menschen, die kraft göttlicher Initiative da ist und – weil Gott mit dieser Initiative nicht aufhört – da sein wird. In diesem Sinne sagt der 7. Artikel des Augsburgischen Bekenntnisses, quod una sancta ecclesia perpetuo mansura sit. Dieses Bleiben ist jedoch kein Selbstzweck. Die Kirche wird vielmehr kraft göttlicher Initiative bleiben, weil die Botschaft von Jesus Christus weiter gesagt werden muss, um Menschen in der Zukunft zum Glauben zu erwecken. Sie hat den Auftrag, die „Botschaft von der freien Gnade Gottes“ an alle Menschen weiter zu geben (Barmen VI). Sie ist deshalb keine Versammlung von Menschen für sich, in welcher das Bestreben der Glaubenden nach Kommunikation mit Gott und christlicher Gemeinschaft befriedigt wird. Sie steht im Dienst Gottes bzw. Jesu Christi und hat darum wesenhaft eine gottgewollte Dynamik nach außen. Ohne das Wahrnehmen dieses Auftrags verfehlt sie den Sinn ihrer Herkunft von Gott.
Dieser göttlichen Begründung Daseins und des Wirkens der Kirche steht auf der anderen Seite ihre empirische Realität gegenüber. Die Kirche ist auch eine von Menschen zu verantwortende Institution, die sich der Regeln für das Zusammenleben und der Verfahrensweisen für das Wirken bedient, die nicht sozusagen vom Himmel gefallen sind, sondern von weltlichen Erfahrungen entlehnt sind. Sie muss organisieren, was sie tut. Sie muss ihren Besitz verwalten. Sie muss für den Lebensunterhalt derer sorgen, die ihr Leben ganz in den Dienst der Kirche stellen, usw. Das war schon zu Zeiten der sog. „Urkirche“ nicht anders als heute. Heute kommt für uns allerdings noch hinzu, dass wir aus der Vergangenheit die Struktur einer Flächenkirche ererbt haben, die sich als Großorganisation in der Gesellschaft darstellt. Die Frage, die an diese menschlich-weltliche Erscheinungsform der Kirche zu stellen ist, ist aber im Grunde die Gleiche wie die, der auch die Kleinstgruppen-Kirche ausgesetzt ist. Sie lautet: Entspricht die weltliche Organisationsform ihrem göttlichen Grunde und ihrem Auftrag oder verdunkelt oder behindert diese Organisationsform eher das, was sie ist und was sie auszurichten hat? Diese Frage muss nicht nur gestellt werden, weil wir in der Geschichte der Kirche bis heute faktisch jene Verdunklung immer wieder bemerken. Sie ist immer aktuell, weil die Menschen, welche die institutionelle Dimension der Kirche zu verantworten haben, Sünderinnen und Sünder sind und bleiben. Luther hat die Kirche sogar die „allergrößte Sünderin“ genannt, weil sie in Kenntnis der Gnade Gottes deren Wirken durch ihr eigenes Handeln, Reden und Organisieren den Weg versperrt. Das Sündige am weltlichen Sein und Handeln der Kirche zu durchbrechen und zu überwinden, bleibt deshalb die ständige Aufgabe der Kirche in der dauernden Öffnung und Rückbesinnung auf ihren göttlichen Grund und Auftrag. Insofern muss die „Kirche der begnadeten Sünder“ (Barmen III) ecclesia semper reformanda heißen.
Es hat darum etwas Schiefes, wenn heute die Bemühungen der Evangelischen Kirche in Deutschland, sich auf den dramatischen Rückgang ihrer Mitgliederzahlen in den nächsten Jahrzehnten mit dem Impulspapier „Kirche der Freiheit“ aus dem Jahre 2006 einzustellen, „Reformprozess“ genannt wird. In diesem „Reformprozess“ geht es darum, wie unsere Evangelischen Kirchen ihre Stellung als eine nach dem Landeskirchen- und Parochialprinzip über das ganze Land verbreitete Institution halten können. Der Begriff „Reform“ ist hier nicht der Tradition des theologisch und geistlich geladenen Begriffes der „Reformation“ entlehnt, der in das Spannungsfeld von gnädiger Ermächtigung zum Kirchesein und von der Sünde durchsetzter menschlicher Aktivität gehört. Nach der Wahrheit des Glaubens und ihrer Darstellung in der weltlichen Gestalt der Kirche wird in jenem Impulspapier allenfalls am Rande gefragt.
Symptomatisch dafür ist, dass ein Kirchenbegriff verwendet wird, der die Gliedschaft in der Kirche von ihrer grundlegenden Beziehung auf die Wahrheit des christlichen Glaubens weithin löst. In unserer sogenannten „Volkskirche“ (von der noch zu reden sein wird) befinden sich nach der Analyse von Dietrich Rößler drei Arten von Christinnen und Christen. Das sind die „Kirchenchristen“, die am Leben der Gemeinden teilnehmen, die „Kulturchristen“ und die „Privatchristen“. Die letzteren sind in der Zukunft für die zahlenmäßige Größe und Finanzkraft unserer Kirchen nach dem Urteil von „Kirche der Freiheit“ entscheidend bedeutungsvoll. Ihnen muss darum eine besondere „Mitgliederpflege“ zuteilwerden, wie es mit einer Vereinskategorie heißt. Nicht unbedingt gehört dazu, sie ermutigen, „Kirchenchristen“ zu werden. Die Schlussfolgerung, dass die Zugehörigkeit zur Kirche nicht gleichbedeutend mit der Gliedschaft in einer Gemeinde ist, ist darum nahe liegend und sie wird auch gezogen.
Wilhelm Gräb hat der Tendenz jenes Papiers z.B. die Berechtigung entnommen, den in der „Volkskirche“ nur locker mit der Wahrheit des christlichen Glaubens verbundenen „Kulturchristen“ oder „Privatchristen“ „distanzierte Formen der Kirchenbindung“ zuzubilligen.[1] Diese Christen würden nämlich das Wesen des sog. „Protestantismus“, nach dem jeder das Recht haben soll, zu glauben, was ihm in Freiheit persönlich genehm ist, ausdrücken. Gräb wagt darum den Satz: „Das Kirchesein gehört nach evangelischer Auffassung zwar zur Form, aber nicht zur Substanz des christlichen Lebens“.[2]
Das ist jedoch ein weder biblisch noch reformatorisch zu rechtfertigender Satz. „Ekklesia“ heißt Versammlung der Glaubenden (CA VII). Ohne diese Versammlung, zu welcher der Heilige Geist Menschen ruft – also ohne die Gemeinde – hat der Glaube an Gott in Christus weder „Substanz“ noch Lebenskraft und Zukunftsenergie. Zurecht gereimter, prinzipiell individualisierter, am Rande und neben den Gemeinden herum flottierender Glaube kann darum nicht ernstlich Ziel einer „Reform“ der Kirche sein. Sie würde damit verleugnen, dass sie „Leib Christi“ ist.
Paulus hat mit dieser Vorstellung bekanntlich das Verständnis der Kirche als neues Volk Gottes ergänzt. Er prägt mit ihr gegen die in Korinth offensichtlich verbreitete enthusiastische Vereinzelung des Individuums ein, dass die Kirche ein Organismus ist. In diesem Organismus sind alle Glieder und Organe der Gemeinde aufeinander angewiesen. Das ist der Fall, weil die Gemeinde eine Realität ist, in der Christus nicht gegenwärtig ist, ohne die Glaubenden zur Gemeinschaft zusammenzuschließen. In I.Kor.12,12ff. wird es geradezu als Unding beschrieben, dass ein Glied sich vom Leibe entfernt oder gegen den Leib funktioniert. Denn die Gemeinde ist durch den Geist bzw. durch die Taufe so in den Christusleib eingegliedert, dass die Christinnen und Christen nur als Glieder des Leibes leben können und nicht etwa als einzelne charismatische Enthusiasten. Ihre Gaben können sie zur gegenseitigen Erbauung in diesem Organismus und nicht neben ihm zur Entfaltung kommen lassen. Die Freiheit, die dort herrscht, wo der Geist ist (vgl. 2. Kor. 3,7), ist Freiheit zum Zusammenleben und Zusammenwirken in diesem Organismus und nicht die Freiheit von diesem Zusammenleben und Zusammenwirken.
Gegen diese Erinnerung an das biblische und reformatorische Verständnis der Kirche steht freilich die Realität unserer Kirche. Selbst wo so intensiv wie möglich versucht wird, die Gemeinde zu erbauen und zu fördern, entsteht um sie herum jenes Privat- und Kulturchristentum, das keine innere Bindung an den Glauben an Gott hat und aus irgendwelchen religiösen Gründen wie dem Bedürfnis nach lebensbegleitenden Riten oder aus kulturellen Interessen der Institution Kirche angehört. Sollen diese Menschen durch einen steil biblischen und reformatorischen Kirchenbegriff und die in ihm steckenden Ansprüche vielleicht auch noch verschreckt werden? – müssen sich die fragen lassen, welche die Vorstellung von einem abgestuften Christsein kritisieren. Ist das Kultur- und Privatchristentum nicht auch ein Resonanzraum, durch den die christliche Botschaft, wenn auch in sehr abgeschwächter Weise, in die Gesellschaft hinein ausstrahlt, so dass es für Menschen wichtig bleibt, die „Angebote“ der Kirche in Anspruch zu nehmen?
Das sind sicherlich berechtigte Fragen. Aber kann unsere Kirche sie so aufnehmen, dass sie mit „Mitgliederpflege“ versucht, selbst ein Privatchristentum mit vielerlei Willkürglauben oder ein Kulturchristentum, das gar nicht glaubt, zu befördern? Muss sie nicht alles darauf zu konzentrieren, dass die christliche Botschaft immer klarer und eindeutiger die Menschen erreicht? Wie aber soll das geschehen? Kann das überhaupt geschehen, wenn – wie im Osten Deutschlands – nicht nur der Gemeinde fern stehende Kirchenglieder, sondern weit mehrheitlich die religiös konfessionslosen Menschen das Umfeld der Gemeinden bilden?
2. Lasten der Vergangenheit in den Kirchen des Ostens Deutschlands
In den Kirchen des Ostens Deutschlands ist schon viel dramatischer Wirklichkeit, was sich jetzt aus anderen Gründen besorgniserregend für die Kirchen in ganz Deutschland abzeichnet. Statt bloß ein Drittel Mitgliederverlust zu erwarten, haben diese Kirchen in 40 Jahren real-sozialistischer Herrschaft mit atheistischer Grundierung rund dreiviertel ihrer Mitglieder verloren. 1990 wäre darum für diese Kirchen der ideale Zeitpunkt gewesen, einen Reformprozess in Angriff zu nehmen, der sie auf den realistischen Boden einer Minderheitenkirche in der Gesellschaft stellt. Es hat auch mannigfache Forderungen gegeben, diese Reformen in Angriff zu nehmen. Im Gefolge des Tempos der politischen deutschen Vereinigung ist es jedoch bei der Vereinigung mit den EKD-Kirchen im Großen und Ganzen einfach zu einer Anpassung an die Strukturen, Gesetzlichkeiten und Verfahrensweisen der Kirchen in der Bundesrepublik gekommen.
Es gibt nicht wenige Menschen – auch Pfarrerinnen und Pfarrer – in den Kirchen der neuen Bundesländer, die es bis heute nicht verkraftet haben, dass die Kirchen des Ostens Deutschlands strukturell, kirchenrechtlich und staatskirchenrechtlich den Kirchen in der Bundesrepublik gleich gestellt wurden, statt eine Kirche auf der Basis des Lebens der Gemeinden zu gestalten. Bei der Berliner Volksabstimmung über die Einführung des Religionsunterrichtes als Wahlpflichtfach vor drei Jahren ist das z.B. in geradezu erstaunlichem Umfang sichtbar geworden. Diese Abstimmung ist auch daran gescheitert, weil sich ein großer Teil der Ostberliner Gemeinden nicht nur nicht daran beteiligt, sondern auch dagegen polemisiert hat. Es kam – wie das Ergebnis dann gezeigt hat – zu einer regelrechten Ost-West-Spaltung in dieser Sache. „Das ist nicht mehr meine Kirche, die sich für diesen Unterricht politisch engagiert“, konnte man da z.B. hören. Religionsunterricht gehört in die Kirche und nicht an die Schule, war die Überzeugung, die hinter solchen Äußerungen stand.
Man wird nicht fehl gehen, dass viele ostdeutsche Christinnen und Christen das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche um der Freiheit der Kirche willen so verinnerlicht haben, dass sie Ressentiments gegen die staatskirchenrechtlichen Regelungen hegen, in der die Kirche mit finanzieller Unterstützung durch den Staat agiert. Das Kirchenideal, welches dem zugrunde liegt und welches sich auch vor 20 Jahren meldete, ist die Vorstellung, dass die Kirche nicht nur geistlich, sondern auch in ihrer weltlichen Verfassung allein aus den Möglichkeiten und damit auch aus den Mitteln lebt, die die Gemeinden als „Leib Christi“ erschließen. Das sich Abhängigmachen von gesellschaftlichen und staatlichen Interessen an der Religion passt in dieser Optik mit dem Wesen der Kirche schlecht zusammen. Das Kirchenideal, das hier vertreten wird, ist vielmehr das der Freikirche und das ist aufgrund des Selbstverständnisses, das die Kirchen in der DDR hatten, auch kein Wunder.
Denn freikirchliche ekklesiologische Vorstellungen begegnen im Grunde in allen wesentlichen Verlautbarungen der DDR-Kirchen über den Dienst und den Auftrag der Kirche als einer „Zeugnis- und Dienstgemeinschaft“ in der sozialistischen Gesellschaft. Sie stecken ja auch in Dietrich Bonhoeffers Rede von der „Kirche für Andere“, die sich insbesondere der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR angeeignet hatte. Doch das war eine Mogelpackung (wie die Beanspruchung dieser Formel in „Kirche der Freiheit“ übrigens auch). Denn niemand hat in Bonhoeffers Sinne ernstlich erwogen, allen Besitz der Kirche an die Armen zu verschenken, allein von den „freiwilligen Gaben“ der Gemeinde zu leben und den Pfarrberuf in der Freizeit anzusiedeln, die neben einem weltlichen Beruf bleibt. Die Evangelische Kirche blieb vielmehr eine über das ganze Land verbreitete Institution mit allen dazu gehörenden rechtlichen Regelungen und dem erforderlichen Verwaltungsaufwand. Um das aber durchhalten zu können, war sie angesichts des drastischen Rückgangs der Mitgliederzahlen extrem auf finanzielle Hilfe von außen angewiesen.
Es hat zwar immer wieder einmal Versuche gegeben, durchzurechnen, was geschehen würde, wenn die Gelder aus dem Westen und die Zahlungen der DDR-Regierung, die sich aus der Übernahme der Verpflichtungen aus dem „Reichsdeputationshauptschluss“ herleiteten, wegfallen würden. Außer einem großen Schreck hat das weiter keine Konsequenzen gehabt. Wir müssen deshalb nüchtern konstatieren: Es wurde in der DDR kein neues Kirchenmodell auf der Grundlage des Verständnisses der Kirche als „Leib Christi“ gegenüber der ererbten Gestalt entwickelt. Die Kirche behielt auch die äußerlichen Merkmalen einer Körperschaft des öffentlichen Rechts bei, z.B. Kirchensteuern, Beamtenrecht, eigene Gerichtsbarkeit, Selbständigkeit der Diakonie etc. Ja sie blieb sogar eine „Volkskirche“, obwohl deren Ende vom Cottbusser Generalsuperintendenten Günther Jacob in den sechziger Jahren in Orwellscher Prophetie für das Jahr 1984 prognostiziert worden war.
Nun hatte er damit, was den Vollsinn des Begriffs „Volkskirche“ betrifft, nicht einfach Unrecht. Eine „Volkskirche“, der noch nicht einmal ein Viertel des Volkes angehört, verdient diesen Namen im Grunde nicht. Das institutionelle Gerüst der kirchlichen Präsenz bei allem Volk klapperte darum gewaltig, tut das bis heute und fängt nun auch in den Kirchen des Westens an zu klappern. Nicht Recht hatte Jacob dagegen in einer anderen Hinsicht. Für die Kirchen in der DDR blieb auch auf dem zusammen geschrumpftem Niveau der Zahl ihrer Mitglieder ein Wesenmerkmal der Volkskirche charakteristisch, nämlich ein kleiner engagierter Kern und darum herum die Meisten, die nur locker, unverbindlich und passiv dazu gehörten.
Der gute Ruf, den sich die Kirche in der DDR bei vielen Betrachtern von außen erworben hatte, war zu gut gemeint. Man sagte dieser Kirche ja nach, sie würde unter den DDR-Bedingungen identisch mit der Versammlung der wahrhaft Glaubenden und Bekennenden. Doch das stimmte nicht. Diese Kirche hat sich nicht „gesund geschrumpft“ und das wird beim Rückgang der Mitgliederzahlen in allen Kirchen Deutschlands auch nicht der Fall sein, schon gar nicht durch die abstrakte Forderung nach der Erhöhung der „Quoten“ beim Gottesdienstbesuch etc. Im Ganzen zeigte sich und zeigt sich bis heute, dass in Hinblick auf die Teilnahme der Gemeindeglieder am Gottesdienst, am Leben der Gemeinde und am Engagement für die Kirche prozentual betrachtet ungefähr die gleichen Verhältnisse anzutreffen sind, wie im Westen auch.
Schon alleine aus diesem Grunde erwies sich die Idee einer völlig anders verfassten „Ostkirche“ mit deutlicherem Bekenntnischarakter als nicht tragfähig. Zwar wäre damals durchaus die Chance gewesen, Einiges anders zu regeln, als es dann geschah, wie z.B. die Angleichung der Pfarrgehälter an die Beamtenbesoldung, auf welche die Pfarrerinnen und Pfarrern damals durchaus zu verzichten bereit waren. Heute sind sie es scheinbar nicht mehr, wie denn die ganze Frage der Absenkung der Gehälter bei einer in Finanznot geratenen Kirche offenkundig außerhalb des Reformwillens der Kirche liegt. Ein regelrechter Fehler war es darüber hinaus, die Bedeutung der „Christenlehre“ gegenüber dem Religionsunterricht so gering zu veranschlagen. Sie ist in den meisten Gemeinden – aufgrund des Absterbens des Berufes der Katechetin und des Katecheten – zugrunde gegangen. Der Religionsunterricht aber vermag – abgesehen von den Schwierigkeiten, welche ihm der Staat bereitet – die Lücke der Bildung in Glaubensfragens nur ziemlich annäherungsweise zu füllen.
Im übrigen war bei dem Vereinigungsprozess der Kirchen unter dem Dach der EKD ausgesprochen und unausgesprochen die Erwartung im Spiele, unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen würden sich die Menschen im Osten Deutschlands wieder der Kirche zuwenden. Man kann das nach der bedeutenden Rolle, welche die Evangelische Kirche bei der „friedlichen Revolution“ gespielt hat, sicherlich nicht als puren Illusionismus abtun. Dennoch hat diese Erwartung hat getrogen. Der Atheismus ist in der DDR-Zeit für die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung zu einer selbstverständlichen Lebensgewohnheit geworden, in der christliche Überlieferungen nicht mehr vorkommen. Ganze Generationen haben sich in der Glaubens- und Kirchenferne eingerichtet. Schon die Großeltern und unterdessen sogar die Urgroßeltern der atheistischen Konfessionslosen von heute waren nicht in der Kirche. Ihre Kinder werden in die Gottesvergessenheit hinein geboren.
Darum erneuert sich die Glaubens- und Kirchenferne in den neuen Bundesländern fortwährend. Das ist ohne Zweifel eine Besonderheit der ostdeutschen Situation, obgleich der Atheismus bei dem Drittel der westdeutschen Bevölkerung, die „konfessionslos“ ist, auch die überwiegende weltanschauliche Orientierung ist. Aus Richtung Westen fühlen sich die Ostdeutschen in ihrem festen atheistischen Milieu deshalb auch keinesfalls beunruhigt und herausgefordert. Die Verwandten aus Hamburg feiern die nach wie vor stabile, wenn auch etwas entideologisierte Jugendweihe in Gera oder sonstwo freudig mit.
Darum verwundert es schon, dass der Atheismus als Herausforderung für die Kirche in ganz Deutschland bei dem eingeleiteten Reformprozess der Kirchen nur eine marginale Rolle spielt. Bei diesem Prozess wird vielmehr einige Hoffnung auf die sog. „Wiederkehr der Religion“ gesetzt. „Es wird neu nach Gott gefragt“, heißt es gleich zu Beginn des Impulspapiers „Kirche der Freiheit“. „Religiöse Themen ziehen eine hohe Aufmerksamkeit auf sich; Menschen fragen auch wieder nach der eigenen religiösen Identität, nach dem, was für sie selbst Halt und Zuversicht verbürgt. Eine in den zurückliegenden Jahrzehnten verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber den im christlichen Glauben gegebenen Grundlagen des persönlichen wie des gemeinsamen Lebens weicht (!) einem neuen Interesse für tragfähige Grundeinstellungen und verlässliche Orientierungen“. „Die gesellschaftliche Situation ist günstig“, heißt es darum in diesem Papier gleich zu Anfang angesichts des „Megatrends“ der „Respiritualisierung“ in unserer Gesellschaft aufmunternd. Die Überzeugung, dass der Atheismus abgewirtschaftet habe, hat es unterdessen sogar bis in Lehrbücher der christlichen Dogmatik gebracht. Vom „Gewohnheitsatheismus“ seien nur noch „Rudimente“ übrig geblieben, lesen wir z.B. in einer solchen Dogmatik aus München.[3]
Diese Behauptung ist nicht nur für Ostdeutschland und den Westen Berlins, sondern auch für weite Gebiete der Bundesrepublik offenkundig falsch. Außerdem ist die „Wiederkehr der Religion“, die bei den Soziologen „Wiederkehr der Götter“ heißt, eine kaum geringere Bedrohung der Kirchen als der Atheismus. Menschen treten aus der Kirche aus, weil sie – wie Ulrich Beck das ausgedrückt hat – eine „Bastelreligiosität“ oder „Melangereligiosität“ in privatisierter Frömmigkeit anstreben, für die sie keine Kirche brauchen. „Versatzstücke der Weltreligionen, streßmindernde Meditationsrituale und esoterische Spekulationen, ein Häppchen Buddhismus und etwas Mystik nach Feierabend“ – das ist nach Ingolf U. Dalferth das Kennzeichen der neuen Religiosität, die er „Cafeteria-Religion“ nennt.
Es mag sein, dass es im Milieu dieser Religiosität Berührungspunkte mit dem christlichen Glauben gibt. In Berlin mehren sich die Gemeinden, die aus Fernost abgekupferte Meditations- und Leiberfahrungskurse anbieten. „Geomanten“ messen heilige Räume aus, um den besten Fluss „heilender Energien“ zu gewährleisten. Dass unsere Kirche durch die Öffnung für dergleichen klarer und eindeutiger als „Darstellung der ganzen in Christus versöhnten Menschenwelt“ (K. Barth) wird, wird man sicher nicht behaupten wollen. Die konfessionslose Bevölkerung im Osten Deutschlands jedoch werden solche merkwürdigen religiösen Praktiken nur darin bestätigen, dass es sich bei der Religion um etwas Irrwitzges handelt.
Das gibt zu der Vermutung Anlass, dass die „Wiederkehr der Götter“ nur dort stattfindet, wo in irgendeiner Weise, auch in ablehnender Weise, noch ein Bezug zu einer vergemeinschafteten und institutionalisierten Religion wie der Kirche da ist. Wo der Kontakt zu einer religiösen Gemeinschaft wie der Kirche dagegen ganz abbricht, erhält sich auf die Dauer auch keine Form von Religiosität oder auch nur von religiöser Suche am Leben. Da muss die Kirche, statt sich an eine in ihrem Windschatten mannigfach flottierende Religiosität anzuhängen, noch einmal mit dem Anfang anfangen.
3. Der Auftrag der Kirche als einer schwerfälligen Institution
Mission, Einladung aller Menschen zum Glauben an Gott in Jesus Christus, ist der Auftrag der christlichen Kirche, der ihr in die Wiege gelegt ist und an dem ihre Identität hängt. Angesichts der sich im religiösen Gestus aus der Kirche verabschiedenden und der längst im Atheismus heimischen Menschen ist dieser Auftrag dringlicher denn je. So wie unsere Kirche derzeit um die Selbsterhaltung ihres ererbten Status in Deutschland zu kämpfen hat, aber ist die Frage nicht von der Hand zu weisen, ob sie zur Mission überhaupt in der Lage ist. Ich kenne Viele, die beantworten diese Frage mit einem glatten „Nein“. Für sie ist die Rede von der „missionarischen Kirche“, die heute vielfach im Schwange ist, nur eine theologisch-kirchliche Floskel im höheren Tone, der in der Realität bestenfalls aus dem letzten Loch pfeift. Unser schwerfälliger, parochialer Kirchenkörper hat überhaupt nicht Kraft, im hurtigen Gehen zu den Menschen missionarisch zu sein, meinen sie. Das gilt umso mehr, als der Personalbestand aller hauptamtlichen Dienste in den vergangenen Jahren drastisch reduziert werden musste. Die Kirchen des Ostens hat es da wiederum besonders hart getroffen. Ganze Arbeitsbereiche mussten eingestellt oder erheblich gekappt werden. Statt der Stärkung der Präsenz der Kirche vor Ort wurden Großraumstrategien der Organisation der kirchlichen Dienste entwickelt.
Konkret bedeutet das: Die Kirchen kompensieren ihre schwache Basis in kleinen Gemeinden durch „Fusionierung“, durch Ausweitung der Gemeindegebiete. Ich kenne, weil ich dort in der Nähe einmal als Pfarrer angefangen habe, eine Pfarrstelle in der Kirchenprovinz Sachsen, die zu meinen Zeiten fast einen ganzen Kirchenkreis ausmachte. „Fusionierung“ von alleine nicht mehr lebensfähigen Dienstbereichen unserer Kirche mit den dutzend dazugehörenden, mehr oder minder intakten Kirchengebäuden, die möglichst zu erhalten sind, hat dieses Gebilde geschaffen. „Fusionierung“ ist auch sonst der Ausweg, mit dem die Kirchen im Osten Deutschlands die Realität ihrer schwachen Basis im Einzelnen in eine Stärke im Ganzen zu verwandeln versuchen. Selbst die so fest gefügten Landeskirchen mit ihren noch so wichtigen Lokaltraditionen müssen dem Tribut zollen. Das Beispiel der mit der Berlin-Brandenburgischen Kirche vereinten Schlesischen Oberlausitz und der mitteldeutsche Kirchenverbund zeigen das. In die Konstitution einer „Nordkirche“ ist mittlererweile auch eine westdeutsche Landeskirche einbezogen. Was das Impulspapier prognostiziert, ist also schon im vollen Gange.
Doch so sinnvoll solche Fusionen auf Landeskirchenebene auch sein mögen, so problematisch stellt sich die Großraumstrategie der Zusammenlegung von Parochien auf die Dauer an der Basis dar. Ich bin zwar nicht ganz der Richtige, um dieses Problem aus Erfahrung hinreichend präzise beschreiben zu können. Aber es ist als solches ja nicht zu übersehen. Die Gemeinden müssen viel größer sein als in der DDR-Zeit, um eine Pfarrstelle zu tragen. Die hauptberuflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – nicht nur die Pfarrerinnen und Pfarrer – aber werden immer weniger. Eine ähnliche Entwicklung gibt es ja in ganz Deutschland. Aber im Osten vollzieht sie sich auf einem Niveau, das den Auftrag der Kirche im Hinblick auf alle Menschen in diesem Landes tangiert. Vielerorts kann gerade so das Nötige getan werden, um das Leben der Gemeinde aufrecht zu erhalten. Besonders in ländlichen Gegenden, die noch dazu besonders mit der kontinuierlichen Abwanderung von jungen und leistungsfähigen Menschen Richtung Westen gestraft sind, kommt es faktisch schon zur Entstehung von weißen Flecken auf der kirchlichen Landkarte. Schwerpunktbildung und Konzentration des kirchlichen Dienstes an bestimmten Orten ist im Zuge der Regionalisierung der Parochien unvermeidlich.
Das aber reicht nicht, um in einem zu 75 % entchristlichtem Lande Menschen, denen Gott nichts bedeutet, den Glauben an Gott wieder nahe zu bringen. Auch von außen lässt sich die Atmosphäre der Gottesferne von Menschen auch nicht behämmern und weich klopfen, wie man vielleicht aufgrund Medienpräsenz unserer Kirche vermuten könnte. Kirchenfürsten in seidenen, bunten Gewändern, schlaue Professoren und religiöse events, welche das Fernsehen präsentiert, bewegen die Menschen im konfessionslosen Milieu nicht innerlich. Den typischen „Ossi“ bestätigen die medialen Nachrichten aus der Welt der Religion und der Religionen hauptsächlich darin, dass es sich hier um etwas handelt, mit dem er selbst nichts zu tun haben möchte. Er wirft Alles in den gleichen Eimer: Die angeblichen Wunder des verstorbenen Papstes, den Islamismus in Gestalt der Selbstmordattentäter und die zu Tode Getrampelten vor der Kaaba; den Glauben an die Auferstehung und die Seelenwanderung, die Frauen der Ahmadia-Muslim-Gemeinschaft, die Männern nicht die Hand geben dürfen und den Dalai Lama, die Jesus-Freaks auf dem Kurfürstendamm und die Blutorgien der Passion Christi a la Mel Gibson und Da Vinci Code. Wenn mich jemand aus der konfessionslosen Bevölkerung nach der Religion fragt, fragt er nach Dergleichen und nicht danach, wie Sinn-gebend und zutiefst menschlich doch unsere Religion ist.
Der religiöse Pluralismus unserer Gesellschaft, der natürlich auch im Osten ankommt, bewirkt hier in der atheistischen und gottesvergessenen Grundgestimmtheit keinesfalls, was seine Theoretiker sich davon versprechen, nämlich jenen Aufschwung des individualisierten Glaubens und eine Kulturliebhaberei des Christentums. Es ist zwar nach dem, was wir uns über die lockere Kirchenzugehörigkeit im Osten wie im Westen klar gemacht haben, gar nicht zu bestreiten, dass es in schmaler Weise ein sog. öffentliches und privates Christentum auch im Osten gibt. Sehr viele von denen, die das Kulturangebot der Kirche zu schätzen wissen oder ein gewisse Sympathie mit der Ethik Jesu hegen, sind hier jedoch gar nicht Glieder der Kirche und beabsichtigen auch gar nicht, es aufgrund dessen zu werden. Die Distanziertheit zur Kirche ist hier im Ganzen nicht unfreundlich, wie denn dem Gewohnheitsatheismus des Ostens – bis auf einige Erscheinungen verbiesterter Verstocktheit, dem die sog. „Neuen Atheisten“ aus der anglo-amerikanischen Welt gerade einigen Auftrieb gegeben haben – überhaupt das Giftig-Aggressive fehlt. Aber man möchte von größerer Verbindlichkeit der persönlichen Beziehung zur Kirche entschieden nichts wissen.
Diese Art partieller Sympathie für die Kulturseite der Kirche als solche zu befördern, heißt darum, die „Konfessionslosigkeit“ zu bestärken. Wenn es wirklich zu einem zahlenmäßigen Wachstum der Kirchen kommen soll, dann wird das bei aller Aufmerksamkeit auf ihr teilweise sympathisierendes Umfeld mit ihrer Kulturfunktion nur so gehen, dass der Schwerpunkt des Dienstes der Kirche einseitig auf der Auferbauung der Gemeinden liegt.
4. Schwerpunkte des kirchlichen Dienstes
Nach Lage der Dinge und nach menschlichem Ermessen wird es in absehbarer Zeit im Osten, aber vermutlich auch im Westen Deutschlands keinen „Megatrend“ der Hinwendung der konfessionslosen Bevölkerung zum Glauben und zur Kirche geben. Wir müssen damit rechnen, dass für ganze Generationen der konfessionslosen Bevölkerung das Leben ohne Glaube und Kirche endgültig ist. Ob es auch für künftige Generation beim verfestigten Klima oder Milieu der atheistischen Konfessionslosigkeit bleibt, kann man allerdings bezweifeln. Denn dieser Konfessionslosigkeit, die sich vor allem in Gleichgültigkeit gegenüber Glaube und Kirche äußert, ist als solcher keine geistige oder kulturelle Kraft zur Zukunftsgestaltung eigen. Sie ist ja als solche nur eine Negation. Sie braucht ethische und kulturelle Anleihen von anderswo, um sich als zukunftsorientiert empfehlen zu können.
Der „humanistische Verband“, der sich die Stasi-Gründung des „Freidenkerverbandes“ aus den letzten Zeiten der DDR einverleibt hat und der Kirche an den Berliner Schulen ziemlich zu schaffen macht, ist ein gutes Beispiel dafür. Er sammelt sich aus der Geschichte des europäischen Humanismus eine Reihe von hehren Zielen zusammen, die in beinahe pastoralem Tone verkündet werden. Doch die Kraft zur Selbstorganisation des Massenatheismus repräsentiert diese Minigruppe keinesfalls. Dieser Massenatheismus begegnet trotz seiner Milieuverschlossenheit vielmehr mit einem diffusen Gesicht, bei dem man nicht weiß, in welche Zukunft die Augen in diesem Gesicht blicken.
Demgegenüber repräsentiert die Minderheit der christlichen Gemeinden ein beachtliches religiöses, geistiges und kulturelles Potenzial mit einem Vorsprung an gesammelter menschlicher Erfahrung mit Tiefgang, der schon heute gar nicht zu unterschätzen ist. Dieses Land sähe völlig anders aus, wenn es die Kirche nicht gäbe. In diesem Sinne hat das östliche Impulspapier von 1995 mit den Überschrift „Minderheit mit Zukunft“ nicht nur den Glaubenssatz wiederholt, quod una sancta ecclesia perpetuo mansura sit. Es hat auch im Hinblick auf die faktische Situation deutlich gemacht, dass für die Kirche kein Grund zur Resignation besteht. Sie hat die lebenskräftigere Substanz in ihren Gliedern und den längeren Atem für die Zukunft, als der Glaube an Nichts oder irgendeine Ersatzreligiosität. Mit diesem Vertrauen kann und wird sie versuchen, über die Phase der Selbsterhaltung hinauszukommen und jetzt schon beginnen, Schwerpunkte zu setzen, die dem Vertrautmachen mit dem Glauben an Gott in der atheistisch-konfessionslosen Bevölkerung nicht nur des Ostens Deutschlands dienlich sind.
Ich kann jetzt unmöglich einen Überblick geben, was in dieser Hinsicht landauf- landab in den Gemeinden und den aus ihnen hervorgehenden Initiativen wie z.B. der Gründung und dem Ausbau christlicher Schulen und Kindergärten Alles Gutes, Phantasievolles und Neues geschieht, um die Menschen, auf die Kirche aufmerksam zu machen, Berührungsängste abzubauen und den christlichen Glauben in die Gesellschaft hinein ausstrahlen zu lassen. Wir haben darüber hinaus allen Grund, dankbar zu sein, was Alles in den letzten Jahren geschaffen wurde, um den Gemeinden auch äußerlich ein einladendes Gesicht zu geben. Ein bestimmter muffliger Geruch verschwindet immer mehr aus den Gemeindehäusern, Pfarrhäusern und Kirchen. Drei Schwerpunkte, die auf dem Hintergrund der Geschichte von 40 Jahren DDR nach meiner Meinung aber noch viel mehr Aufmerksamkeit in den Kirchen überall in Deutschland verdienen, möchte ich aber abschließend unterstreichen.
1) Die Tatsache, dass der kirchliche Auftrag alleine durch die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – vor allem durch die Pfarrerinnen und Pfarrer – alleine nicht mehr erfüllt werden kann, hat zur verstärkten Beförderung des sog. „Ehrenamtes“ in der Kirche geführt. Es ist auch ganz erfreulich, wie viele Gemeindeglieder dazu bereit sind. Ich habe mir erzählen lassen, dass sich in manchen Gegenden die Prädikaten regelrecht drängeln müssen, um zum Einsatz zu kommen. Wir sollten aber im Bewusstsein halten, dass „Ehrenamt“ eigentlich eine Kategorie aus dem Vereinswesen ist und dem internen Florieren des Vereins dient. Die reformatorische Grundeinsicht vom „Priestertum aller Glaubenden“ aber bedeutet, dass alle Glaubenden sich für die Verkündigung des Evangeliums verantwortlich wissen und in der Lage sind, ihren Glauben in ihrer Lebenswelt, die sie mit Nichtglaubenden teilen, zu artikulieren und darzustellen. Weil es an dieser Fähigkeit mangelte, genügte in der DDR schon verhältnismäßig geringer Druck von Seiten des Staates, um die Kirchengliedschaft fahren zu lassen. Die Gemeinden sollten deshalb Alles daran setzen, ein Verständnis des Christseins zu befördern, zu dem das Eintreten für den Glauben außerhalb des kirchlichen Raums in der Berufs-, Freizeit- und Privatwelt fundamental hinzu gehört. Es ist wesentlich, dass der Glaube auf diese Weise an den Orten des Lebensvollzuges der kirchenfernen Menschen vorkommt. Schon bei der Taufe, bei Christenlehre und Konfirmandenunterricht und möglichst auch im Religionsunterricht sollte zu diesem aktiven Verständnis des Christseins ermutigt und befähigt werden. Der lässig-passive Nutznietzer eines religiösen Angebots der institutionalisieren Kirche bringt die Kirche weder im Osten noch im Westen voran.
2) Die Erwähnung der Kinder- und Jugendarbeit, zu der die Elternarbeit und die Arbeit mit jungen Erwachsenen gehört, ist in diesem Zusammenhang nicht zufällig. Sie wird angesichts der geschilderten Situation geradezu logisch der Schwerpunkt des Dienstes der Kirche vor Ort sein. Im Blick auf die konfessionslose Bevölkerung in ihrer Breite gilt mein häufig zitierter Satz: Die Menschen sind der Kirche zwar massenhaft verloren gegangen, sie werden aber nur alle Einzeln wiedergewonnen. Das ist mühselig genug und dauert lange. Im Hinblick auf die heranwachsende Generation aber besteht die Chance, noch einmal in Breite ohne den Ballast von Vorurteilen und schlechten Erfahrungen mit der Stärke der christlichen Botschaft Kirche anzufangen, nämlich dass Gott in seiner Menschlichkeit all das zum Leben erweckt, was uns wahrhaft menschlich sein lässt; um es kurz zu sagen: Den Glauben an seine göttliche Klarheit, die Hoffnung auf seine Zukunft und die Liebe zu unseren Mitmenschen.
3) Um das zusammenzuhalten – Gott und das wahrhaft Menschliche – bedarf es der geistlichen und geistigen Konzentration unserer Kirche. Der religiöse Pluralismus unserer Gesellschaft lädt auch unsere Kirche, wie wir gesehen haben, zum Herumprobieren mit mancherlei Annäherungen an Transzendentes, Mysteriöses, Esoterisches, Sinngebendes, Erhebendes, Energetisches usw. ein. Das ist nicht schlechthin zu negieren, weil die Entdeckung, dass wir Menschen mehr sind als das, worüber wir verfügen, der Wahrheit des Glaubens zu assistieren vermag. Diese Entdeckung kann aber ebenso in einen Urwald voller religiöser Schlingpflanzen führen, die der Stimme des Evangeliums die Luft abdrücken. Man denke nur an die von Vielen begrüßten Vorschläge eines anderen meiner praktisch-theologischen Kollegen, den Kanon der Bibel als Grundlage der christlichen Botschaft durch ein Konglomerat von religiösen Texten aus allen Religionen zu ersetzen, das Verständnis des Menschen als Gottes Ebenbild zu beseitigen, den Glauben an Gott als Person aufzugeben und dem naturreligiösen Heidentum wieder Raum zu verschaffen. Man denke aber auch an fundamentalistische Gegenbewegungen dazu und das Befördern einer ekstatischen Frömmigkeit, die unmittelbare Berührungen mit Gott verspricht. Das Alles und noch viel mehr kommt in den Gemeinden des heute in den Gemeinden Westens und des Ostens auch vor. Und es lockt, weil es Erfolg verspricht.
Hier einen klaren Blick für das Mögliche und das nicht gut Mögliche zu behalten, ist in gewisser Weise schwieriger, als es im Gegenüber zu einer monistischen Weltanschauung in der DDR war. In jedem Fall erfordert es die Fähigkeit in den Gemeinden, die Wahrheit des christlichen Glaubens kritisch und im Hinblick auf die eigene religiöse Praxis selbstkritisch zu verantworten. Diese Fähigkeit und Willigkeit dazu ist angesichts der Fülle der Aufgaben, vor denen die Dienste der Kirche stehen, – gelinde gesagt – in den Jahren nach der Wende nicht gewachsen. Wenn ich daran denke, wie einem in der DDR-Zeit theologische Bücher, die durch die Mauer gelangten, geradezu aus der Hand gerissen wurden, dann stimmt das Desinteresse an der Theologie, das sich heute vielerorts unter der Pfarrerschaft ausgebreitet hat, schon bedenklich. Denn es ist nicht gut, dass wir uns in unseren alltäglichen Dienst gewissermaßen verstricken und vergraben. Die Theologie ist da kein Wundermittel. Sie kann weder Glaube, Liebe, Hoffnung noch das geistliche Leben ersetzen. Aber sie hilft der Kirche, die geistige Spannkraft zu behalten, die sie braucht, um ihrem Sein als „Leib Christi“ mit einem großen Auftrag in der schwierigen Situation einer angeschlagenen Flächenkirche gerecht zu werden.
[1] Vgl. An den Stationen des Lebens. Wie der deutsche Protestantismus auf die Krise reagieren sollte, in der er steckt, Zeitzeichen 10, Oktober 2009, 20.
[2] A.a.O., 18.
[3] Gunther Wenz, Religion. Studium Systematische Theologie, Band 1, Göttingen 2005, 47