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24.08.2014 11:55 Alter: 10 yrs
Kategorie: Vorträge

Voröstlicher Jesus - Nachöstlicher Christus. Dialogische Perspektiven in der Christologie

Vortrag bei der Fachtagung "Die Besonderheit Jesu Christi im Islam und im Christentum" am 21.08.2014 in der Katholischen Akademie Schwerte


1. Zwei Perspektiven auf Jesus Christus: wahrer Gott und wahrer Mensch

Jedes Gelingen eines Dialogs der Religionen hängt daran, dass diese Religionen in sich selbst dialogfähig sind. Dialog bedeutet: Sich öffnen können für Positionen und Überzeugungen, die in Bezug auf den gleichen Sachverhalt anders sind als die eigenen Positionen und Überzeugungen,  ja ihnen sogar widersprechen. Dialog ist bereit, das Anliegen der anderen Überzeugung oder gar des Widerspruchs in die eigene Urteilsbildung aufzunehmen. Dialog wirbt aber auch darum, Verständnis für die eigene Position bei den Dialogpartnerinnen und – Partnern zu wecken. Orientieren wir uns für die Charakterisierung des Dialogs am „dialogischen Prinzip“ in der personalen Dimension, wie es Martin Buber verstanden hat (vgl. Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1973), dann kann das Ziel eines wie immer gearteten Dialogs nicht sein, den Anderen als Anderen auszuschalten. Dialog zielt auf das Zusammen-Bestehen-Können der Verschiedenen, wobei der Vollzug des Dialogs darauf aus ist, alles zu bestärken, was diesem Zusammen-Bestehen-Können dient.

Ist eine derartige Dialog-Offenheit die Rahmenbedingung jedes ernsthaft so zu nennenden Dialogs der Religionen, so scheint die kirchliche Christologie auf den ersten Blick das am wenigsten geeignete Feld zu sein, sie unter Beweis zu stellen. Denn ihre Kernaussage im Dogma von Chalcedon (451), dass „Christus der Sohn, der Herr, der Einziggeborene“ Gottes des Vaters und damit selber „Gott“ sei (DH 301f.), schließt eine Verhandelbarkeit dieses Bekenntnisses und damit ein Zusammen-Bestehen mit seiner Verneinung definitiv aus. Wo bleibt da Spielraum für einen Dialog mit denen, die dieses Bekenntnis ablehnen? Die Antwort darauf ist nicht schwer. Wer die Meinung vertritt, ein Mensch wie Jesus könne nicht selber Gott sein, berührt sich mit dem nicht weniger entschiedenen chalcedonensischen Geltendmachen der wirklichen und ungeschmälerten menschlichen Natur Jesu Christi.

Im Sinne dieses Bekenntnisses war es sicherlich nicht, dass die menschliche Natur Jesu Anlass geben könne und dürfe, seine göttliche Natur in Frage zu stellen. Und doch zeichnet diesen Text eine eigenartige Spannung aus, die nicht aufgelöst wird. Mit den bloß abgrenzenden Bestimmungen, dass beide Naturen Jesu Christi nicht vermischt und ineinander verwandelt  (ἀσυγχύτως, ἀτρέπτως), aber auch nicht getrennt und gesondert  (ἀδιαιρέτως,  ἀχωρίστως) werden dürfen, wird offenkundig ein Spielraum geschaffen, die Perspektiven auf Jesus Christus zu wechseln. Nicht nur die Perspektive der einen Hypostase, in der beide „Naturen vereinigt sind, sondern auch die Perspektive, in der das ungeschmälerte Menschsein Jesu Christi zur Geltung gebracht wird, bekommt ihr Recht. Denn das wahre und wirkliche Menschsein Jesu Christi darf nicht zugunsten seines wahren und wirklichen Gottseins verdrängt werden. Dadurch wird in der christologischen Rechenschaft der Kirche ein Dauergespräch zwischen dem Einprägen seines wahren Gottseins und dem seines wahren Menschseins eröffnet.

Wir können dem jetzt nicht im Einzelnen nachgehen, wie dieses intern-christologische Gespräch im Verlaufe der Kirchen- und Theologiegeschichte geführt worden ist. Der Hauptstrang jenes Gesprächs ist zweifellos von einem Denken bestimmt, das man seit dem 19. Jahrhundert etwas blumig „Christologie von oben“ genannt hat. D.h. es dominiert hier der Gesichtspunkt, dass die zweite Person der Trinität die menschliche Natur Jesu aufgenommen  und das Zusammensein mit ihr bei der Inkarnation geschichtlich realisiert hat. Das Zusammensein von Gott und Mensch in Jesus Christus vom Menschen Jesus her und damit aus der Unterschiedenheit von Gott und Mensch her zu verstehen, blieb eher Außenseitern der Theologiegeschichte vorhalten.

Auch die reformatorische Theologie ist im Zusammenhang mit den Abendmahlsstreitigkeiten in jenen Hauptstrang eingeschwenkt. In Martin Luthers frühem christologischen Programm hieß es dagegen: „Wer da will heilsam über Gott denken, […] der setzte alles andere hintan gegen die Menschheit Christi. Das ist die einzige und alleinige Weise, Gott zu erkennen, von der die Sentenzenlehrer weit gewichen sind, die sich an der Menschheit Christi vorbei in die absoluten Spekulationen von der Gottheit eingeschlichen haben“ (Brief an Spalatin vom 12.02.1519 , WA Br. 1, 327ff., Nr. 145). Entsprechend hieß es in der ersten evangelischen Dogmatik von Philipp Melanchthon, den Loci communes von 1521: Hoc est Christum cognoscere, beneficia eius cognoscere, non eius naturas, modus incarnationis contueri“.

Auf diesen Ansatz einer „Christologie von unten“ – allerdings ohne den Hintergrund der Inkarnationschristologie, wie bei Luther und Melanchthon – hat sich die evangelische Theologie berufen, als in der Aufklärungszeit des 18. Jahrhunderts die Einbettung der Christologie in die Denkweise und Begrifflichkeit der antiken Ontologie ins Wanken geriet. Die historisch-kritische Forschung hielt Einzug in die Bibelwissenschaften und damit in die Christologie. Sogenannte „suprarationale“ Begründungen der Besonderheit Jesu Christi wurden obsolet. Vielmehr wurde versucht darzulegen,  dass es auch die historisch-kritisch gelesenen Evangelien erlauben, Jesus so zu verstehen, dass er es mit Gott in besonderer Weise zu tun habe. In der „Neologie“ der Aufklärungszeit blieb dabei freilich nur Jesus als Tugendlehrer einer höheren Moral im Namen des Gottes der Liebe übrig. Das Gespräch mit der „Christologie von oben“ wurde praktisch aufgegeben. Die Trinitätslehre spielte zur Begründung der Besonderheit Jesu Christi keine Rolle mehr.

 

2. Die „Christologie von unten“ und ihre Problematik

Der Abschied von der „Christologie von oben“ vollzieht sich auch in dem bis heute in der evangelischen Kirche und Theologie sehr einflussreichen Modell christologischen Denkens, das Friedrich Schleiermacher zu Beginn des 19. Jahrhunderts in seiner „Glaubenslehre“ entwickelt hat. Gegenstand dieser Glaubenslehre ist weder ein Wissen, das wir von Gott oder Christus auf suprarationale Weise erlangen können, noch die Moral wie bei den „Neologen“, sondern die „Religion“ von Menschen. Sie wird verstanden als transzendentales Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, das sich in der geschichtlichen Existenz von Menschen als „Gottesbewusstsein“ niederschlägt. Menschen werden sich ihrer selbst so bewusst, dass sie in der „Beziehung zu Gott“ stehen (Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage [1830/31], Teilband 1, hg. von  Rolf Schäfer, in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe Band 13/1, Berlin/New York 2003, § 4, 32-40). Allerdings ist das Gottesbewusstsein bei allen Menschen immer nur immer mehr oder weniger stark entwickelt, da es vom sinnlichen Selbstbewusstsein gehemmt wird. An dieser Stelle kommt die Christologie ins Spiel. Denn der „Totaleindruck“, den wir auf Grund des Zeugnisses der Evangelien von Jesus gewinnen, ist nach Schleiermacher, dass bei ihm das Gottesbewusstsein vollkommen entwickelt war.  Darum gilt: „Der Erlöser [...] ist allen Menschen gleich vermöge der Selbigkeit der menschlichen Natur, von Allen aber unterschieden durch die stetige Kräftigkeit seines Gottesbewusstseins, welche ein eigentliches Sein Gottes in ihm war“ (Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage [1830/31], Teilband 2, hg. von  Rolf Schäfer, in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe Band 13/2, Berlin/New York 2003, 52).

Schleiermacher stellte sich dieses „Sein Gottes in Jesus“ so vor, dass sich das Gottesbewusstsein Jesu allmählich aus dem Zustand der reinsten kindlichen Unschuld (der „glücklichen kindlichen Natur“) zur reinen „geistigen Vollkräftigkeit“ oder zur „männlichen Vollkräftigkeit“ entwickelt habe (a.a.O., 50). Die Sündlosigkeit Jesu ist deshalb das Moment des traditionellen Jesusbildes, das Schleiermacher vor allem stark gemacht hat. Bei Jesus waren alle Faktoren der menschlichen Entwicklung so geordnet, dass die Sünde als Störung des Gottesbewusstseins nicht entstehen konnte. Das erkennt die christliche Religion als das Göttliche in Jesus. Dementsprechend ist Jesus für sie mehr als nur ein Vorbild des Glaubens. Er ist als Christus „Urbild“ (vgl. a.a.O., 45-48) und das bedeutet: Nur von ihm geht diejenige Kräftigkeit des Gottesbewusstseins aus, die bei anderen Menschen dieses Bewusstsein so zu stärken vermag, dass sich bei ihnen das Bewusstsein der Erlösung einstellt.

Ich gehe jetzt nicht auf die Kritik ein, welche diese ganze Konstruktion vom Neuen Testament her verdient. Im Horizont des christologischen Gesprächs geht es hier zweifelloslos darum, die ontologisch gemeinten Aussagen der „Christologie von oben“ in Kategorien des religiösen Bewusstseins zu übersetzen. Der Grund dafür ist, dass dem Bekenntnis zu Jesus als Christus die Anstößigkeit für das neuzeitliche Wirklichkeitsverständnis genommen werden soll. Als gewissermaßen vertretbares Geheimnis bleiben nur die ungeklärten Umstände auf dem Plan, unter denen sich die Vollkräftigkeit des Gottesbewusstseins Jesu entwickelt haben soll. Doch auch wenn Schleiermachers bewusstseins-theologische Konstruktion der Entwicklung des „Seins Gottes“ in der Kindheit Jesu nicht viel Beifall gefunden hat, so hat doch sein Vorgehen strukturell-christologisch Schule gemacht. Die Verortung des christologischen Bekenntnisses zu Jesus als Christus in der Anthropologie wurde zu einem Anliegen, das seither in einer ganzen Reihe von Variationen einen Platz im christologischen Gespräch einnimmt.

 Das schafft für das interreligiöse Gespräch über Jesus und seine Bedeutung für den Gottesglauben heute eine nicht ganz einfache Situation. Auf der einen Seite kann man zwar sagen: Dieses Gespräch wird durch ein christologisches Denken erleichtert, dass den Einwänden gegen das Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu Rechnung zu tragen versucht. Die Denkformen, die dabei unter dem Eindruck neuzeitlicher Kritik (kaum unter der des Islam) an der Christologie entwickelt wurden und werden, laufen darauf hinaus, Jesus in der Besonderheit seiner Existenz und seiner Botschaft in einer Weise zu würdigen, die den Rahmen des Menschenmöglichen nicht grundsätzlich sprengt. Adolf von Harnacks berühmter Satz, dass „nicht der Sohn, sondern allein der Vater […] in das Evangelium“ gehört (vgl. Das Wesen des Christentums, hrsg. und kommentiert von Trutz Rendtorff, Gütersloh 1999, 154), kommt zum Beispiel über das Verständnis Jesu als einzigartigen Propheten nicht wesentlich hinaus.

Auf der anderen Seite erschwert oder verkompliziert diese Art des theologischen Liberalismus aber auch den interreligiösen Dialog über Jesus Christus. Das gilt nicht nur darum, weil seine Kritik des biblischen Christusverständnisses natürlich auch nicht wenige Aussagen des Qur’ān von Jesus (z.B. über seine Wundertätigkeit und seine Auferstehung) mit betrifft und darum als negatives Vorurteil erscheinen kann. Das gilt aber vor allen Dingen darum, weil sich das christologische Denken in der evangelischen Theologie seit der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts in einer lebhaften Bewegung befindet, die für nicht-christliche Gesprächspartnerinnen- und Partnern nicht einfach nachzuvollziehen ist. Es geht darum, die Alternative zwischen einer „Christologie von oben“ und einer „Christologie von unten“ zu überwinden und doch beiden Perspektiven ihr berechtigtes Anliegen zu lassen. Dabei hat unter dem Eindruck der historisch-kritischen Erforschung des Neuen Testaments insbesondere die „Christologie von oben“ gegenüber dem inkarnations-theologischen Denken der kirchlichen Tradition ein neues Profil gewonnen. Ich sage: ein dialogisches Profil in der Perspektive des nachösterlichen Christus einerseits und des vorösterlichen Jesus andererseits. Dieses Profil der Christologie deutete sich – wie wir gesehen haben – schon in Chalcedon an. Es kann heute aber ohne den Ballast der antiken Substanz-Ontologie, welche die Zwei-Naturenlehre in das biblische Christus-Zeugnis eingetragen hat, entfaltet werden. Sein entscheidender Haftpunkt ist das biblisch begründete Verständnis der Auferstehung Jesu Christi. Ich zeichne die Dynamik, die von dieser Erfahrung der ersten Christenheit ausgeht, jetzt im Spiegel des christologischen Gesprächs der letzten Jahrzehnte in groben Strichen nach. Mein Interesse ist dabei, den vorösterlichen Jesus als ein Bindeglied zwischen dem Islam und dem Christentum so zur Geltung zu bringen, dass gerade der nachöstliche Christus dieses Bindeglied befestigt,

 

3. Die Auferstehung Jesu Christi als „christologisches Urdatum“ und die Verborgenheit Gottes im Leben Jesu

„Ist Christus nicht auferstanden, so ist euer Glaube nichtig“. So steht es in einem der frühesten Texte des Neuen Testaments im 1. Korintherbrief des Apostels Paulus (1. Kor. 15, 17). „Nichtig“ wäre demnach auch das Auftreten und die Verkündigung Jesu. Nicht nichtig, sondern bedeutsam und wichtig bleiben dieses Auftreten und diese Verkündigung, weil Jesus als Auferstandener von den Jüngern und anderen Zeugen seiner Erscheinungen nach seinem Tode  erfahren wurde. Wir wissen nicht, ob die Evangelien, die das Auftreten und die Verkündigung Jesu schildern, auch entstanden wären, wenn es die Begegnung mit dem auferstandenen Jesus nicht gegeben hätte. Es ist angesichts der Berichte von der Flucht seiner Jünger und Anhänger bei der Kreuzigung eher unwahrscheinlich. Als Motiv, das Leben Jesu so zu vergegenwärtigen, wie es die Evangelien dann getan haben, bleibt nur die Erfahrung der Auferstehung Jesu Christi. Was war das für eine Erfahrung?

            Negativ können wir sagen: Bei den Erscheinungen Jesu nach seinem Tode handelt es sich nicht um die Rückkehr eines Toten in das irdische Leben, in dem nach wie vor gestorben werden muss. Zum Verständnis dessen, was Auferstehung bedeutet, muss vielmehr die jüdische Hoffnung auf die Auferstehung der Toten heran gezogen werden. Die Toten werden auferstehen, wenn Gott am Ende der Zeiten Gericht hält über die Lebenden und die Toten. Dass Jesus als Auferstandener erfahren wurde, bedeutete darum, dass sich an und in ihm schon das Ende der Zeit und das Gericht Gottes ereignet hatten. Sein ganzes vergangenes Leben und Sterben wurde durch den ihn auferweckenden Gott zu bleibend gewärtiger Heilszeit und Zeit der Gnade Gottes für alle Menschen qualifiziert. Wer an ihn glaubt, gewinnt in der Gemeinschaft mit ihm einen Vorsprung heiler, nicht durch menschliche Zerstörungs- und Vernichtungswut zerrissener Zeit mitten in dieser Zeit. Das war der Grund, warum Jesus Hoheitstitel wie Christus, Kyrios, Sohn Gottes usw. zugelegt wurden, ja nicht nur „zugelegt“ wurden. Paulus sagt sogar, dass Gott Jesus zum Sohne Gottes „eingesetzt (!) hat in Kraft gemäß dem Geist der Heiligung aus der Auferstehung der Toten“ (Röm 1, 4). Die Auferweckung Jesu durch den von ihm verkündigten Gott konnte von den Auferstehungszeugen nicht anders verstanden werden denn als eine einzigartige Auszeichnung dieses Menschen durch Gott. Im Neuen Testament wird das auf vielfältige Weise so ausgedrückt, dass Gott Jesus seiner göttlichen δόξα – der biblischen Charakterisierung der Göttlichkeit Gottes – teilhaftig gemacht habe. Von der Auferweckung Jesu kann darum als von seinem „Eingehen“ in die δόξα Gottes (Lk 24,26) geredet werden. Durch sie ist er auferweckt (Röm 6,4). In sie ist er aufgenommen (Ti 3,16). Ihm ist sie gegeben (I Petr 1,21). Besonders das Johannesevangelium hat die Auferweckung Jesu immer wieder als ein δοξάζειν bezeichnet (vgl. Joh 7,39; 12,16.23 u.ö).

Ostern, d.h. die Erfahrung des auferstandenen Jesus. ist darum mit Recht das „Urdatum“ der Christologie genannt worden (vgl. z.B. Gunther Wenz, Christus. Studium Systematische Theologie, Band 5, Göttingen 2011, 43). Dieses „Urdatum“ schafft für die Christologie allerdings auch ein Problem. Denn wenn Gott Jesus erst im „eschatologischen“ Akt der Auferstehung zum Christus macht, dann scheint das zu bedeuten, dass er während seines irdischen Erdenlebens und auch im Tode noch nicht der Christus war. Ihm würde dann gewissermaßen erst im Nachhinein die Qualität einer zu Gott gehörenden Wirklichkeit zugesprochen. Dieser Konsequenz ist die Christologie der Alten Kirche nicht zu Unrecht ausgewichen. Denn sie widerspricht dem durchgängigen Zeugnis des Neuen Testaments, dass Jesus in seinem ganzen Erdenleben und in seinem Tode der Sohn Gottes war. Die alte Christologie hat darum die Inkarnation als Voraussetzung des Lebens und Sterbens Jesu verstanden, wobei die im Neuen Testament eigentlich schlecht bezeugte Vorstellung von der Jungfrauengeburt den Stellenwert eines „christologischen „Urdatums“ bekam. Demgegenüber hat Eberhard Jüngel schon 1970 die Maxime formuliert, es  gelte „die Inkarnation von Tod und Auferstehung Jesu Christi her, nicht aber Tod und Auferstehung Jesu von der Inkarnation her“ zu verstehen (Thesen zur Grundlegung der Christologie , in: ders., Unterwegs zur Sache. Theologische Bemerkungen, München 1972, 277). Doch wie ist das möglich?

Schon in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte Walter Künneth (Theologie der Auferstehung, München 1933, 61962, 114ff.) dafür ein Interpretationsmodell vorgeschlagen, das von Wolfhart Pannenberg und vielen anderen aufgegriffen wurde. Es ist das Modell der „rückläufigen Qualifikation“. Es besagt, dass sich etwas in der Zeit später in Erscheinung Tretendes als der eigentliche Grund des Früheren erweist und dieses Frühere als das qualifiziert, was es eigentlich ist. „Rückwirkend“, hat Pannenberg formuliert, wird durch Jesu Auferweckung darüber „entschieden, […] dass er auch schon zuvor mit Gott eins war“ (Grundzüge der Christologie, Gütersloh 41972, 135).[1]

Dass die Evangelien vom Offenbarwerden dieser rückwirkenden Qualifikation des Lebens und Sterbens Jesu Christi her geschrieben sind, duldet keinen Zweifel. Sie stellen dieses Leben und Sterben aus der Perspektive der Erfahrung der Auferstehung Jesu Christi als das des Christus, des Gottessohnes, des Kyrios dar. Dabei bleibt aber erkennbar, dass zu Lebzeiten des irdischen Jesus strittig war, ob er der Christus sei. Dass er sich selbst nicht als solcher verkündigt hat, scheint als Erinnerung an den irdischen Jesus im Evangelium des Markus – dem Grundtypus für ein Evangelium – noch durchzuscheinen. Jesus verbirgt in der Darstellung dieses Evangeliums, wer er in Wahrheit ist, wiewohl seine Verkündigung und sein Verhalten implizit einen besonderen „Vollmachtsanspruch“ bei der Ansage der Nähe des Reiches Gottes bemerkbar werden lassen. Dass er der Messias ist, kann aus der Perspektive seiner irdischen Existenz aber nicht abgelesen werden. Dennoch bringt das Evangelium diese Perspektive zur Geltung. Sie kann auch unter der Voraussetzung, dass Jesus – mit der berühmten Formulierung von William Wrede gesprochen (Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, Göttingen 1901) – schon damals war, wer er als Auferstandener heute ist, nicht unterschlagen werden. Warum nicht?

Die Antwort darauf ist verhältnismäßig naheliegend. Gottes Qualifikation dieses Menschen mit seiner δόξα ist keine dem Menschen Jesus immanente Qualität. Sie eine ihm allein von Gott her zukommende Auszeichnung, die der Erfassung aus weltlichen Zusammenhängen heraus entzogen bleibt. Wir bekommen  sie im Leben und Sterben Jesu nicht so zu fassen, wie wir weltliche Sachverhalte zu erfassen pflegen. Gott macht sich vielmehr in seiner eschatologischen, göttlichen, für Menschen unverfügbaren, unsichtbaren, verborgenen Weise mit diesem Menschen eins. Er bleibt in seinem Eins-Sein mit diesem Menschen, das alleine von ihm her konstituiert und wirklich ist, allem Zugriff von der Welt her entzogen, auch dem Zugriff des Jesus, der sich nur voller Vertrauen an den unverfügbaren Gott wenden und zu ihm beten kann.

Gott verschlingt diesen Menschen also nicht mit seiner Göttlichkeit, sondern gibt ihn im Gegenteil in seiner ganzen Menschlichkeit frei, indem er seine göttliche Klarheit in seinem Verkündigen und Auftreten offenbar werden lässt. Wäre Gott in seiner Göttlichkeit anwesend wie die Welt, dann könnte die Welt und mit ihr Jesus im Lichte seiner δόξα nur verbrennen und vergehen. Gott wird darum in diesem Menschen vorsichtig anwesend und vorsichtig mit ihm eins. Er tritt gewissermaßen einen Schritt vor ihm zurück, um ihm für sein Menschsein und den Vollzug seines Menschseins Raum zu geben. Darum dürfen, ja müssen wir diesen Menschen, gerade indem er als Christus bekannt wird, in seiner vollen Menschlichkeit ernst nehmen. Denn die Identifikation Gottes mit Jesus vernichtet den Unterschied von Gott und Mensch nicht. Er bringt ihn vielmehr inmitten dieser vorsichtigen, das Menschsein Jesu respektierenden Art und Weise der Identifikation zur Geltung. Damit ist aber für alle Christologie die Direktive gegeben, die Situation einzuprägen, in der Jesus in der Unterschiedenheit von Gott als Mensch die Nähe des Reiches Gottes angesagt hat.

 

4. Jesus im vielfältigen  Zeugnis der Evangelien und in historisch-kritischer Perspektive

Es sind nach meinem Verständnis vor allem zwei Charakteristika der neutestamentlichen Jesus-Überlieferung, die dazu anzuhalten, die Frage, wer Jesus als Mensch in der Unterschiedenheit von Gott in seinem irdischen Leben war, offen zu halten und sie nicht in einem kirchlich verfestigten Jesus-Bild einzufrieren.

Das erste Charakteristikum ist die erstaunliche Tatsache, dass das Neue Testament uns gleich vier verschiedene Versionen des Lebens und Ergehens , der Verkündigung  und des Handelns Jesu bietet. Bei der Kanonisierung des Neuen Testaments war offensichtlich nicht das Bestreben am Werk, definitiv festzuschreiben, wer dieser Mensch war. Widersprüche sind stehen geblieben. Der Unterschied zwischen dem Johannesevangelium und den synoptischen Evangelien ist gravierend. Warum, muss man sich fragen, hat die alte Kirche, die dann doch so viel Schweiß darauf verwendet hat, die Christenheit im Verständnis Jesu als des erhöhten Christus zu einigen, uns die Zeugnisse vom irdischen Jesus in einer derartig vielfältigen Gestalt überliefert?  Warum lag eine Evangelienharmonie, wie sie dann später verschiedentlich erstellt wurde, offenkundig nicht in ihrem Interesse?

Ich bin in historischer Hinsicht kein Spezialist für diese Frage. Aber mir leuchtet ein, was Ernst Fuchs (ein heute kaum mehr bekannter Exeget aus der Bultmann-Schule) einmal mündlich so formuliert hat: „Die Evangelien sind um das Ereignis des Auftretens Jesu herum geschrieben“. Sie weisen auf dieses Ereignis so hin, wie geschichtliche Ereignisse von ganz verschiedenen Seiten wahrgenommen und bewertet werden können. Indem im Neuen Testament solche verschiedenen Zugangsweisen dazu, wer Jesus war, nebeneinander bestehen, geben sie offenkundig dem offenen Horizont verschiedener, ja unterschiedener  Wahrnehmungen des irdischen Jesus die Priorität und nicht dem Konzept z.B. des Matthäus- oder Johannesevangeliums.  Wenn die Archäologie z.B. Zeugnisse von Jesus finden würde, die einen neuen Aspekt seines Lebens und Verkündigens erschließen würde, wäre die ökumenische Christenheit zweifellos heraus gefordert, über seine kanonische Bedeutung zu entscheiden.

Solche Überlegung erscheint auf den ersten Blick mangels solcher Funde abseitig. Sie ist es aber nicht, wenn wir berücksichtigen, dass Überlieferungen von Jesus auch abseits ihrer kirchlichen Kanonisierung lebendig waren. Sie ernst zu nehmen und mit ihnen dort den Dialog zu suchen, wo sie außerhalb des Christentums wirksam wurden, gehört zu der Dialogbereitschaft über Jesus, die das Neue Testament mit seinen vier Evangelien annonciert.

Das andere Charakteristikum der neutestamentlichen Jesus-Überlieferung ist die unübersehbare Tatsache, dass die Evangelien bemüht sind, Jesus so zu schildern, wie er an konkreten Orten aufgetreten ist und was sich bei seinem Auftreten tatsächlich ereignet hat. Das Lukasevangelium versteht sich regelrecht als Ergebnis sorgfältiger geschichtlicher „Nachforschungen“, die sein Verfasser auch Grund der Berichte von Jesus angestellt hat (vgl. Lk 1, 1-4). Natürlich ist dabei nicht so verfahren worden, wie die historische Forschung unserer Zeit verfährt. Vieles wird da berichtet, was heute keiner historischen Nachfrage Stand hält. Aber grundsätzlich ist nach meinem Urteil die Frage nach dem „historischen Jesus“ mit den Mitteln der historischen Forschung von heute geboten und erlaubt, weil sie zum Einprägen des wahren und wirklichen Menschseins Jesu gehört.

Nicht wenige Theologinnen und Theologen, Historikerinnen und Historiker bestreiten nach dem offenkundigen Scheitern der Leben-Jesu-Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts (vgl. Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 21913) allerdings, dass es überhaupt möglich ist, die vom Glauben an den erhöhten Christus geprägten Evangelien-Berichte auf eine verlässliche historische Basis zurück zu führen. Diese Bestreitung hat auch ihr Recht. Keines der zahlreichen Jesus-Bücher, die in den letzten 150 Jahren entstanden sind, kann den Anspruch erheben, den „historischen Jesus“ erfasst zu haben oder zum „wirklichen Jesus“ zu führen (vgl. hierzu Jens Schröter, Jesus von Nazareth. Jude aus Galiläa –Retter der Welt, Leipzig 2006, 361). Es sind Aspekte, Schlaglichter, die in der Sicht dieser Forschung auf das Leben Jesu fallen, wie es sich für die Zeitgenossen Jesu dargestellt haben mag. Als solche aber sind sie gerade heute unentbehrlich, nämlich als Korrektiv gegenüber Jesusbildern, die sich die christlichen Kirchen gemäß dem jeweiligen Zeitgeist zu machen pflegen. Im Gespräch mit der historisch-kritischen Forschung und ihren durchaus unterschiedlichen Ergebnissen wird die Christologie immer wieder genötigt, sich die konkreten Umstände zu vergegenwärtigen, unter denen Jesus aufgetreten ist. Sie ist dann nicht nur fähig, sich das Befremdliche einer fernen Zeit angehen zu lassen. Sie ist auch dafür offen, im Aushalten und Bedenken der Widersprüche zwischen den Jesus-Darstellungen der Evangelien und ihren historisch-kritischen Korrektiven immer neu danach zu fragen, wer dieser Jesus war. Diese offene Fragehaltung wird sie darum auch in das interreligiöse Gespräch über Jesus einbringen.

 

5. Das Kreuz Jesu Christi und der Geist Friedens

Besteht nach dem Gesagten aller Anlass, die Frage, wer Jesus war, in Bewegung zu halten, so bietet uns weder das Neue Testament noch die historische Forschung einen Spielraum in der Frage an, ob Jesus gekreuzigt wurde. Das Kreuz Jesu ist vielmehr die Tatsache, auf die das gesamte neutestamentliche Christuszeugnis bezogen ist. Auch die historische Forschung sieht keinen Anlass, an dieser Tatsache zu zweifeln. Jesus ist unter der Herrschaft des Tiberius von Pontius Pilatus gekreuzigt worden. Sie wird auch von Tacitus und Josephus kurz erwähnt. Einen Zweifel an der Kreuzigung begründen auch nicht die Berichte von den Erscheinungen des auferstandenen Jesus, bei denen die Frage nach der Identität des Auferstandenen mit dem Gekreuzigten eine gewisse Rolle spielt. Aus ihnen ist nicht zu schlussfolgern, dass der auferstandene Jesus ein anderer gewesen sei als der, der gekreuzigt und begraben wurde. Denn diese Berichte setzen voraus, dass Jesus gekreuzigt wurde und starb. Der Auferstandene muss seine Nägelmale zeigen, um seine Identität mit dem gekreuzigten Jesus auszuweisen (Lk 24, 39-40, Johannes 20, 27).

Wenn es darum einen innerchristlichen Dialog über das Kreuz Jesu Christi gibt, dann bezieht er sich auf die theologische Deutung der Hinrichtung Jesu und nicht auf das Faktum dieses Geschehens als solches. Gegenwärtig findet in der evangelischen Kirche und Theologie z.B. eine ziemliche heftige Auseinandersetzung über die Deutung des Todes mit der Vorstellung vom Sühnopfer für unsere Sünden statt. Ihr wird unterstellt, dass sie ein Gottesbild der Gewalt rechtfertige, weil sie den Tod Jesu als ein Blutopfer für unsere Sünden verstehe, mit dem Gottes Zorn besänftigt werden soll (z.B. Klaus-Peter Jörns, Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh 22005, 286-341). Ich diskutiere diese innerchristliche Auseinandersetzung jetzt nicht. Sie hat für den interreligiösen Dialog über Jesus allenfalls die Bedeutung, dass es für christliche Theologie nicht darum gehen kann, Gott als Verbündeten der Menschen zu verstehen, die Jesus hinrichten und damit angeblich dazu beitragen, seinen Zorn besänftigen. Es sind vielmehr – hier wiederum nur sehr großmaschig angedeutete – drei Gesichtspunkte, die sinnvollerweise in das Gespräch über die Kreuzigung Jesu eigebracht werden können:

Erstens: Dass Jesus gekreuzigt wurde, setzt voraus, dass er ein sterblicher Mensch war, wie wir. Es ist in der christlichen Tradition zwar die Ansicht vertreten worden, dass Jesus als Mensch von Natur aus unsterblich gewesen sei. Das wurde aus der Sündlosigkeit Jesu gefolgert. Denn wenn der Tod mit Paulus als der „Sünde Sold“ verstanden wird (vgl. Röm 6,23), dann kann der, „der von keine Sünde wusste“ (2. Kor 5,21), eigentlich nicht sterben. Diese Meinung vertritt in der evangelischen Theologie der jüngeren Zeit z.B. Wolfhart Pannenberg (Systematische Theologie, Band 2, Göttingen 1991, 310). Im Anschluss an seinen Lehrer Heinrich Vogel (Ecce homo. die Anthropologie Karl Barths, in: Verkündigung und Forschung 1949/50, 124) gibt er nur zu, dass Jesus diesen Tod, den er nicht sterben musste, freiwillig auf sich genommen hat. Pannenberg hat dafür keine Zustimmung gefunden. Wenn Jesus ein wahrer und wirklicher Mensch war, dann gehörte zu ihm auch die Sterblichkeit und damit die Verletzlichkeit seines Lebens durch andere Menschen. Wird das innerhalb und außerhalb des Christentums in Frage gestellt, dann ist darüber zu reden, entsteht Gesprächsbedarf darüber, ob man Jesus auf diese Weise über und neben alle Menschen stellen darf.

Zweitens: Historisch gesehen gibt es für eine solche, von der römischen Besatzungsmacht Israels verhängte Strafe, wie es die Kreuzigung ist, eigentlich nur einen Grund, nämlich den Grund der seditio, des politischen Aufruhrs. Dieser Vorwurf könnte durch das Aufsehen und die gewisse Unruhe unter der armen Landbevölkerung von Galiläa verursacht gewesen sein, die das Auftreten Jesu auslöste. Das politische Missverständnis des Auftretens Jesu könnte so entstanden sein. In gewisser Weise belegt das auch die von den Römern angebrachte Kreuzesinschrift „Der König der Juden“ (vgl. Mk 15,26, Mt 27,37, Luk 23,38; Joh 19,19; zur Sache vgl. Jürgen Becker, Jesus von Nazaret, Berlin/New York 1996, 436f.). Denn außerhalb der Passionsgeschichte kommt dieser Titel nur in Matthäus 2,2 vor, wo die „drei Weisen“ aus dem Morgenlande, also Nichtjuden, nach dem neugeborenen „König der Juden“ fragen. So hätte kein Jude formuliert, sondern vielmehr die Formulierung „König Israels“ gewählt. Wir können also davon ausgehen, dass es die „korrekte Bezeichnung“ ist, „die ein Nichtjude einem jüdischen Prätendenten für ein Herrscheramt“ zulegt (ebd.). Dass sich Jesus selbst so bezeichnet hätte oder zugegeben hätte, dass er sich als ein solcher König verstand, ist ganz unwahrscheinlich. Es hat keinen Anhalt in seiner Verkündigung und in seinem Anspruch, die nahe gekommene Gottesherrschaft anzusagen und diese Botschaft mit dem kompromisslosen Eintreten für das Liebesgebot Gottes zu unterstreichen.

Die Kreuzigung ist also ein empörendes Unrecht, das Jesus angetan wurde. Dass das Kreuz Jesu im Lichte der Auferstehung in der Christenheit zum Zeichen des Sieges Gottes über den Tod und zum Zeichen der Versöhnung von Gott und den Menschen wurde, darf nicht dazu führen, diese Empörung, ja das Entsetzen über den qualvollen Tod Jesu zu unterdrücken. Die Evangelien tun das auch nicht. Sie unterschlagen nicht, wie Jesus im Garten von Gethsemane zitterte und zagte und mit Gott im Gebet rang (Mk 14,32ff. parr.). Sie überliefern, dass Jesus am Kreuz mit Gebetsruf am Kreuz von Psalm 22: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ gestorben ist (Mk 15,34). Sie verdecken – mit den Worten von Karl Barth geredet – nicht, dass Jesu „Tod ein Problem höchster und schwerster Ordnung – ja irgendwie das Problem aller Probleme seiner Existenz, seines Verhältnisses zu Gott und seines Lebenswerkes“ war (Die Kirchliche Dogmatik IV/2, Zollikon-Zürich 1955, 278). In ihnen steckt auch eine Dimension des Protestes gegen diesen Tod, die Gesprächsbedarf darüber schafft, ob dieser schmachvolle Tod sich mit dem Anspruch Jesu verträgt, den Anbruch des Reiches Gottes als eines Friedensreiches zwischen Gott und den Menschen zu verkündigen.

Drittens: Im Lichte der Auferstehung Jesu Christi ist die eben gestellte Frage im Neuen Testament bejaht worden. Das hat vor allem seinen Grund darin, dass Gott, wie wir oben dargelegt haben, in diesem Lichte nicht abseits stehend vom Sterben und Tode Jesu verstanden werden konnte. Wenn er sich mit diesem Menschen Jesus verbunden hat, dann hat er kraft seiner Anwesenheit in diesem Menschen nicht nur seinen Lebensweg, sondern auch sein Leiden und seinen Tod geteilt. In der evangelischen Theologie herrscht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass hier der eigentliche Anlass für das trinitarische Gottesverständnis liegt, das den Dialog mit den anderen nichtchristlichen monotheistischen Religionen nicht wenig erschwert.[2]

Denn der christliche Glaube an Gott kommt nicht umhin, einen Unterschied in Gott wahrzunehmen. Gott, der Sohn, der das Leben Jesu bis in den Tod teilt, und Gott, der auferweckende Vater, der das göttliche Leben im Tode Jesu durchhält, sind zu unterscheiden und zugleich kraft seines göttlichen Geistes innig aufeinander zu beziehen. Diese Unterscheidung und Beziehung ermöglicht es im christlichen Verständnis, Gott als einen zur Geschichte mit uns Menschen fähigen Gott zu verstehen. Er verbindet sich mit dem Leben des Menschen Jesus bis in den Tod hinein, um seine göttliche Lebenskraft uns sterblichen und von so viel Sünde geprägten Geschöpfen mitten in dieser Weltzeit zu Teil werden zu lassen.

Der Dialog über Jesus, in dem sich die christliche Theologie im Wechsel der Perspektiven zwischen dem vorösterlichen Jesus und dem nachösterlichen Christus schon immer befindet, ist darum letztlich ein Dialog über das Gottesverständnis. Das meint nicht einen Dialog über die mehr oder minder abstrakten Denkformen trinitarischen Denkens, die im Laufe der Theologiegeschichte entwickelt wurden und heute in einer ganzen Fülle von Modellen für ein trinitarisches Gottesverständnis auf dem Plan sind. Dergleichen bleibt zur Selbstverständigung der Christenheit nötig. Der Kern der Sache aber ist darüber hinaus, ob da, wo der Name Jesus aufgerufen wird, dem Geist des Friedens Gottes mit seinen Geschöpfen und zwischen seinen Geschöpfen Raum gegeben wird, für den Jesus gelebt und gelitten hat. Wo dieser Geist lebendig ist, können Religionen, die ganz verschiedene Zugänge zu Jesus haben, sicherlich nicht nur nebeneinander bestehen. Sie vermögen gemeinsam auch Wege zu bahnen, auf denen unsere gegenwärtig so zerrissene Welt im Zeichen des Gottes der Liebe und der Barmherzigkeit als Gemeinschaft von Geschöpfen Gottes zueinander findet.

 


[1] Nebenbei bemerkt: Dieses Modell stammt eigentlich von Søren Kierkegaard. Es wird bei ihm in ganz anderem Zusammenhang verwendet. Kierkegaard war der Meinung, dass das Aufhören der Liebe zwischen Menschen auch für ihre Vergangenheit „rückwirkende Kraft“ hat und sie als Zeit der Nicht-Liebe qualifiziert (vgl. Der Liebe Tun, Band 2.Etliche christliche Erwägungen von Form von Reden. Zweite Folge, Gütersloh 21992, 312).

[2] Bernhard Steffens Untersuchung über das „Das Dogma vom Kreuz als Beitrag zu einer staurozentrischen Theologie“ von 1920 wird dabei viel zitiert: „Nicht die spärlichen trinitarischen Formeln des Neuen Testaments, sondern das durchgehende, einheitliche Zeugnis vom Kreuz ist der Schriftgrund für den christlichen Glauben an den dreieinigen Gott und der kürzeste Ausdruck für die Trinität ist die göttliche Kreuzestat, in welcher der Vater den Sohn sich durch den Geist opfern lässt“ (152).


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