Vorträge
< "Verengt" christologische Konzentration die Möglichkeiten von Gotteserfahrung?
07.06.2015 09:16 Alter: 9 yrs
Kategorie: Vorträge

Welche Möglichkeiten von Schuld zu reden, gibt es aus theologischer Sicht?

Impulsreferat auf dem Kirchentag am 04. Juni 2015 in der Stiftskirche Stuttgart


1. Die Koordinaten des christlichen Redens von Schuld

Theologisch – das heißt dem Glauben an Gott nachdenkend – ist die Frage, welche Möglichkeiten es gibt, von Schuld zu reden, eigentlich ganz einfach zu beantworten. Alle Christinnen und Christen, die das Vaterunser beten, kennen diese Antwort. „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“, bitten sie Gott mit den Worten Jesu jeden Sonntag und vielleicht sogar an jedem Tag.

Die erste Möglichkeit, von Schuld zu reden, ist für die Christenheit also das Beten. Im Reden zu Gott, im Stehen vor Gott hat das Reden von Schuld demnach seinen klaren Ort. Denn im Reden zu Gott ist es sinnlos, uns irgendwie um das herum zu mogeln, was wir uns zu Schulden kommen lassen, indem wir Gott vergessen und unsere Mitmenschen verletzen. Da müssen wir sein, wie wir sind. Da können wir sein, wie wir sind – mit unseren Gedanken und Geheimnissen, mit unserem Handeln und Verhalten, mit unseren Taten und Missetaten.

In dieser Weise unverstellt – nackt – offenbar zu sein, getrauen wir uns vor Menschen nur selten oder gar nicht. Denn wir wissen nicht, wie sie darauf reagieren. Vor Gott können wir es uns getrauen. Denn indem wir nach der Anweisung Jesu unsere Schuld vor ihn bringen, bringen wir es vor den, der Schuld vergibt. Das Reden von Schuld hängt darum mit der Bitte um Vergebung der Schuld unlöslich zusammen. Von Schuld zu reden, ohne um Vergebung zu bitten, ist darum im Geiste Jesu, der uns das Beten gelehrt hat, kein wahrhaftiges Reden. Schuld, die nicht vergebungsbedürftig ist, gibt es nicht.

Dieser Zusammenhang von Schuld und Vergebung hat auch Konsequenzen für unseren Umgang mit Menschen, die an uns schuldig geworden sind. Jesus hat das mit dem Gleichnis vom „unbarmherzigen Knecht“ eindrücklich illustriert (vgl. Mt 18, 26-34). Einem seiner Knechte hatte sein Herr alle seine großen Schulden erlassen. Und was macht der? Der geht hin, packt und würgt denjenigen, der ihm eine Kleinigkeit schuldet. „Das geht gar nicht“, sagt Jesus mit dieser Geschichte. Wer von der Vergebung der Schuld lebt, ist selbst zur Vergebung von Schuld bereit. Ist er das nicht, dann ist Gottes Vergebung im Grunde gar nicht bei ihm angekommen. Dann bleibt er in Schuld verstrickt.

Selbst angewiesen sein auf Vergebung der Schuld und bereit sein zum Vergeben von Schuld – das sind also die Koordinaten, in welche alles Reden von Schuld im Glauben an Gott gehört. Aber dagegen wird sofort ein Einwand, wenn nicht ein Protest laut. Sprengt das Ausmaß der Untaten, mit denen Menschen, Völker, Regierungen an anderen Menschen schuldig werden, diese Koordinaten nicht gänzlich? Denn die Schuld, von der wir hier reden, verdankt sich in allen Variationen einem Handeln und Verhalten von Menschen, das anderen Leid zufügt, unermessliches Leid sogar. Dürfen, können die Mörder von Auschwitz Gott um Vergebung bitten und vergibt ihnen Gott tatsächlich? Dürfen, können wir ihnen vergeben?

Diese Fragen stellen sich nicht bloß im Blick auf die Vergangenheit. Wir würden kein Ende finden, wenn wir das große Leid schildern wollten, das Menschen heute mit dem Anzetteln von Kriegen, mit dem Ausüben von Terror, mit dem Schüren von Hass, mit einer ausbeuterischen Wirtschaft usw., usw. über andere Menschen bringen. Nicht weniger uferlos wäre das Reden von dem Leid, das Menschen sich zufügen, indem sie sich in ihrer persönlichen Lebenswelt betrügen und verraten, misshandeln, übervorteilen usw., usw. Wollte man nur eine Woche lang zusammenstellen, was in der Zeitung und erst recht im Internet und sonstigen „Medien“ über die Schuld von Menschen steht, die anderen Leid zufügen, dann würde dieser Kirchentag nicht reichen, damit ans Ende zu kommen. Das Reden vom Zusammenhang von Schuld und Vergebung bliebe da bestimmt auf der Strecke. Stiftet uns Jesus also zu einer utopischen Illusion an?

 

2. Die Schuld der Täter und der Opfer

Um uns durch die aufgeworfenen Fragen hindurch zu finden, ist es zunächst geraten, einige klärende Unterscheidungen zu treffen. Allem voran ist das die Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern. Es ist etwas anderes, wenn die Opfer menschlicher Untaten von der Schuld der Täter reden oder wenn die schuldigen Täter das tun oder tun sollen. Die Opfer verlangen danach, dass die Schuld der Täter umfassend ans Licht kommt. Das rehabilitiert sie als Menschen, die man erniedrigt und beleidigt, verfolgt und gequält hat. Denn sie sind nicht das, was man ihnen angetan hat. Sie sind keine Null, kein „Stück Mensch“, mit dem man umspringen kann, wie‘s beliebt. Indem die Nichtswürdigkeit, ja Unmenschlichkeit der Täter offenbar wird, kommt die Würde der Opfer als Personen, die von den Tätern mit Füßen getreten wurde, wieder zum Vorschein.

Wenn die Täter dagegen von ihrer Schuld zu reden genötigt werden, dann beobachten wir genau die umgekehrte Tendenz. Hier herrscht das Bestreben vor, die eigene Schuld zu verbergen, zu relativieren oder ganz zu leugnen. Wir haben es im großen Maßstab in Deutschland seit 1933 nach unterschiedlich schlimmen Diktaturen zweimal erlebt. Die meisten haben mitgemacht, Leid über ihre Mitmenschen zu bringen. Am Ende aber will es keiner gewesen sein. Nur Befehlen gehorcht zu haben, und selbst nicht verantwortlich zu sein, war die Entlastungsstrategie der NS-Täter. „Ich habe niemand geschadet“, wurde nach der deutschen Vereinigung geradezu zum Motto der Selbstrechtfertigung der Inoffiziellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stasi und sonstiger Funktionäre des SED-Unterdrückungsapparates.

Die Schere zwischen dem Offenbarmachen der Schuld  der Täter durch die Opfer und dem Verbergen der Schuld durch die Täter klafft also ziemlich weit auseinander. Sie wird auch dadurch nicht kleiner, dass sich Menschen und Menschengruppen, die selbst gar keine Opfer sind, die Stimme der Opfer zu Eigen machen. Die Täter werden dann nicht nur von Einzelnen quasi privatim gedrängt, ihre Schuld einzugestehen. Sie sollen vor der Öffentlichkeit bekennen, was sie getan haben. Sie sollen zur Verwerflichkeit dieser Taten vor einem Forum stehen, das „lückenlose Aufklärung“ verlangt.

Die Verachtung durch die Öffentlichkeit, die sie dann zu erwarten haben, hemmt sie verständlicherweise, sich derartig schuldig zu bekennen. Wenn sie gegen Gesetze verstoßen haben, kommt hinzu, dass sie der Strafe ausweichen wollen. Doch wir reden hier nicht vom juristischen Umgang mit Schuld. Das ist ein Thema für sich. Wir reden davon, dass Menschen – selbst wenn sie in ihrem Gewissen durchaus so etwas wie ein Schuldgefühl plagt – sich dagegen wehren, dass sie als nichtswürdige Menschen verachtet werden. „Am Pranger kann man keine Schuld bekennen“, haben bei der Stasi-Debatte nach dem Ende der DDR selbst die Opfer den Tätern zugestanden. Auch die Würde der Täter als Personen, die als Menschen nicht in ihren Taten aufgehen, steht auf dem Spiel, wenn von ihrer Schuld die Rede sein muss.

Weil das so ist, gibt es bei genauem Hinsehen eine gemeinsame Empfindung  von Tätern und Opfern. Diese Empfindung ist die Scham. Was die Opfer betrifft, so ist sowohl nach dem Ende der Naziherrschaft wie nach dem Ende des „real existierenden Sozialismus“ wie in jüngerer Zeit beim Offenbarwerden des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen ein eigentlich erstaunlicher Sachverhalt wahrzunehmen. Die Mehrzahl der Opfer meldet sich nicht.

Ich kann das verstehen. Mir war nach dem Ende der DDR überhaupt nicht danach zumute, all die beschämenden Erniedrigungen aufleben zu lassen, mit denen man mich als Achtzehnzehnjährigen im Stasi-Knast traktiert hatte. Aber nicht nur das. Auch wenn man Opfer von Gewalt und Unterdrückung wird, ist man nicht einfach ein unschuldiger Mensch. An die eigene Feigheit, an die Anpassung an die Unterdrücker und die Überlebenskünste, die zu Lasten anderer Menschen gehen, will man nicht so gerne erinnert werden, wenn die Schuld der Täter auf der Tagesordnung steht.    

Wer sich der eigenen Schuld bewusst ist, wird deshalb auch den Tätern die Scham zugestehen, die sie veranlasst, sich vor dem vernichtenden Bloßgestelltsein ihrer Person zu schützen. Selbst Gott billigt ihnen das zu, wie wahre Geschichte vom menschlichen Schuldigwerden am Anfang der Bibel in 1. Mose 3 zeigt. Adam und Eva – das heißt wir alle (!) – können sich nicht mehr sehen lassen, nachdem die Schande dessen, was sie – was wir – getan haben, offenbar ist. Sie verstecken sich wie wir. Aber Gott kleidet die erbärmlich Nackten. Er schützt sie, um sie vor der erbarmungslosen Zuordnung zu „Untermenschen“ oder dergleichen zu bewahren. Was sie getan haben, verdammt sie nicht, nackt und ohne Zukunft dazustehen.

Dietrich Bonhoeffer, der fast als einziger unter den evangelischen Theologinnen und Theologen  des 20. Jahrhunderts über die Bedeutung der Scham nachgedacht hat, hat daraus eine wichtige Konsequenz gezogen. Er hat gemeint, dass Gott schuldig gewordenen Menschen mit dem Zulassen der Scham und des Verhüllens einen Rückzugsraum gewährt, der sie als seine Geschöpfe schützt. Diesen Schutzraum hat er als Vorschein des rettenden Handelns Gottes – der Vergebung – verstanden, mit der Gott uns Menschen in Jesus Christus bekleidet.

 Das berechtigte Interesse der Opfer am Offenbarwerden der Schuld der Täter wird damit nicht verneint. Es gehört – wie gesagt – zur Rehabilitierung ihrer eigenen Menschenwürde. Christinnen und Christen aber wissen auch um ihre eigene Schuld und um den Schutzraum, den sie wie die Täter brauchen, um Menschen zu sein, die Gott nicht aufgegeben hat. Sie haben darum die Kraft, für einen neuen Anfang des Lebens auch derjenigen einzutreten, die an ihnen und anderen schuldig geworden sind. Sie lechzen nicht nach Rache. Sie möchten – wie Gott – , dass die Wölfe bei den Lämmern wohnen (Jesaja 11, 6). Aber noch einmal: Ist das nicht völlig unrealistisch?

 

3. Freiheit zum Bekennen von Schuld

„Sie soll es nicht wagen, ihm zu vergeben“, sagt Iwan in Fjodor Dostojewskis Roman „Iwan Karamasow“ von der Mutter, deren Söhnchen ein russischer General von seiner Hundemeute wegen einer Nichtigkeit hat zu Tode hetzen und zerfleischen lassen. „Ich werde niemals vergeben“ hat Kathleen Zahavi, eine Überlebende von Auschwitz, im Lüneburger  Prozess unlängst einem Kassenwart des Todes ins Gesicht gesagt. Das Übermaß des Grauens, an dem dieser Mensch beteiligt war, der den letzten Besitz der Ermordeten mit pervertierter preußischer Gewissenhaftigkeit registriert hat, lässt keinen Raum für einen Brückenschlag des Zusammenseins von Opfern und Tätern.

Auch wir Nachgeborenen werden uns wohl hüten, solche Verweigerung von Vergebung für einen Ausweis der Hartherzigkeit der Opfer zu halten. Ihr Herz ist so angefüllt mit den Schmerzen der Leiden der Opfer, dass kein Platz bleibt für ein neues Zusammenleben mit den Tätern. Denn Vergeben heißt ja: Es wird Raum geschaffen für ein Leben, in dem die Vergangenheit der Missetaten nicht mehr dieses Zusammenleben bestimmt. Wo die Wunden aber noch aufgerissen sind, welche die Untaten von Menschen anderen Menschen geschlagen haben, öffnet sich ein solcher Raum nicht.

Aber doch gibt es etwas, was den tiefen, tiefen Graben zwischen dem Leiden der Opfer und den schuldig gewordenen Tätern ein wenig schließt. Das ist die Zeit. Sie lässt Wunden vernarben. Wiederum Dietrich Bonhoeffer hat solchem Vernarben von Schuld im Laufe der Zeit eine wichtige Bedeutung für die Verständigung der Völker Europas nach dem Massenmorden zweier Weltkriege zugesprochen. Soll die europäische Geschichte – meinte er – nicht am Schmerz der Wunden von gestern zugrunde gehen, dann müssen diese Wunden auch vernarben.

Das heißt nicht: Sie werden vergessen. Die Stigmata der Narben sind ja da. Wir fühlen sie. Sie sind Mahnmale der Erinnerung daran,  welches Leid Menschenverachtung, Rassismus und Größenwahn sowie der Anspruch auf eine einzig wahre Weltanschauung  über Völker und Nationen zu bringen vermag. Durch solche Mahnmale der Erinnerung werden wir zudem sensibel dafür, wenn sich unter der Decke bloß vernarbter Schuld Eiterbeulen bilden, die – wie das Neonazitum – das Böse von Gestern wieder hervor brechen lassen. Dennoch ziehen sich vernarbte Wunden nicht mehr wie ein beißender Schmerz durch die Zeit, der unfähig macht, einen kleinen Neuanfang aneinander schuldig gewordener Menschen zu wagen. Vernarbung von Schuld, sagt Bonhoeffer, beruht nicht auf Vergebung, aber sie ist so etwas wie „ein schwacher Schatten der Vergebung [...], die Jesus Christus dem Glauben schenkt“.

Man wird diesen „schwachen Schatten“ der Vergebung auch der Schuld von Einzelnen und nicht nur Völkern zubilligen dürfen. Ein ständiges Aufreißen dessen, was die Sanftmut der Zeit vernarben ließ, hemmt selbst kleine, relative Schritte des Neuanfangens. Es gibt einen Rigorismus selbstgerechten Bestehens auf Schuldbekenntnissen ohne Rest, der die Schuldigen erst recht verstockt und selbst noch im Banne des Schuldigwerdens steht. Ein derartiger Rigorismus sollte in der christlichen Gemeinde nicht gepflegt werden.

Denn zum wahrhaftigen Bekennen von Schuld kann man nicht gezwungen werden. Dazu muss man frei sein. Eine christliche Gemeinde ist, wenn sie sich selbst im Geiste Jesu Christi recht versteht,  eine Versammlung von Menschen, in welcher die Freiheit vom Verstricktsein in den Kreislauf von Schuld und Schuldzuweisung erfahren werden kann. Denn in ihr sind Menschen versammelt, die ihre eigene Schuld bekennen, indem sie um Vergebung bitten. Wer zu ihr mit seiner Schuld kommt, trifft auf Menschen, die keine Schuld verharmlosen und dennoch in einer von Gottes Vergeben geprägten Atmosphäre leben.

Kein Glied der Gemeinde Jesu Christi wird sich darum hochmütig über andere schuldig gewordene Menschen erheben. In ihr können sich Menschen schuldig bekennen, ohne vor Scham in den Erdboden zu versinken. Mehr noch: In ihr wird jedem Menschen zugetraut, dass er ein neues Leben frei von der Last der Schuld beginnen kann, die jetzt auf Christi Schultern liegt.

Vielleicht hat diese oder jener von ihnen die Erfahrung gemacht, dass sich die christliche Gemeinde, dass sich die christliche Kirche heute insgesamt durchaus nicht so darstellt, wie sie der Schuld vergebende Jesus Christus meint. Wenn das so ist oder so sein sollte, liebe Schwestern und Brüder, dann ist es allerdings höchste Zeit, dass sie, indem sie das Vaterunser betet, dazu wird.


Nach oben