Kategorie: Vorträge
Gottesvergessenheit und Atheismus im Alltag in besonderer Hinsicht auf den Osten Deutschlands
Vortrag in der Evangelischen Akademie zu Berlin am 15.11.2012
1. Gottesvergessenheit und Atheismus ist nicht dasselbe
Dass Menschen Gott vergessen und, ohne seiner inne zu sein und zu werden, ihren Alltag verbringen, ist nichts, was erst heute oder mit dem Beginn der sogenannten Neuzeit zu beobachten ist. Die Klage darüber begleitet vielmehr das jüdisch-christliche Zeugnis von Gott schon immer. „Ihr habt mich vergessen“, wird diese Klage durch den Mund der alttestamentlichen Propheten regelrecht zur Klage Gottes selbst über seine Menschenwelt (vgl. Ps 50, 22; Jes 17, 10 Jer 3,21; 13, 25. u.ö.). Das scheint die Schattenseite der neuen Epoche von Gotteserfahrung zu sein, die Israel in der Religions- und Weltgeschichte eingeläutet hat. Die polytheistischen Götter und göttlichen Naturgewalten konnten nicht vergessen werden. Sie walteten in der religiös gesättigten Vorstellungswelt von Menschen der Antike überall und aufdringlich in ihrem Alltag, in Natur und Geschichte, und mussten beständig beachtet werden.
Der Glaube an den einen, der Welt jenseitigen Gott, aber hat – wie es heißt – die Welt „entgöttert“. Er verstand Gott so, dass er eine rein weltliche Welt ins Dasein gerufen hat, die ihm gegenüber in eigener Gesetzmäßigkeit der Natur und in eigener Freiheit von Menschen da sein darf. Die Welt und wir Menschen stecken nicht in einer Zwangsjacke, in die Gott uns presst. Unsere Füße sind auf dieser Erde kraft göttlicher Ermächtigung vielmehr auf einen „weiten Raum“ gestellt, wie es in Psalm 31, 9 so unübertrefflich heißt. In diesem Raum macht sich Gott durch besondere geschichtliche Offenbarungen bekannt. Dabei ruft er Menschen auf, ihm zu antworten und ihr Leben in Übereinstimmung mit seinen Weisungen zu führen. Geschichtliche Erfahrungen aber geraten immer in die Mühlen der Zeit. Sie werden Vergangenheit. Vergangenheit jedoch versinkt in menschlicher Geschichte zum größten Teil ins Vergessen. Gottes geschichtliche Erweise unter vergesslichen Menschen in Erinnerung zu rufen, ist darum das Wesen der prophetischen und der christlichen Verkündigung. „Vergiss nicht, was er Dir Gutes getan hat“ (Psalm 103, 2), ist ihr cantus firmus.
Diese wenigen Hinweise auf das Profil des biblischen Gottesglaubens machen zunächst eines deutlich: Gottesvergessenheit ist ein Problem, das mit diesem Glauben strukturell verbunden ist. Der unsichtbare, der Welt jenseitige, unverfügbare Gott ist im Alltag unserer Lebensvollzüge nicht so aufdringlich da, dass es unausweichlich ist, seiner inne zu werden. Sein Offenbarsein in geschichtlicher Ferne, die immer wieder aktuell vergegenwärtigt sein will, muss immer wieder dem Vergessen entrissen werden. Im Grunde können wir die ganze Kirchengeschichte als immer neues Erinnern an Gott in einer Kirche verstehen, die beständig dabei ist, sich vom geschichtlichen Grunde des christlichen Glaubens zu entfernen und selbst unter Gebrauch des Namens Gottes seine Wirklichkeit zu vergessen.
Es ist bemerkenswert, dass der Begriff der „Gottvergessenheit“ schon im 19. Jahrhundert bei einem der wirkmächtigsten Kritiker der christlichen Religion, nämlich bei Ludwig Feuerbach, auf das Vergessen Gottes im Christentum zielt. In seinem „Wesen des Christentums“ setzt sich Feuerbach mit der Tendenz der christlichen Gotteslehre auseinander, Gott entgegen der Konkretheit, in der er geschichtlich begegnet, als unbestimmbar und unaussprechbar zu verstehen. Er interpretiert das als eine subtile und verschlagene, vom Christentum entwickelte Form, den praktischen Atheismus seines Lebensvollzuges zu verbergen. Es wird Gottes unerkennbares Dasein behauptet, um damit zu kaschieren, dass Gott im Alltag des christlichen Lebens überhaupt keine bestimmende Rolle spielen kann. „Der Mensch entschuldigt mit der Unerkennbarkeit Gottes vor seinem noch übrig gebliebenen religiösen Gewissen seine Gottvergessenheit (!)“ und Feuerbach fügt hinzu: „sein Verlorensein an die Welt“ (Das Wesen des Christentums, Berlin 1984, 2.Aufl., 50).
Ich finde, das ist eine treffende Formulierung für die Existenz von Menschen im Vergessen Gottes. Wo Gott vergessen wird, drohen Menschen – in die Erd-Welt hinein trudelnd –in kurzfristigem Herumrumoren im Endlichen verloren zu gehen. Feuerbach selbst hat freilich seinen Abschied vom Gottesglauben keinesfalls als Absturz in eine Welt des Verlorenseins verstanden. Das hat seine Erinnerung an Gott bewirkt! Entsprechend der Einsicht, dass Gottesprädikate eigentlich Prädikate des Menschseins sind, hat Feuerbach vielmehr eine Lehre vom Menschen im höheren Chor propagiert. Danach ist der Mensch „das höchste Wesen für den Menschen“. Vergessen Gottes kann man das beim besten Willen nicht nennen. Ein „höchstes Wesen“ ist nun einmal ein Gott. Homo homini Deus – der Mensch ist dem Menschen Gott – sagt Feuerbach denn auch ausdrücklich.
Sein Atheismus, auf dessen Wellen auch Karl Marx, Friedrich Engels, Lenin und viele andere bis heute surften und surfen, übt sich also mitnichten im Vergessen Gottes. Er hält die Erinnerung an Gott vielmehr lebhaft gegenwärtig! Denn sein Anspruch ist, das, was im Christentum als „göttlich“ gilt, in Menschenhände zu überführen, die ein wahrhaft menschliches Leben besser zu bewerkstelligen vermögen, als es die Illusion von einem der Welt jenseitigen Gott vermag. Aus dem Widerspruch gegen den Gottglauben bezieht dieser Atheismus darum seine Kraft, sein hohes emanzipatorisches Selbstbewusstsein und auch seinen Absolutheitsanspruch. Den „Wendepunkt der Weltgeschichte“ hat Feuerbach die Befreiung vom Gottesglauben genannt. Menschen von ihm frei zu machen, hat denn auch der an Feuerbach anknüpfende Marxismus-Leninismus als seine historische Sendung verstanden.
Darüber, was dabei heraus gekommen ist, werden wir noch sprechen müssen. Wir halten zunächst fest: Es ist gerechtfertigt, das Phänomen des Vergessens Gottes im praktischen Lebensvollzug vom Atheismus als einer kämpferischen Wendung gegen den Gottesglauben zu unterscheiden. Wir halten weiter fest: Vergessen Gottes im Alltag ist von Haus kein atheistisches Phänomen, sondern eine Nebenerscheinung des monotheistischen Gottesglaubens. Im Christentum und im Judentum, aber auch im Islam kann sie in religiös bemäntelter Gestalt auftreten. Das gilt bis heute. Gottesvergessenheit grassiert z.B. unter den Gliedern der Kirche als einer religiösen Massenorganisation in der Gesellschaft ebenso wie unter den Menschen, die heute erklären, nicht an Gott zu glauben und in deren Lebensvollzug dieser Glaube in der Tat keine Rolle spielt.
Insofern müssten die christlichen Kirchen aus langer Erfahrung also bestens gerüstet sein, den spezifischen Formen der Gottesvergessenheit, wie sie heute in Europa und Deutschland auftreten, mit einem Erinnern an Gott zu begegnen, das den Sog jenes Vergessen aufhält. Doch sind sie das?
2. Die Nachhaltigkeit der Säkularisierung in West und Ost
In dem kleinen Text, der unsere heutige Veranstaltung erläutert, wird gesagt, als besonders „gottlos“ würden heute die skandinavischen Länder, Frankreich und – der Osten Deutschlands gelten. In Norwegen habe ich zwar ganz und gar nicht diesen Eindruck gewonnen. Aber wie dem auch sei: Wir können die Erwähnung dieser Länder cum grano salis als Hinweis auf die große Verbreitung der sogenannten Säkularisierung in Europa, besonders in West- und Mitteleuropa verstehen. Als „Säkularisierung“, d.h. als Verweltlichung, wird vor allem von der Soziologie eine Lebenseinstellung bezeichnet, die sich im Gefolge der wissenschaftlichen Erklärung der Welt und ihrer technischen Gestaltung heraus gebildet hat. Menschen leben in der Überzeugung, dass sich die Welt rational erklären lässt und religiöse Lebensorientierungen, die sich auf wie immer geartetes Jenseitiges beziehen, überholt sind. Lange Zeit galt es regelrecht als eine Art Dogma in der Soziologie, dass das Fortschreiten der wissenschaftlich-technischen Entwicklung notwendig solche Säkularisierung nach sich ziehe. In diesem Sinne hat auch in der Theologie Dietrich Bonhoeffers Feststellung, „dass wir völlig religionslosen Zeit entgegen gehen“, einmal viel Zustimmung gefunden.
Heute dagegen wird sowohl in der Soziologie wie in den Religionswissenschaften wie in der Theologie eher die Meinung vertreten, dass die Theorie von der zwangläufigen Säkularisierung, welche die wissenschaftlich-technische Entwicklung nach sich zieht, nicht stimmt. Dagegen spricht nicht nur, dass hoch entwickelte Industrieländer wie die USA, aber auch die südlichen Staaten Europas von intensiver Religiosität geprägt sind. Dagegen spricht neuerdings, dass in den stark säkularisierten Ländern Europas ein Trend neuer Hinwendung zu religiösen Perspektiven zu beobachten ist. Man spricht von einer „Respiritualisierung“ der Gesellschaft, von der „Wiederkehr der Religion“ und gar von einer „Wiederkehr der Götter“. Angesichts der Verunsicherungen, welche die durch Wissenschaft und Technik bestimmten Modernisierungsprozesse auslösen, suchen Menschen in religiösen Erfahrungen, die über das Eingespanntsein in ein bloß funktionierendes Leben hinaus führen, nach einer tiefer und weiter reichenden Erlebnisqualität ihres Daseins.
Ich will jetzt nicht diskutieren, welches Gewicht diese sogenannte „Respiritualisierung“ tatsächlich im Leben unserer Gesellschaft hat und ob sie auch den Kirchen zu Gute kommt. Dass mit ihr schon ein Durchbruch durch die Verbreitung säkularistischer Lebenseinstellungen erreicht sei, aber wird man beim besten Willen nicht behaupten können. Im Blick auf den Osten Deutschland ist die im Impulspapier der Evangelischen Kirche in Deutschland („Kirche der Freiheit“) aufgestellte Behauptung, die „Gleichgültigkeit“ gegenüber dem christlichen Glauben weiche einem neuen Interesse an der Religion, regelrecht falsch. Aber auch weiter westlich ist eine bis in die Kirchen hinein reichende Lebenseinstellung ohne religiöse Praxis und ohne Gottesbeziehung nach wie vor verbreitet und wirkt nachhaltig in die Gesellschaft hinein. Der Religionsmonitor rechnet mit ca 30% der deutschen Bevölkerung, die sich als nicht religiös verstehen, davon 20% regelrecht als Atheisten. Die Spiritualitätsstudie der Identity Foundation aus dem Jahre 2006 kam sogar zu dem Ergebnis, dass 40 % der Deutschen außerhalb und innerhalb der Kirchen „unbekümmerte Alltagspragmatiker“ sind, für die Gottesglaube und Religion im Lebensvollzug kaum eine oder gar keine Rolle spielen.
Während eine derartige Religionsabstinenz sich in den westlichen Bundesländern mit unterschiedlichen regionalen Schwerpunkten, und (wie die Religion in der pluralistischen Gesellschaft auch) mannigfach individualisiert und diffus als Sache der privaten Überzeugung von Einzelnen durch die Gesellschaft zieht, ist das im Osten Deutschlands anders. Hier ist das Leben ohne Gottesbeziehung und ohne explizite religiöse Praxis eine Massenerscheinung Drei Viertel der Bevölkerung leben so. Es geht hier nicht nur um persönliche Einstellungen von Einzelnen, sondern um ein die Gesellschaft prägendes Milieu, das – um mit Peter Sloterdijk zu reden – wie eine hartwandige Blase oder Sphäre alles, was mit Gott und religiöser Praxis zu tun hat, von sich abstößt.
Ich will jetzt nicht darstellen, wie es unter der repressiven Herrschaft einer atheistischen Weltanschauungsdiktatur dazu gekommen ist und welche Faktoren von weiter her – wie z.B. die im 19. Jahrhundert einsetzende Entfremdung der Arbeiterschaft von der Kirche und das Heidentum der Nazis – dabei auch maßgebend waren. Unstrittig ist, dass die massenweise Abkehr vom Gottesglauben und aller expliziten religiösen Praxis auch 23 Jahre nach der „friedlichen Revolution“ eine der erfolgreichsten Hinterlassenschaften des „real existierenden Sozialismus“ sein dürfte. In dem Milieu, das er geprägt hat, ist das Leben ohne den Gottesglauben und ohne die Kirche zur Selbstverständlichkeit geworden. Der größte Teil der Bevölkerung hat sich durch die Jahrzehnte hindurch einfach daran gewöhnt, dass Gott und die Kirche in ihrer Lebensführung nicht vorkommen.
Diese Gewöhnung hat im geistigen Haushalt der Menschen zu einem tief greifenden Traditionsabbruch der christlichen Überlieferungen und Lebensorientierungen und zur Entfremdung von den kulturellen Prägungen unserer Gesellschaft durch das Christentum geführt. Christlicher Glaube oder christliche Frömmigkeit kommen in den Familien nicht mehr vor. Schon die Großeltern, unterdessen auch die Urgroßeltern, waren nicht in der Kirche; die Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen sind es auch nicht. Kinder werden nicht in den Religionsunterricht gelassen. Begegnungen mit der Kirche werden gemieden. Man kann sich darum die Unwissenheit über den Gottesglauben und sein Welt- und Menschenverständnis selbst bei Gebildeten gar nicht groß genug vorstellen. Ich habe das einmal mit der zugespitzten Formulierung ausgedrückt: In dem von der atheistischen Repression des DDR-Sozialismus geschaffenen Milieu haben die Menschen auch schon vergessen, dass sie Gott vergessen haben. Es gehört zum Selbstverständnis dieses Milieus, von der Religion keine präzise Ahnung zu haben, aber dennoch Alles, was ausdrücklich mit „Religion“ zu tun hat, ressentiment-geladen von sich abzuweisen.
Es wäre jedoch verkehrt, die Glaubensferne jenes Milieus mit einer kämpferischen Wendung gegen den Glauben gleichzusetzen. Vom Freiheits- und Emanzipationspathos des europäischen Atheismus, von dem ich eingangs geredet habe, ist die Gottesvergessenheit, mit der wir es im Osten Deutschlands zu tun haben, ziemlich weit entfernt. Dergleichen treffen wir heute eher weiter westlich an, wie z.B. bei den sogenannten „neuen Atheisten“ oder „brights“, die sich zum Ziel gesetzt haben, über die Verderblichkeit von Religion und Gottesglaube aufzuklären. Die atheistisch grundierte Gottesvergessenheit im Osten Deutschlands aber hat im Ganzen keine Aufklärungsinteressen. Sie zeichnet sich vielmehr durch eine gänzliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Gottesglauben aus. Die Menschen machen sich mit den Fragen „Wo ist Gott“? oder „Wer ist Gott“? keine mehr Mühe mehr. Sie sind weder an der Widerlegung des Gottesglaubens noch an der Begründung des Atheismus interessiert. Für sie ist der Glaube an Gott unter die Schwelle der Konfliktfähigkeit gesunken. Charakteristisch ist die Äußerung von Jugendlichen bei einer Befragung auf dem Leipziger Hauptbahnhof. Auf die Frage, ob sie sich „eher christlich oder eher atheistisch“ verstehen, haben sie geantwortet: „Weder noch, normal halt“(vgl. Monika Wohlrab-Saar, Religionslosigkeit als Thema der Religionssoziologie, in: Pastoraltheologie 90, 152). Nur, was ist „normal“?
3. Ethos ohne Gott
Die Frage, welche Grundüberzeugungen im atheistisch-gottesvergessenen Milieu als „normal“ gelten, ist nicht nur für den kirchlichen Auftrag, die Menschen dieses Milieus mit Gott bekannt zu machen, einigermaßen von Interesse. Sie ist aber auch im gesellschaftlichen Interesse wichtig, weil sich die Frage stellt, inwieweit dieses Milieu Träger von ethischen Werten der Freiheit zu sein vermag, die einer humanen, solidarischen Gesellschaft und der Beförderung einer demokratischen Gesinnung zugutekommen. Denn ohne die Haube der Weltanschauung des dialektischen und historischen Materialismus und ohne das Dach einer Religion scheint sich die gottesvergessen-atheistische Lebensweise in einem weltanschaulichen Vakuum zu befinden.
Das „Normale“, von dem unsere Jugendlichen in Leipzig geredet haben, ist aber keinesfalls so etwas wie ein Zerfall der Moral oder ein Nihilismus, der alle überkommenen Werte der europäischen Kultur verneint. Hans Joas hat gerade in seinem Buch „Glaube als Option“ gezeigt, dass überall, wo der Säkularismus sich ausbreitet, Nachklänge des christlichen Ethos wirksam sind und die „soziale Reziprozität“ Menschen schon immer zu einem Ethos der Lebensdienlichkeit verpflichtet. So ist das auch im atheistisch grundierten gesellschaftlichen Milieu im Osten Deutschlands.
Dem scheint aber die von Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebene Rechtsextremismus-Umfrage, die in dieser Woche unter dem Titel „Die Mitte im Umbruch“ erschienen ist, zu widersprechen. Danach haben rechtsextremistische Gesinnungen im Osten Deutschland seit 2002 um die Hälfte zugenommen. Fast 16 % der Ostdeutschen sollen ein „geschlossenes rechtsextremes Weltbild“ haben. Fast 39 % seien ausländerfeindlich. Das wird vor allem auf die sozio-ökonomische Situation, wie die hohe Arbeitslosigkeit, im Osten zurückgeführt. Mit Fragen des Ethos und der religiösen oder weltanschaulichen Grundeinstellung wird dieses Ergebnis nicht in Zusammenhang gebracht. Die Differenzierung zwischen Evangelischer Kirche, Katholischer Kirche und Konfessionslosen aber kommt ohne Angabe der Größenverhältnisse zu dem Ergebnis, dass Protestanten rechtsextremer seien als Konfessionslose, wobei der Wert bei den Protestanten nach unten tendiert und der bei den Konfessionslosen nach oben.
An solche Ergebnisse sind sicherlich mehr als einige Fragen zu stellen. Denn die Konfessionslosen stellen nun einmal im Osten Deutschlands den weitaus größten Bevölkerungsanteil und müssen deshalb m.E. als repräsentativ für durchschnittliche Gesinnungen angesehen werden. Ob es hier einen Zusammenhang von Gottesvergessenheit und rechtsextremer Gesinnung gibt, muss noch untersucht werden. Nicht zu bestreiten ist, dass es vor allem bei Jugendlichen Besorgnis erregende Phänomene von ethischer Verwahrlosung gibt, zu denen auch der Rechtsextremismus gehört, der durch das jahrelange Morden der NSU-Terrorgruppe gerade die öffentliche Aufmerksamkeit und Diskussion bestimmt.
Wir können aber verhältnismäßig sicher sein, dass die überwiegend atheistisch-gottesvergessene Bevölkerung mit „faschistischem“ Gedankengut nichts zu tun haben möchte, weil „Antifaschismus“ für sie zur weiterhin wirksamen sozialistischen Sozialisation gehörte und gehört. Außerdem ist die atheistisch ausgerichtete Konfessionslosigkeit weitaus überwiegend von so etwas wie vom Geist einer verträglichen Menschlichkeit gekennzeichnet, der alle Extreme zuwider sind. Das ist darin begründet, dass der Sozialismus, wie er in der DDR herrschte, bei den Menschen, die sich ihm anpassten, vor allem zur Verinnerlichung von Werten der Gemeinschaftspflege geführt hat. Dazu gehören Hilfsbereitschaft und Solidarität, die Hochschätzung des Wertes der Geborgenheit in der Gesellschaft, aber auch ein Sinn für Gerechtigkeit, so dass das atheistisch-gottesvergessene Milieu durchaus den gesellschaftlichen Frieden stabilisiert.
Woran es diesem Milieu dagegen nach wie vor mangelt, ist die Schätzung der Möglichkeiten gesellschaftlicher Freiheit und ihrer Innovationskraft in einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft. Das eigene, freie Engagement für Ziele, die mit ganzheitlichen Perspektiven den eigenen Lebensumkreis überschreiten, wird eher nicht geschätzt. Da schwingt auch 23 Jahre nach dem Ende des Sozialismus noch der Frust mit, einer totalitären Weltanschauung aufgesessen zu sein, die nicht gehalten hat, was sie versprach. Institutionen, die weltanschauliche Überzeugungen vertreten, haben es darum schwer, Mitglieder zu finden. Die Parteien und Gewerkschaften leiden darunter in vergleichbarer Weise wie die Kirchen. Aber auch eine programmatisch atheistische Vereinigung wie der „humanistische Verband“ hat nur die Größe einer Splittergruppe, obwohl dieser Verband den Anspruch erhebt, die ganze konfessionslose Bevölkerung zu vertreten. Das Bedürfnis, kirchenähnliche atheistische Organisationen zu gründen, ist nicht vorhanden, obwohl man – wie bei der Jugendweihe – die Dienste solcher Organisationen durchaus in Anspruch nehmen kann.
Und noch etwas Weiteres kommt nicht vor. Das ist die Fähigkeit, die eigene Gottesvergessenheit in ein kritisches Licht zu rücken. Dazu bestünde ja eigentlich aller Anlass, nachdem das Scheitern der machtvollen Durchsetzung des Marxismus-Leninismus auch das Scheitern der Gestaltung von Gesellschaftsordnungen der halben Welt auf der Grundlage des Atheismus war. Merkwürdigerweise spielt diese Tatsache bei all den „Aufarbeitungen“ der Sozialismus-Zeit so gut wie keine Rolle. Dabei ist es doch mit Händen zu greifen, dass der Atheismus eine wesentliche Triebkraft war, mit dem die Hierarchen der marxistisch-leninistischen Weltanschauung sich die Menschen gefügig gemacht haben. Die massenhafte Gottesvergessenheit im Osten Deutschland verdankt sich zum größten Teil m.E. nicht der Freiheit eigenen Urteilens, sondern der Unterdrückung von Freiheit, der die Menschen sich um ihres Wohlergehens in der sozialistischen Gesellschaft gefügt haben.
Es zählt darum zu den Paradoxien der europäischen und deutschen Vereinigung, dass ein Grundelement der marxistisch-leninistischen Weltanschauung, das zu ihrem Scheitern gehört, in das Gewand der Freiheit und damit der Privatangelegenheit von allen Einzelnen schlüpfen konnte. Alle gottesvergessenen Bürgerinnen und Bürger der DDR-Zeit konnten vergessen, wie sie das geworden sind. Nicht selbstkritisch, wie es Partizipanten an einem atheistischen Unterdrückungssystem wohl geziemend wäre, sondern von ihrem Recht freier Meinungsbildung Gebrauch machend können sie darum in der pluralistischen Gesellschaft ihr Milieu weiter hegen und pflegen.
4. Gottes großes Projekt
An der Geschlossenheit des konfessionslos-atheistischen Milieus im Osten Deutschlands hat sich in beinahe einem viertel Jahrhundert, das nach dem gesellschaftlichen Umbruch im Jahre 1989 verstrichen ist, nicht sehr viel geändert. Die Pluralisierung und Individualisierung von religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen, die sonst für unsere Gesellschaft charakteristisch sind, hat hier offenkundig nicht zu einer Zerfaserung dieses Milieus geführt. Ob das auch in Zukunft so bleiben wird und wie sich die Durchmischung der Bevölkerung von Ost und West in religiös-weltanschaulicher Hinsicht weiter auswirken wird, ist schwer zu sagen. Mit einer massenweisen neuen Hinwendung zum Gottesglauben ist aus der Bevölkerung, die zu über drei Vierteln keiner Kirche angehört, jedenfalls nicht zu rechnen. Die Menschen haben sich zwar massenweise von der Kirche abgewendet, sie werden aber allenfalls nur alle einzeln wieder für den Glauben gewonnen werden können. Das kann lange dauern und hängt sehr davon ab, wie Menschen, denen der Gottesglaube ganz fremd ist, diesen Glauben kennen lernen.
Nach aller Erfahrung wird das am ehesten durch persönliche Begegnungen geschehen, in denen Christinnen und Christen ihren Glauben an Gott in einer überzeugenden Menschlichkeit darstellen. Die Präsenz von Kirche und Theologie in den Medien ist zwar wichtig. Aber die Vielzahl der Eindrücke, die Menschen hier vom Christentum inmitten anderer Religionen gewinnen, ist doch für jemand, der kaum mehr etwas vom christlichen Glauben weiß, hochgradig verwirrend. Vom Fundamentalismus bis zu einem kritischen, aufgeklärten Glauben, von Kirchen- und Glaubensschelte bis hin zu einladender Verkündigung, von den Schilderungen anderer Religionen bis hin zu Berichten von den zerstrittenen christlichen Konfessionen begegnet hier einem Menschen, der dem Glauben an Gott entfremdet ist, unabsehbar viel Merkwürdiges. Wenn mich jemand aus jenem Milieu nach der Religion fragt, dann geht es meist um Abseitiges oder Absurdes, wobei weithin alle Religionen in einen Topf geworfen werden. Man wird zugeben müssen, dass es die fremde Welt der Religionen einem Menschen, der ganz von vorne anfängt, den christlichen Glauben kennen zu lernen, schwer macht, ein Verhältnis zu diesem Glauben zu gewinnen. Der persönliche Eindruck davon, wie Menschen, die Christinnen und Christen sind, mit dem allem umgehen, dürfte darum sehr wichtig für ein nachhaltiges Bekanntmachen mit dem Glauben an Gott sein.
Ob sich dabei nach und nach auch die sogenannte „Wiederkehr der Religion“ als Assistentin bei der Öffnung Einzelner aus dem konfessionslos-atheistischen Milieu für den Gottesglauben auswirken wird, muss man abwarten. Wenn unter „Religion“ auch solche Phänomene verstanden werden, die mit dem Gottesglauben gar nichts zu tun haben, dann werden wir daran eher zweifeln. Denn natürlich trifft man „Religion“ in einem weiten Sinne auch hier an. Nachklänge der „Religion“ des Marxismus-Leninismus als einem Sinnsystem, das eine Art Glauben verlangt, sind immer noch vorhanden. Die Ritualisierungen des Lebens, die er eingeführt oder befördert hat, sind – wie z.B. die Jugendweihe oder die weltliche Beerdigung – stehen immer noch hoch im Kurs und werden es wohl auch bleiben. Außerdem gibt es die Erscheinungen, die der „Wiederkehr der Religion“ zugeordnet werden, auch im Osten Deutschlands en masse. Die ekstatische Fußballbegeisterung oder die irrationale Hingabe an Trends und Personen der Unterhaltungsindustrie, die als Indizien für jene Renaissance der Religion gelten, sind hier ebenso verbreitet wie in ganz Europa.
In der christlichen Theologie werden wir jedoch eher geneigt sein, dergleichen als Pseudoreligion bezeichnen, welche den Aberglauben wuchern lässt und die Öffnung für die echte Transzendenz Gottes geradezu blockiert. Denn selbst wenn es sich um ein da und dort auch zu beobachtendes Interesse für „Esoterisches“, „Spirituelles“ aller Art, Spiritistisches und sogar „Heiliges“ und anderes Geheimnisvolles handelt, ist damit noch längst nicht gesagt, dass Gott in das Blickfeld tritt. Ulrich H.J. Körnter hat die Religion, um die es bei der „Wiederkehr der Religion“ geht, regelrecht eine „Religion ohne Gott“ genannt (Vgl. Wiederkehr der Religion. Das Christentum zwischen neuer Spiritualität und Gottvergessenheit, Gütersloh 2006, 51–70). Insofern sind Zweifel daran berechtigt, ob das konfessionslos-atheistische Milieu mit Hilfe derartiger „Religion“ von alleine beginnen wird, sich an Gott zu erinnern.
Auf der anderen Seite ist aber auch nicht zu bestreiten, dass sich an jenen quasi-religiösen Phänomen die unausrottbare Tendenz von Menschen zeigt, mit ihren Bewusstsein Alles zu überschreiten, was ihr raum-zeitlich-irdisches Dasein ausmacht. Das begründet auch ihre Fähigkeit, sich von Dimensionen des Unverfügbaren, des Transrationalen, erhebend Höherem und Geheimnisvollen berühren zu lassen. Selbst bei der Verehrung von Pseudotranszendenzen, an denen der Schweiß menschlicher Erhebungen über das Erdendasein klebt, bestätigen Menschen, dass sie nicht leben können, ohne – mit Martin Luthers Auslegung des Ersten Gebotes im Großen Katechismus geredet – ihr Herz „auf etwas zu hängen“, das sie wie Gott bestimmt (vgl. Großer Katechismus, BSLK, 560).
Insofern kann keine Rede davon sein, dass Menschen durch das Vergessen Gottes auch die strukturelle Offenheit von Gottes Geschöpfen für die Beziehung zu Gott verloren haben. Wenn sie auch faktisch Gott vergessen haben, so ist es doch die Gewissheit des christlichen Glaubens, dass Gott sie seinerseits nicht vergessen hat. So gottesvergessen, wie Menschen sich geben, können sie auf die Dauer vor ihm gar nicht sein. Das weiß die Christenheit aus eigener Erfahrung. Denn wie wir uns eingangs verdeutlicht haben, nistet das Phänomen der Gottesvergessenheit auch im Christentum selbst. Aber es hat nach Zeiten, in denen das schlimme Ausmaße hatte, immer auch wieder Zeiten gegeben, in denen ein neues Erinnern an Gott zum Leben in einer lebendigen Gottesbeziehung geführt hat. Diese Erfahrung lehrt uns auch heute zweierlei.
Es gibt erstens keinen Grund, dass sich Christinnen und Christen in irgendeiner selbstgerechten Weise über die Gottesvergessenheit ihres gesellschaftlichen Umfeldes mokieren. Sie wissen, wie sie diese Erschlaffung im Glauben selbst angefochten hat und anficht. Die Realität der sogenannten „Volkskirche“, zu der auch viel Volk ohne Gottesglauben gehört, sollte sie da ganz demütig machen.
Es gibt zweitens aber auch keinen Grund, die Menschen, die Gott vergessen haben und dennoch keine richtigen Atheisten sind, als von Gott und für Gott verloren abzuschreiben. Christinnen und Christen werden vielmehr die Begegnung mit ihnen suchen. Sie werden ihnen zu verstehen geben, dass sie sie gern haben und sich über jedes Zeichen von Menschlichkeit freuen, welches sich mit der Menschlichkeit reimt, die Jesus Christus in die Welt gebracht hat. Sie werden nicht als religiöse Ideologen und Besserwisser auftreten, sondern – um Karl Barth zu reden – als „seltsam menschliche Menschen“, die Partnerinnen und Partner im Teilnehmen am großen Projekt der Menschenliebe Gott suchen.