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< Christianisme sans religion"? De l'actualité des questions posées par Dietrich Bonhoeffer à parti de son 'interprétation a-religieuse de concepts bibliques'
16.10.2013 00:00 Alter: 11 yrs
Kategorie: Vorträge

"Wir verwerfen die falsche Lehre". Wahrheitsanspruch und Widerspruch in der Geschichte des Christentums gestern und heute

Vortrag auf der Tagung der Evangelischen Landeskirche Anhalt "Anhalt[Er]Kenntnisse" in Wörlitz am 16.10.2013


1.     Notwendigkeit und Problematik der Verwerfung „falscher Lehre“

„Wir verwerfen die falsche Lehre“ – gegen diesen Satz, der unserer Besinnung auf den sogenannten „Wahrheitsanspruch“ der Kirche voran steht, wird vermutlich niemand etwas einzuwenden zu haben. Denn er ist in sechsmaliger Wiederholung in einer Situation gesprochen worden, in der die Evangelische Kirche in Deutschland vom Geist und von der Macht des religiös verbrämten Nationalsozialismus zersetzt zu werden drohte. Die Rede ist von der Barmer Theologischen Erklärung. Mit ihr wandte sich 1934 eine im Entstehen begriffene „Bekennende Kirche“ auf ihrer Synode in Barmen-Wuppertal gegen die Usurpation der Gemeinden und der Gesamtkirche in Deutschland durch die sogenannten „Deutschen Christen“. Die sechs Verwerfungssätze negieren, wenn auch in allgemein gehaltener Form, dass Adolf Hitler als eine Offenbarung Gottes angesehen werden kann. Sie schließen aus, dass die Kirche ihn und die Weltanschauung der Nazis zum Herren haben und sich von seinen religiösen Anhängern führen lassen könne. Sie verneinen, dass der Staat zur totalen Ordnung des Lebens werden darf und die Kirche sich in den Dienst seiner Interessen stellt.

Das Einstimmen in diese Verwerfungen ist heute wohl feil. In Kenntnis der mörderischen Verbrechen des Nazi-Regimes wird der „Bekennenden Kirche“ der Anfangszeit des „Dritten Reiches“ sogar angelastet, dass sie die Irrlehren der Deutschen Christen nicht schärfer und präziser verworfen hat. Denn zu diesen Irrlehren gehörte auch der Rassismus und der Antisemitismus, der damals im sog. Arierparagraphen konkrete Gestalt gewann und die Judenverfolgung einleitete. Die Barmer Synode hat dazu geschwiegen. Dieses Schweigen wird heute von nicht wenigen selbst eine Form von Irrlehre bewertet. Eine Kirche, die schweigt, wenn menschenverachtende Gesinnungen und Taten sich in ihr ausbreiten, geht „in die Irre“, wie es im „Darmstädter Wort“ des Bruderrates der „Bekennenden Kirche“ von 1947 heißt, das allerdings auch nicht auf den Holocaust Bezug nimmt.

Diese nur schlagwortartig aufgerufene Erinnerung an die „Verwerfung falscher Lehre“ in der jüngeren Kirchengeschichte gibt uns einen ersten Hinweis darauf, was eine christliche Kirche mit „Wahrheit“ zu tun hat. Ihre Identität gründet darin, dass sie im Glauben an Gott jeden Menschen als einen von Gott bejahten Menschen würdigt und für sein Leben und seine Unversehrheit eintritt. Wahrheit ist im Raum der Kirche an erster Stelle darum nicht irgendeine religiöse oder sonst welche Richtigkeit, auf die „Anspruch“ erhoben wird. Wahrheit – ämät auf hebräisch – ist vielmehr die Verlässlichkeit, in der die Kirche im Glauben an Gott seine nimmer müde Treue für seine Geschöpfe Geltung bringt. Seine Wahrheit ist für jeden  „Schirm und Schild“, dass niemand erschrecken muss „vor dem Grauen der Nacht, vor der Pfeilen, die des Tages fliegen, vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die am Mittag Verderben bringt“, wie es Psalm 91, 4-6 heißt. Sie ist „Fels und Burg“ (Psalm 18,3). Nichts ist darum nahe liegender, als dass eine Kirche, die Repräsentantin der Menschen schützenden und würdigenden Wahrheit Gottes in dieser Welt ist, die Pest und Seuche der Unmenschlichkeit verwirft, die sich sogar in theologischem Gewande in ihr einnisten kann. Der Begriff der „Häresie“ dürfe der weltweiten Christenheit nicht verloren gehen, hat Dietrich Bonhoeffer, einer der entschiedensten Vertreter der Bekennenden Kirche, darum schon 1932 gefordert (vgl. Bericht über die theologische Konferenz der Mittelstelle für ökumenische Jugendarbeit am 29.-30. April 1932 in Berlin, Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW), Band 11, München 1994, 321). Er darf keiner Kirche verloren gehen, können wir sagen, die in einer Welt der nicht enden wollenden Ausbrüche von Unmenschlichkeit den Namen des wahren Gottes mit dem eines wahren Menschen verbindet.

Dennoch wird der Begriff der Häresie heute innerhalb und außerhalb der Kirche nicht geschätzt. In seiner ursprünglichen griechischen Bedeutung klingt er zwar harmlos. Αἱρέω heißt „wählen“. Αἱρέσεις wurden in der Antike die Schulen von Philosophen und Medizinern genannt. Auf dieser Linie wird der Begriff auch noch im Neuen Testament auf bestimmte Gruppen mit einer besonderen Zuspitzung des Glaubens oder der religiösen Praxis angewendet, z.B. auf die Pharisäer (Acta 15,5; 26, 5), die Sadduzäer (Acta 15, 7) und die Nazarener (Acta 24, 5) und sogar auf die christliche Gemeinde selbst – wogegen der lukanische Paulus sich freilich wehrt (Acta 24, 14; 28, 2). Im eigenen Sprachgebrauch des Paulus aber gewinnt der Begriff schon die Bedeutung einer die christliche Verkündigung und die Gemeinde zerstörenden Partei (11. Kor 11, 19, Gal. 5, 20). Im Zuge dessen wurde er zur Bezeichnung einer „Irrlehre“ oder – wie es Spätmittelalter in Brauch kam – einer „Ketzerei“ (abgeleitet von den Katharern). Die Geschichte der Praxis des mittelalterlichen, aber auch noch des reformatorischen Umgangs der Kirche mit „Häretikern“ aber hat an den Begriff „Häresie“ das Odium der Unmenschlichkeit oder mindestens der verbohrten Engstirnigkeit und dogmatistischen Halsstarrigkeit geheftet. Wenn es irgendwie geht, vermeiden unsere Kirchen heute darum diesen Begriff. Es gibt zwar in allen Evangelischen Landeskirchen sogenannte „Lehrbeanstandungskommissionen“. Aber die treten – abgesehen von ein paar Einzelfällen – so gut wie nicht in Aktion. Wenn sie aber in Aktion treten, dann kann man sicher sein, dass die Öffentlichkeit ihnen den Ruch jenes üblen Odiums anhängt.

Diese Reaktion der öffentlichen Meinung auf kirchliche Grenzziehungen gegenüber Positionen, die sich mit dem Verkündigungsauftrag der Kirche nicht mehr vertragen, hängt zweifellos mit der Einschätzung des Religiösen in unserer pluralistischen Gesellschaft zusammen. Der Konsensus ist breit, dass die neuzeitliche Ausdifferenzierung der Gesellschaft zu einer Pluralisierung, Subjektivierung und Privatisierung des Religiösen geführt hat. Wer heute in Distanz zur sogenannten „Dogmatik“ der Kirche religiös ist, bastelt sich, wie Ulrich Beck das genannt hat, seinen „eigenen Gott“(vgl. Ulrich Beck, Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt/a.M und Leipzig 2008, bes. 123-175). Und er wird dafür gelobt. Denn die „Bastelreligiosität“, die sich aus den unterschiedlichsten religiösen Traditionen und Praktiken speist, gilt nicht nur Ausdruck der Freiheit jedes Menschen, zu glauben, was er will. Ihr Verdienst soll es vor allem sein, den religiösen Menschen friedlich zu stimmen. Denn er billigt ohne weiteres auch anderen Menschen zu, zu glauben, was sie wollen und lässt sie deshalb in Ruhe. Das Gegenbild zu diesem religiösen Typ ist dagegen eine „dogmatische“ Kirche, welche die Gläubigen mit ihren Lehrsätzen in ein Korsett zu zwängen trachtet, das ihnen die eigene religiöse Luft abschnürt. Dass sie Häresien verwirft, gilt in dieser Optik geradezu als ihr Sündenfall schlechthin. Aber es kommt noch schlimmer.

Häresien sind zunächst eine innerkirchliche Angelegenheit. In der Abgrenzung von Anschauungen über Gott, über die Schöpfung, über Christus, über den Heiligen Geist usw., welche sich nicht mit dem biblischen Zeugnis und dem Wesen des christlichen Glaubens vertragen, nimmt die Kirche ihre Verantwortung für die Verkündigung, mit der sie sich beauftragt weiß, wahr. Wer zur Verkündigung berufen wird, verpflichtet sich bei der Ordination, diese Grenzen in der Orientierung an den Bekenntnissen der Kirche zu beachten. Denn er wird nicht zum religiösen Herumflottieren, sondern zum Zeugnis von Gott in Jesus Christus berufen. Insofern ist dieses Zeugnis per se mit Abgrenzungen gegen Anschauungen und Deutungen des christlichen Glaubens verbunden, die ihn verdunkeln, verzerren oder gar leugnen. Grundsätzlich gibt es dagegen, dass sich die verkündigende Kirche ständig in einem Prozess der Selbstklärung über die Substanz des christlichen Glaubens und das Profil der christlichen Verkündigung befindet und dabei Grenzen zieht, keinen vernünftigen Einwand.  

Aber die innerkirchlichen Grenzmarkierungen haben auch Konsequenzen für das Verhältnis der Kirche zu Menschen, die in einer anderen Wahrheitsgewissheit leben als sie. Das sind Menschen, die einer anderen Religion anhängen und in unseren mitteldeutschen Breiten die Meisten, die sich als nicht-religiös verstehen und alle Art von Gottesglauben ablehnen. Ihnen spricht die Christus verkündigende Kirche offenkundig ab, die Wahrheit über Gott und die Menschen zu vertreten. Im Verhältnis zu den Atheisten verwundert das nicht weiter. Denn ihr Selbstverständnis ist ja die Gottesleugnung. Darum tut es niemand Unrecht und regt nicht weiter auf, wenn die Verkündigung der Kirche sich dagegen abgrenzt. Für Aufregung sorgt in unserer globalisierten und eng zusammen gerückten Welt dagegen das Verhältnis der Kirche zu anderen Religionen. Das Reizwort, das die Aufregung hier anstachelt, heißt: Monotheismus. Der Glaube an den einen Gott, der die Christenheit mit dem Judentum und dem Islam eint, führe – so die Behauptung –  notwendigerweise zu Intoleranz, ja Gewalt gegen den Vielgötterglauben und zum erbitterten Kampf der monotheistischen Religionen untereinander. Diese Theorie des Ägyptologen Jan Assmann hat unterdessen viele Anhänger gewonnen (vgl. Jan Assmann, Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München/Wien 2003, bes. 28-37). Sie wird auch von den lautstarken „Neuen Atheisten“ heute kräftig in Anspruch genommen. Die Häresie-Geschichte des Christentums wird dabei umfänglich bemüht, um zu belegen, dass der sogenannte „Absolutheitsanspruch“ des Christentums nicht nur eine sprudelnde Quelle von Gewalt, sondern das allergrößte Hemmnis für eine friedliche Welt sei. 

Angesichts der Schlingpflanzen, die nach dem Gesagten den Satz „Wir verwerfen die falsche Lehre“ mit den disparatesten Gesichtspunkten überwuchern, ist es wohl geraten, ihn ein wenig frei zu schaufeln. Das heißt: Er muss erstens von einer in der Tat fragwürdigen Tradition kirchlicher Verwerfungspraxis distanziert werden. Er muss zweitens zum sinnvollen Korrektiv der „Cafeteria-Religion“ werden, wie I. U. Dalferth die Privatisierung des Gottesglaubens in unserer pluralistischen Gesellschaft genannt hat (Ingolf U. Dalferth, „Was Gott ist, bestimme ich!“. Theologie im Zeitalter der „Cafeteria-Religion“, in: Gedeutete Gegenwart. Zur Wahrnehmung Gottes in den Erfahrungen der Zeit, Tübingen 1997, 10-35). Und er muss drittens auf seinen positiven Kern zurückgeführt werden, nämlich auf die Toleranz des alle Menschen bejahenden Gottes.

 

2. Vom Anathema zur „versöhnten Verschiedenheit“

„Anathema“ heißt das Wort, das der Apostel Paulus denen zugeschleudert hat, die ein anderes Evangelium verkündigen als er  (Gal. 1, 8; vgl. auch I. Kor 16, 22). Er sei „verflucht“, heißt das auf Deutsch, „Damnamus“ auf lateinisch in der ersten Person Plural auf christlichen Konzilien. Auf dem Hintergrund der jüdischen Tradition bedeutet das: Menschen überantworten einen solchen Menschen dem Gericht Gottes, das erwartungsgemäß ein Strafgericht sein wird. Sie vollziehen das Gericht nicht selbst. Das Anathema ist auch mit der Aufforderung zur Selbstprüfung und Umkehr verbunden (vgl. Günther Bornkamm, Das Anathema in der urchristlichen Abendmahlsliturgie, in: Das Ende des Gesetzes. Paulusstudien. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, München 21966, 123 ff.). Aber mit jemand, der ein „anderes Evangelium“ verkündigt, ist die Gemeinschaft des Glaubens zerbrochen. Er wird darum vom Abendmahl als dem intensivsten Ausdruck dieser Gemeinschaft ausgeschlossen.

Im Mittelalter nannte man das den „kleinen Bann“. Er wurde auch in den reformatorischen Kirchen praktiziert. Martin Luther hat von ihm in den Schmalkaldischen Artikeln gesagt, er sei „der rechte christliche Bann“ für „offenbärliche, halsstarrige Sunder“ (vgl. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirchen (BSLK), Göttingen 41959, 457, 1). Sie werden vom Sakrament mit dem Ziel ausgeschlossen, dass sie sich bessern und die Sünde meiden. Den „großen Bann“ hat er jedoch an der gleichen Stelle als eine „lauter weltliche Strafe“ beurteilt, die „Kirchendiener“ nichts angehe. Die Praxis der römisch-katholischen Kirche des Umgangs mit Irrlehrern, zu denen er selbst gezählt wurde, ist für ihn vielmehr ein entscheidender Anstoß gewesen, dieser Kirche das wahre Kirche-Sein abzusprechen. Denn diese Praxis war mit einem System obrigkeitlicher, weltlicher Strafmaßnahmen verbunden, mit denen sich die Kirche das Recht anmaßte, mit weltlicher Macht über Personen zu richten, die doch mit ihren Lehren allein dem Urteil Gottes unterliegen.

Allerdings erwies sich das Absetzen vom römisch-katholischen Umgang mit Irrlehrern schon bald in zweifacher Hinsicht als brüchig. Vermutlich aus taktischen Gründen hat sich Melanchthon in der Augsburgischen Konfession dem von der Alten Kirche her eingeschliffenen Brauch angeschlossen, nicht bloß falsche Lehren, sondern falsch lehrende Personen wie die Arianer, Valentianer usw. zu verdammen. Er wollte damit dem Vorwurf wehren, der reformatorische Glaube sei in eine Reihe mit den Irrlehrern der Alten Kirche zu stellen. Die Personalisierung von Irrlehren hat dann leider aber auch in den reformatorischen Kirchen dazu geführt, dass Personen nicht zu Besserung aufgerufen, sondern zur Hölle verdammt wurden. Die Verurteilung des Papstes als „Antichrist“ durch Luther schon im Jahre 1520, im Bekenntnis von 1528 und in den Schmalkhaldischen Artikeln, qualifiziert ihn als „Widerchrist […], der sich uber und wider Christum gesetzt und erhohet“ hat (vgl. BSLK 430, 14). Das „Wider-Christus-Sein“ aber ist ein Vorwurf, der dann bei der alsbald einsetzenden Spaltung der reformatorischen Bewegung seine Kreise gezogen und zur gegenseitigen Verdammungen auch reformatorischer Lehrer geführt hat.

Die  andere Seite des Problems der Abgrenzung der Reformation von „Irrlehrern“ ist, dass die Durchsetzung der reformatorischen Lehre auch mit Waffengewalt und also unter der Beanspruchung der „Obrigkeit“ erfolgte. Die Konfessionskriege, die im dreißig-jährigen Krieg ihren schrecklichen Höhepunkt fanden, sind ein schlimmes Kapitel der Verquickung der reformatorischen Lehre und Kirche mit weltlicher Gewalt. Im Grunde kann man sagen: Das reformatorische Anliegen, dass kirchliche Lehrentscheidungen allein Sache der Kirche sein und bleiben müssen, ist erst nach Jahrhunderten mit dem Prinzip der Trennung von Staat und Kirche zum Ziel gekommen. In diesen Jahrhunderten ist aber auch die Einsicht gewachsen, dass Verdammungen von Irrlehrern in der Vergangenheit keine Urteile für die Ewigkeit sind. Das personbezogene Wort „Verdammung“ wurde durch das sachlichere „Verwerfung“ einer Lehre ersetzt – wozu die Solida Declaratio der Konkordienformel übrigens schon die ersten Anstöße gegeben hat.

Aber selbst die als „Verwerfungen“ verstandenen damnationes der Reformationszeit haben heute nicht mehr die Bedeutung sich absolut ausschließender Gegensätze. Die Einsicht in die Zeitbedingtheit der Verwerfungen des 16. Jahrhunderts, die Aufklärung von Missverständnissen und das Zubilligen von Entwicklungen in den getrennten Kirchen haben geholfen, die Lehrverurteilungen von damals auf theologische Meinungsverschiedenheiten zu reduzieren. Diese Verschiedenheiten können nebeneinander bestehen, auch wenn sie nicht zu einem Zusammenstimmen in der Erkenntnis der Wahrheit in jeder Hinsicht führen. „Versöhnte Verschiedenheit“ ist hier vielmehr die Leitvorstellung, unter der über 100 reformatorische Kirchen auf dem Boden „Leuenberger Konkordie“ von 1973 in der Gemeinschaft Europäischer Kirchen Kirchengemeinschaft erklärt haben.

Im Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche steht eine solche Erklärung noch aus. Aber die Verdammungen und gegenseitigen Verwerfungen haben aufgehört. Sie wären auch angesichts dessen absurd, dass die reformatorischen Kirchen zusammen mit der römisch-katholischen Kirche gegenüber dem religiösen Pluralismus von heute einerseits und der atheistischen Gottesvergessenheit andererseits in einem Boot sitzen. In diesem Boot geht es darum, wie die ganze Christenheit den Glauben an Gott, wie ihn Christus präzisiert hat, den Menschen unserer Zeit bezeugt und nahe bringt. Kampeleien in diesem Boot, die es zum Schlingern bringen, erschweren diese Aufgabe auf eine den Menschen, auf die es doch zusteuern soll, nicht vermittelbare Weise. Der mit dem Aufhören des gegenseitigen Verfluchens geschaffene Freiraum muss darum genutzt werden, um sich den Fragen und Problemen auf intensive Weise gemeinsam zu stellen, denen heute jede christliche Kirche ausgesetzt ist.

 

3.     Der cantus firmus kirchlicher Lehre und seine „Grenzpunkte“

In den letzten beiden Jahren habe ich für die Wochenzeitung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz „Die Kirche“ zwei „Glaubenskurse“ entworfen und verantwortet, an dem eine große Menge unterschiedlicher Autorinnen und Autoren aus der Kirchlichen Praxis und der wissenschaftlichen Theologie mitgewirkt haben. In der Diskussion im Vorfeld zu den einzelnen Artikeln habe ich mehrmals zu bedenken gegeben, ob die vertretene Position der Lehre unserer Kirche entspricht. Darauf ist mir nicht bloß einmal geantwortet worden, die Evangelische Kirche kenne doch kein Lehramt. Doch das ist manifest falsch.         Denn „Lehren“ heißt im reformatorischen Sinne nicht, dass sich irgendwelche Menschen in kirchlichen Ämtern oder auf Professorenstühlen irgendwelche religiösen Doktrinen ausdenken und erlassen, sondern dass in den Gemeinden auf dem Boden des biblischen Zeugnisses und im magnus consensus mit der ganzen Christenheit gepredigt wird – wobei wir unter „Predigen“ nicht nur die  Kanzelrede, sondern alles Reden der Kirche in ihren verschiedenen Diensten und auf den verschiedenen Ebenen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens zu verstehen haben. Wo immer sich die Kirche als Kirche zu Worte meldet, wird gelehrt. Das dürfen wir uns durch eine geistlose Polemik gegen „die Dogmatik“, die doch nichts weiter ist, als kritisch-denkende Rechenschaft über den Auftrag der Kirche, nicht verschleiern lassen. Eine Kirche, die gar nichts lehrt, wäre eine tote Kirche. Wen die Kirche anredet, der muss wissen, woran er mit dieser Anrede ist.

Lehren bedeutet dabei nicht, dass die christliche Botschaft in ein Einheitsgewand gepresst wird – schon gar nicht durch die Bekenntnisse, die einer ständigen aktualisierenden Interpretation bedürfen. Entsprechend den verschiedenen Zeiten, Situationen und Problemfeldern weist das lebendige Lehren der Kirche demnach eine große Spannweite auf. Es erlaubt die verschiedenartigsten Aktualisierungen, Zuspitzungen und Weiterentwicklungen der biblischen Botschaft und des mit ihr verbundenen Gottes-, Welt- und Menschenverständnisses. In diesem Sinne ist es durchaus pluralistisch.

Einem derartigen Pluralismus sind aber durch den grundlegenden Bezug des christlichen Glaubens auf Jesus Christus „Grenzpunkte“ gesetzt, wie Friedrich Schleiermacher das genannt hat (vgl. Die christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Teilband 1, hg. von Rolf Schäfer, in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, Band 13,1, Berlin/New York 2003, 158). Diese „Grenzpunkte“ haben auch heute noch Geltung, selbst wenn man sie nicht wie Schleiermacher in das Gewand seiner Theorie des christlich-frommen Selbstbewusstseins kleiden möchte. Schleiermacher nennt sie „natürliche Kezereien“, die mit der Beziehung des christlichen Glaubens „auf die durch Jesum von Nazareth geschehene Erlösung gegeben sind“ (a.a.O., 156). Es geht dabei um zwei anthropologisch-soteriologische und zwei christologische „Ketzereien“, an die sich anzunähern das christliche Lehren allzeit in der Gefahr ist (vgl. zum Folgenden: a.a.O., 156-158).

Anthropologisch-soteriologisch handelt es sich einerseits um ein „manichäisches“ Menschenverständnis, nach dem Menschen – beherrscht vom Bösen – so in sich verschlossenen sind, dass „der Erlöser“ sie gar nicht berühren kann. Dem steht das „pelagianische“ Menschenverständnis gegenüber, nach dem die „Erlösungsbedürftigkeit“ von Menschen gegen „Null“ tendiert, weshalb sie sich im Grunde selbst erlösen können.

Transformieren wir das in die kirchlich-theologische Landschaft von heute, dann besagt das auf der einen Seite: Mit dem Phänomen der Verschlossenheit von Menschen für Gott in Jesus Christus haben wir es heute in Form von gewohnheitsmäßiger, massenhafter Gottesvergessenheit im Osten Deutschlands und anderswo weiter westlich zerstreut zu tun. Kirche und Gemeinden würden sich dem Akzeptieren solchen Menschseins annähern, wenn sie die Menschen im atheistisch-konfessionslosen Milieu als verloren für den Glauben an Christus beurteilen würden. Man darf fragen, ob diese Annäherung indirekt im Gange ist, wenn die Reformprozesse unserer Kirchen sich den Herausforderungen durch die Gottesverschlossenheit so gut wie nicht stellen.

Im Unterschied dazu kann man in Kirche, Gemeinde und Theologie durchaus eine nicht geringe Sympathie für das „pelagianische“ Menschenverständnis in transformierter Gestalt erkennen. Ausweisbar ist das an der positiven Bewertung der viel besprochenen „Wiederkehr der Religion“, die auch „Wiederkehr der Götter“ heißen kann. Wo sie als Schrittmacher des Glaubens an Jesus Christus in Anspruch genommen wird, da wandern alle möglichen individualisierten Erlösungsvorstellungen der „Bastelreligiosität“ auch in die Kirche ein. „Versatzstücke der Weltreligionen, stressmindernde Meditationsrituale und esoterische Spekulationen, ein Häppchen Buddhismus und etwas Mystik nach Feierabend“(Ingolf U. Dalferth, Was Gott ist, a.a.O., 13). lassen jedoch fragen, ob hier nicht eine Tür zur Selbsterlösung geöffnet wird.

Noch viel deutlicher als die anthropologisch-soteriologischen „Grenzpunkte“ der christlichen Verkündigung lassen sich heute aber ihre christologischen Geschwister wahrnehmen. Da ist auf der einen Seite der „Doketismus“, der den  „Erlöser“ – also Christus – so dominant sein lässt, dass dabei seine Menschlichkeit, in der er mit allen Menschen verbunden ist, ins Hintertreffen gerät. Eine Tendenz dazu hat der christliche Fundamentalismus. Er setzt Christus so in den Gegensatz zum Menschlichen, dass ein Kontakt zu ihm nur noch auf konfrontative Weise möglich wird. Dem steht das „nazoräische“ oder „ebionitische“ Christusverständnis entgegen, das – um mit Schleiermacher zu reden – den „Vorzug“ des Erlösers vor anderen Menschen so weit zum Verschwinden bringt, dass er selbst als erlösungsbedürftig erscheint (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., 158). Jesus ist dann nur der Mensch, der sich als Prophet um die Verkündigung und liebende Darstellung der Gegenwart des Gottesreiches bemüht hat und uns darin ein menschliches Vorbild ist.

Schleiermacher hat dieses Fadenkreuz von Eckpunkten, an denen die christliche Verkündigung aufhört, „christlich“ zu sein, ganz sicher nicht entworfen, um zur Ketzerjagd aufzurufen. Er wäre mit seiner Darstellung der Wahrheit des christlichen Glaubens als eines Bewusstseinsvorgangs, der nach einer heute verbreiteten Interpretation zwar transzendentale Bedingungen setzt, aber keine konkret bestimmte Begegnung mit dem Geheimnis von Gottes Transzendenz in Jesus Christus kennt, ja selbst das erste Opfer dieser Jagd. Bedeutungsvoll bleibt seine „Eckpunktlehre“ vielmehr darum, weil sie alle christliche Verkündigung an die selbstkritischeWachheit bindet, welche die christliche Verkündigung vor dem Abgleiten in ein Menschen- und Gottesverständnis bewahrt, das sich mit dem Glauben an Jesus Christus nicht mehr verträgt. „Irrlehre“ im Sinne jener „Grenzpunkte“ hilft jedem, der im Namen Jesu Christi redet, den Kompass zu tarieren, mit dem sich die christliche Verkündigung im religiösen und weltanschaulichen Pluralismus unserer Zeit ihren Weg bahnt.

Wenig hilfreich ist es dagegen, wenn etwa die Evangelische Kirche in Deutschland oder die Landeskirchen von Einzelpersonen der „Irrlehre“ bezichtigt werden, weil ihre Synoden Entscheidungen getroffen haben, die z.B. über das traditionelle Sexual- und Eheverständnis hinaus führen. Die Initiative „Für die Freiheit des Glaubens und die Einheit der Kirche“, die von dem ehemaligen Hamburger Bischof und Theologieprofessor Ulrich Wilckens angeführt wird, ist mit dieser Bezichtigung auf den Plan getreten. Nun kann man ja durchaus darüber reden und auch streiten, ob und wie die in mancher Hinsicht zeitbedingten ethischen und auch anthropologischen Anschauungen der Bibel im Geiste des Evangeliums heute neu verstanden werden müssen oder nicht. Der gegenwärtige Streit um die „Orientierungshilfe“ der EKD zum Familienverständnis ist ein gutes Beispiel dafür. In diesen Streit das Verdikt der „Irrlehre“ einzutragen, welche die Substanz des christlichen Glaubens zugrunde richte, vergiftet jedoch nicht nur die redliche Auseinandersetzung. Wenn dieses Verdikt ernst gemeint ist, müsste es zur Kirchspaltung führen. So ernst – wie vergleichsweise bei der Barmer Theologischen Erklärung – ist aber ist es offenbar nicht gemeint. Keiner aus dieser Initiative hat eine Synode angerufen oder ist aus der Kirche ausgetreten. Was sie „Irrlehre“ nennen, ist nur eine im erhöhten Tone vorgetragene andere Meinung, die sich auch selbst daran messen lassen muss, ob sie der Menschlichkeit entspricht, für die Gott in Jesus Christus eingetreten ist.

Das dürfte überhaupt die wichtigste Frage sein, die sich stellt, wenn es unter dem Einfluss der jetztzeitigen Wandlungen des Menschenverständnisses und des religiösen Verhaltens von Menschen zu einem vielfältigen Neubuchstabieren der christlichen Botschaft und zu neuen Wegen der kirchlichen Praxis kommt und kommen muss. Das Positive, die Wahrheit, muss und kann der cantus firmus sein, der alles trägt und durch alles hindurch klingt, was unsere Kirche lehrt. Dieses Positive aber ist der menschenfreundliche Gott, der in Jesus Christus  und im Heiligen Geist selbst nicht aufhört, für jedes von ihm geliebte Geschöpf da zu sein.  Er begründet die Toleranz in der Kirche, die wohl einen geschwisterlichen Streit um die Wahrheit, aber keine gegenseitigen Verfluchungen, Verdammungen und Verwerfungen duldet.

Martin Luthers Satz „Die Liebe [...] toleriert alles. Der Glaube [...] toleriert nichts“ (WA 14, 669), kann deshalb nicht der Leitfaden des Umgangs mit unterschiedlichen Lehrmeinungen und  praktischen Verfahrensweisen in der Kirche sein. Der erste Teil des Satzes betont auf der Grundlage der Unterscheidung von Person und Werk zwar richtig, dass keine noch so in Frage zu stellende Zuspitzung der Verkündigung des Evangeliums die Achtung vor den Menschen aufheben darf, die sie vertreten. Das wäre auch Martin Luther selbst kräftig ins Stammbuch zu schreiben. Der zweite Teil des Satzes aber ignoriert, dass Geduld „bis auf die Zukunft des Herrn“ (Jakobus 5,7) ein Charakteristikum des Glaubens in dieser Weltzeit ist. In solcher Geduld ist es sehr wohl möglich, die andere Ausprägung des Bekenntnisses zu Jesus Christus und des christlichen Lebens in einer Kirche und zwischen den Kirchen gelten zu lassen bis die Zeit kommt, in der ein Einverständnis im Glauben möglich wird. Faktisch-praktisch sind die 500 Jahre seit der Reformation ja eine Einübung in diese Geduld gewesen. Sie hat immerhin den Segen gezeitigt, dass die weltweite Christenheit heute trotz ihrer Getrenntheit in Konfessionen die gemeinsame Versöhnungsbotschaft nicht mehr mit dem gegenseitigen Verdikt, Christus zu verraten, unglaubwürdig macht. Dagegen lastet aber auf allen christlichen Konfessionen umso mehr der Vorwurf, mit ihrem „Absolutheitsanspruch“ gegenüber anderen Religionen den Unfrieden in unserer globalisierten Welt zu schüren.

 

4.     Wahrheit und Toleranz im Verhältnis der Kirche zu den Religionen

Die christliche Missionsgeschichte und ihre Verquickung mit der Kolonialgeschichte ist bis heute der stärkste Beleg für die Behauptung, der christliche Glaube an den einen Gott sei intolerant gegenüber anderen religiösen Wahrheitsgewissheiten und tendiere in seinem Wesen zur gewaltsamen Bekämpfung anderer Religionen. Unter dem Eindruck dieses Arguments werden in der evangelischen Theologie von heute Stimmen laut, die von der Kirche fordern, sich von ihrem „Wahrheitsanspruch“ zu verabschieden. Besonders weit hat sich in dieser Hinsicht mein ehemaliger Kollege in der Praktischen Theologie Klaus-Peter Jörns vorgewagt. Er geht davon aus, dass auch die christliche Religion nur eine relative „Wahrnehmungsgestalt“ Gottes unter anderen in der „universalen Wahrnehmungsgeschichte“ Gottes, für welche die Religionen gut stehen, sei (Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh 22004, 119f. u.ö.). Er sagt: „Überall da, wo Gott in irgendeiner Gestalt geglaubt wird“, wird „immer wirklich Gott bezeugt“ (a.a.O., 357). Folglich wird der  „Anspruch der Christen, die Bibel sei einzige Offenbarungsquelle, ja, das alleinige Wort Gottes“, bestritten. Vom Verständnis der Bibel als Kanon soll „Abschied“ genommen werden (a.a.O., 179). Damit fällt auch die Orientierung des christlichen Glaubens an der Wahrheit. Das „Kriterium“ von Gottesbegegnungen ist Glaubwürdigkeit, „Authentizität und nicht Wahrheit“ (a.a.O., 181). Verschiedene nach Kriterien der „Authentizität“ für uns heute ausgewählte Typen von „Wahrnehmungsgestalten“ Gottes aus der Bibel, dem Koran, dem Buddhismus und Hinduismus sollen darum der Grundtext der kirchlichen Verkündigung werden. Eine Beerdigungsliturgie für ein Haustier, welche die Erde als „neuen Mutterschoß“ für sein Leben reklamiert (vgl. a.a.O.,269ff.), gibt zudem eine Offenheit für das Anliegen der Naturreligionen zu erkennen.

Ich halte – kurz gesagt – das Verabschieden der Kirche von ihrer Verwurzelung in dem Ereignis von Gottes menschenfreundlicher Wahrheit, dem ja auch ein Verabschieden der Religionen aus ihren Wahrheitsgewissheiten entsprechen müsste, für keinen guten Weg, die Konfrontation der Religionen zu überwinden. Jede Religion schöpft ihre Lebenskraft aus ihren spezifischen Wurzeln, die sich besonderen Erschließungssituationen Gottes, der Götter, des Göttlichen oder des Heiligen verdanken. Dass die Religionen auf einmal anfangen sollen, aus allen diesen Wurzeln gemeinsam zu sprießen, ist eine hochgradig abstrakte Forderung und – wenn das Kriterium der Authentizität dabei leitend sein soll – sogar eine sehr problematische Forderung. Authentisch sind auch die christlichen, muslimischen und hinduistischen Fundamentalisten. Religiöse Authentizität ohne Wahrheit, die, um ihren Namen zu verdienen, nur menschenfreundliche Wahrheit sein kann, ist ein Pulverfass und keine Weide für friedliche Schafe.

Das gute Anliegen, ein friedliches Zusammenlebens der Religionen zu befördern, das mit der wirklichkeitsfremden Idee eines Religionenmixes verfolgt wird, muss darum anders befördert werden. Auf dem Boden der christlichen Wahrheitsgewissheit, die kein „Anspruch“ ist, sondern eine Erfahrungswirklichkeit, werden es mindestens drei Einsichten sein, die das Verhältnis der Christenheit zu Menschen mit einer anderen Religion leiten:

Erstens wird alle Begegnung mit anderen Religionen oder besser: mit den Menschen einer anderen Religion, mit denen wir in unserer globalisierten Welt immer näher zusammen rücken, von der Glaubenseinsicht bestimmt sein, dass Gott der Schöpfer aller Menschen ist. Jedem Menschen kommt von seiner Bejahung durch den Schöpfer her darum die Würde eines göttlich geehrten und geachteten Menschen zu. In dieser Achtung und im Eintreten für diese Achtung begegnet das Christentum darum Menschen mit einer anderen Religion. Es ist ein konsequenter Anwalt ihrer Menschenwürde und darum in unserer pluralistischen Gesellschaft auch ihrer Freiheit, in ihrer Wahrheitsgewissheit ihr Leben zu führen.

Zweitens: Gott ist für den Glauben an ihn in seiner unsichtbaren Geisteskraft allen Menschen gegenwärtig. In der Art und Weise, wie Menschen einer anderen Religion diese Gegenwart wahrnehmen, spiegelt sich darum in verschiedenen Graden und in unterschiedlichen Ausprägungen auch etwas von dem Gott, wie er im christlichen Glauben erfahren wird. Es gibt dort Spuren und Zeichen zu entdecken, die mit dem christlichen Glauben und Leben zusammen stimmen. Die „komparative Theologie“, um die sich derzeit Klaus von Stosch sehr verdient macht, zielt darauf, diese Spuren und Zeichen der Gemeinsamkeit ans Licht zu heben (vgl. Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, Paderborn 2012). Lassen die christlichen Kirchen sich davon bewegen, dann werden sie Menschen anderer Religionen zu verstehen geben, was sie an ihrer Religion erfreut. Sie werden fragen, ob diese Gemeinsamkeiten nicht tragfähig für ein gemeinsames Eintreten in Hinblick auf ein friedliches Zusammenleben der Menschen auf unserer Erde sein können. Die Ausbrüche von Gewalt zwischen den Religionen, die wir gerade in diesen Tagen zu beklagen haben, machen den Dialog der Religionen auf dieser Basis zu einer dringlichen globalen Aufgabe.

Drittens: Einen glatten Weg zum Einverständnis aller Religionen miteinander wird es allerdings nach menschlichem Ermessen schwerlich geben. Dazu ist die Welt der Religionen viel zu vielfältig und auch zerklüftet. Außerdem werden kritische Fragen aneinander nicht ausbleiben können. Das gilt aus christlicher Perspektive vor allem darum, weil der christliche Glaube – darin zusammenstimmend mit dem Glauben Israels – von Hause aus eine religionskritische Religion ist. Er kann es nicht lassen, Kritik zu üben, wenn Menschen mit ihrer Religion beginnen, Gott zu verweltlichen und ihn in Regie zu nehmen wie einen Weltfaktor. Hier berühren sich die innerkirchlichen Grenzmarkierungen mit dem Verhältnis zu anderen Religionen! Die christlichen Kirchen können nicht bejahen oder gar loben, was sie bei sich selbst kritisieren müssen. Wenn sie auf Religionen treffen, in denen Menschen zu Gegenständen religiöser Verehrung werden oder wo ein Geister- und Dämonenglaube herrscht oder wo die Welt nicht als Schöpfung Gottes verstanden werden kann oder wo Hass auf andere Menschen gesät wird, usw., dann trifft die christliche, an erster Stelle selbstkritische Religionskritik auch diese Religionen mit.

Dass diese Kritik nicht im Tone und Stile überlegenen Wahrheitsbesitzes geübt werden kann, versteht sich nach dem, was wir eingangs über das Verständnis Wahrheit gesagt haben, von selbst. Wahrheit kann man nicht besitzen. Sie ist uns so unverfügbar wie die Liebe. Dementsprechend kann die Kirche bei ihrem Zeugnis von der Wahrheit Gottes und des Menschen nur darum werben, dem Geist der Versöhnung zwischen Gott und uns Menschen und damit unter uns Menschen Raum zu geben, der von Gott in Jesus Christus ausgeht. Auch die Kritik, die innerhalb und außerhalb der Kirche an Menschen schädigenden religiösen Positionen und Praktiken nicht unterbleiben darf, wird in die Grundform alles christlichen Redens von Gott und uns Menschen eingebettet bleiben. Diese Grundform ist nach 2. Korinther 5, 20 die Bitte, sich versöhnen zu lassen mit Gott.

         Ein solches werbendes Bitten entspricht auf menschliche Weise der Vorsicht, in der Gott mit Menschen umgeht, die ihm untreu sind und sich gegen ihn und seine Weisungen versündigen. Er fährt nicht mit göttlicher Übermacht über sie hinweg. Er steckt sie nicht eine Zwangsjacke. Er gibt ihnen vielmehr die Freiheit, die Zeit und Gelegenheit, sich von seiner Liebe angehen und von seinem Geist berühren zu lassen. Martin Luther hat diese Vorsicht Gottes seine Toleranz genannt (Thesenreihe zu Röm 3,28 (WA 39/I, 82f.), vgl. hierzu Gerhard Ebeling, Die Toleranz Gottes und die Toleranz der Vernunft, Trutz Rendtorff (Hg.), Glaube und Toleranz, Das theologische Erbe der Aufklärung, Gütersloh 1982, 54-73).

In den Fußspuren von Gottes eigener Toleranz wird also die Christenheit den anderen Religionen, aber auch den vielen Glaubens- und Lebensweisen in unserer Gesellschaft geduldig und respektvoll neben sich Raum geben. Denn ihre Toleranz gedeiht nicht im Absehen, sondern im Zutrauen zur Wahrheit Gottes. Sie ist nicht eine widerwillig abgerungene Zutat zu ihrem Glauben, zu welcher der religiöse Pluralismus unserer Zeit nötigt. Die Kundgebung einer Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Frage christlicher Toleranz im Jahre 2005 hat sich darum zu Recht meinen Satz zu Eigen gemacht, der da heißt: „Christinnen und Christen sind nicht tolerant, obwohl sie glauben, sondern weil sie glauben.“


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