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Christliche Normen?
Richtiges Verhalten ist Auslegungssache (Evangelische Zeitung für Hamburg und Schleswig-Holstein 13/2012
„Normen“ sind konkrete Regeln für unser Handeln und Verhalten. Jede Gemeinschaft braucht solche Normen. Sie orientieren das Zusammenleben und die Lebensvollzüge von Menschen. Sie gelten mit dem Anspruch, dass man sich nach ihnen richtet. Allen Rechtsordnungen einer Gesellschaft liegen Normen zugrunde, deren Verletzung mit Strafen bedroht wird.
Die Frage, ob es in diesem Sinne auch „christliche Normen“ gibt, ist nicht einfach zu beantworten. „Christlich“ kann nur heißen: vom Glauben an Jesus Christus geprägt. Der Glaube aber ist ein freier Akt des Vertrauens zu Jesus Christus. Ein glaubender Mensch macht dabei Erfahrung der Vergebung der Sünden. In der Beziehung auf Jesus Christus ist er also vom falschen Handeln und Verhalten frei. Er tut in Freiheit das Richtige, was Gott gefällt und seinen Mitmenschen zugute Gute kommt. Er ist nicht mehr „unter dem Gesetz“, wie der Apostel Paulus sagt. „Alles ist mir ist erlaubt“ kann er darum ausrufen (1. Korinther 6, 12). „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“, schreibt er an die Galater (5,1). Das Alles klingt nicht nach „christlichen Normen“.
Doch Paulus war auch kein Traumtänzer. Dass die Macht der Sünde der Freiheit der Christenheit kräftig zusetzt, stand ihm lebhaft vor Augen. „Seht zu, dass ihr durch die Freiheit nicht dem ‚Fleisch’ – das heißt der Selbstsucht – Raum gebt“, hat er seinem Freiheitssatz an die Galater hinzu gefügt (5,13). Auch die Aussage, dass ihm alles erlaubt sei, hat er mit dem Zusatz „nicht Alles nützt“, eingeschränkt. Die Frage ist darum, was nützt dem freien Handeln aus Glauben dann? Die Antwort darauf nennt – formal betrachtet – eine „Norm“: „Durch die Liebe diene einer dem Anderen“ (Galater 5, 13).
Liebe aber kann man schwerlich eine „Norm“ nennen. Sie ist vielmehr eine Einstellung des Gemüts und des Herzens. Liebe zu anderen Menschen stellt sich mit der Glaubenserfahrung der Liebe Gottes ein. Aus ihr folgt dann eine bestimmte Verhaltensregel: Einer soll dem Anderen dienen. Es ist im Neuen Testament nicht einzige Regel für ein von Glaube und Liebe geprägtes Verhalten. Es gibt in diesem Buch ganze „Kataloge“ solcher Normen, die man „spezifisch christlich“ nennen könnte.
Aber mit sehr vielen von diesen Normen haben wir heute ein Problem. Sie beziehen sich auf die Zeit vor nahezu 2000 Jahren. Sie haben zum Beispiel ein zeitgebundenes Verständnis des Verhältnisses von Mann und Frau. Sie beurteilen die Homosexualität anders als wir heute. Sie haben das antike Staatswesen im Auge. Sie geben Anweisungen für das Verhalten in der Sklaverei usw. Sie gelten also nicht zeitlos. Alle „Normen“ sind dem geschichtlichen Wandel unterworfen. Das gilt auch für die „christlichen Normen“.
Doch wenn die Normen sich verändern, stellt sich sogleich die Frage ein: Ist ihr neues Verständnis noch „christlich“? Darf ein verheirateter Christ und Theologe mit einer Lebenspartnerin zusammen leben? Darf die Kirche homosexuelle Partnerschaften segnen? Darf sie die Demokratie im Unterschied zu anderen Staatsformen als „christlich“ gelten?
„Prüft Alles und das Gute behaltet“, hat wiederum der Apostel Paulus den Gemeinden auf den Weg gegeben (1.Tessalonicher 5, 21). Das ist aus dem Geiste Jesu gesprochen, wie sein Umgang mit den 10 Geboten zeigt. Diese Gebote liefen für ihn alle auf das Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe hinaus (Markus 12, 29-31). Darum hat er die Normen für das menschliche Verhalten, die aus ihnen für seine Zeitgenossen folgten, auf den Prüfstand der Liebe gestellt.
Man sagt, er habe diese Gebote damit „radikalisiert“ und schwer erfüllbar gemacht. Nehmen wir z.B. das 5. Gebot „Du sollst nicht morden“. Jesus hat es im Sinne des grundsätzlichen Verzichts auf Gewalt verstanden und die Feindesliebe geboten (vgl. Matthäus 6, 38-48). Das ist aber nicht zur einklagbaren „Norm“ des Verhaltens der Christenheit geworden. In einer Welt, in der sich menschliche Gewalt unberührt von Gottes Liebe weiter austobt, musste dem Staat vielmehr das Recht eingeräumt werden, dem Bösen mit Gewalt zu wehren, ja selbst dafür Verantwortung zu tragen (vgl. Römer 13, 4). Dennoch sind Jesu Auslegungen der Gebote Leitvorstellungen – wir würden heute sagen: „Werte“ – für Normen geblieben, die ein christliches Leben bestimmen sollten.
Fassen wir zusammen: Auch die Christenheit braucht – wie jede Gemeinschaft – „Normen“ für ihr Leben und Zusammenleben. Sie sind „christlich“, sofern sie vom Geist der Liebe geprägt sind, die Gott in Jesus Christus allen Menschen erwiesen hat. Sie unterliegen aber entsprechend den Erfahrungen, die wir bei der Entwicklung der menschlichen Geschichte machen, Wandlungen. Sie dürfen nicht zu abstrakten Gesetzen werden, welche gar nicht lebbar sind. Sie gelten für eine bestimmte Zeitstrecke und sind immer wieder am lebendigen „Anspruch Jesu Christi auf unser ganzes Leben“ (2. These der Barmer Theologischen Erklärung) zu prüfen. Ob sie auch beanspruchen können, für Menschen zu gelten, die nicht glauben, bedarf einer eigenen Besinnung.