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Praxis der Freiheit
Religion und Naturwissenschaft aus evangelischer Perspektive (Forschung und Lehre 11/2006)
Religion ist im evangelischem Sinne eine Praxis der Freiheit. „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan“, beginnt Martin Luthers berühmte Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Damit ist gemeint: Die Beziehung auf Gott macht Menschen frei von allen Abhängigkeiten in der Welt. Luther hat diesem Satz aber noch einen zweiten hinzugefügt. Der lautet: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“. Damit ist gemeint: Ein Christ gebraucht seine Freiheit, indem er sich in den Dienst seiner Mitmenschen stellt. Ihr freies, menschenwürdiges Leben ist ihm ebenso wichtig wie sein eigenes.
Diese evangelische Perspektive hat, wenn auch in einem langen, vielfach gebrochenen Prozess, für Europa den Abschied vom Mittelalter eingeläutet. Die Freiheit des „Christenmenschen“ erlaubte es, alle Autoritäten in Frage zu stellen, die das menschliche Leben reglementierten. Sie erlaubte zugleich die Vision einer Gesellschaft, in der sich Menschen aus freien Stücken menschlicher verhalten, als unter der Knute von Drohungen und Strafen kirchlicher und weltlicher Autoritäten. Was das in politischer und kultureller Hinsicht für die Zukunft Europas bedeutete, verdient eine eigene Würdigung. Uns interessiert jetzt, was das evangelische Freiheitsverständnis für das Verhältnis des Glaubens an Gott zur Wissenschaft bedeutet.
Orientieren wir uns historisch, dann ist klar, dass evangelische Freiheit die Freiheit zum ungehindertem Erforschen der Natur einschloss. Der lutherische Theologe Andreas Osiander hat 1543 in Nürnberg das Hauptwerk des Kopernikus veröffentlicht, welches das Weltbild des Mittelalters zum Einsturz brachte. Im Wittenberg Luthers durfte das kopernikanische System ungehindert gelehrt werden. Johannes Kepler (1571-1630), einem lutherischen Theologen und Astronomen, verdanken wir den eigentlichen Durchbruch zur neuzeitlichen Astronomie.
Hinzu kommt ein weiterer Faktor, der das Aufblühen der Naturwissenschaften in der vom Christentum geprägten Welt befördert hat. Gott wird in der jüdisch-christlichen Tradition als Schöpfer der Welt verstanden. Das bedeutet: Er hat eine selbständige Welt mit eigenen Gesetzen ins Dasein gerufen. Diese Welt ist kein Anhang oder Ausfluss Gottes. Sie ist kein Tummelplatz „göttlicher“ Mächte, wie die Religionen der Vorneuzeit annahmen. Sie ist nichts als Welt. Als solche hat sie der Schöpfer für unser Erkennen und Entdecken frei gegeben. Von dieser Freiheit sollen und dürfen seine Geschöpfe Gebrauch machen.
Paradoxerweise ist aber gerade der christliche Schöpfungsglaube zum Konfliktfeld zwischen den christlichen Kirchen und den Naturwissenschaften geworden. Auch die evangelische Kirche trägt ein gerüttelt Maß Schuld daran. Denn sie hat in der Nachreformationszeit die biblischen Mythen von der Erschaffung der Welt und des Menschen mit naturwissenschaftlichen Richtigkeiten identifiziert. Die Entdeckung der Naturgesetzlichkeit des Werdens des Universums und der menschlichen Gattung galt von daher als Leugnung des Glaubens an den Schöpfer. Der sogenannte „Kreationismus“ in einigen amerikanischen Kirchen und anderswo vertritt diese Meinung bis heute.
Doch die historisch-kritische Erforschung der Bibel macht klar, dass die biblischen Vorstellungen von der Schöpfung keine vom Himmel gefallenen Wahrheiten sind. Sie verdanken sich zeitbedingten Beobachtungen. Auf sie haben zudem viele Einflüsse von anderen Religionen des antiken vorderen Orients eingewirkt. Man kann sie unmöglich als göttliche Offenbarungen über die objektive Konstruktion der Welt verstehen.
Die Wahrheit dieser Mythen liegt für uns heute vielmehr auf einer anderen Ebene als auf der, mit der es die objektivierende wissenschaftlichen Forschung zu tun hat. Diese Mythen bringen die Erfahrung von Menschen zum Ausdruck, dass die Erde und die Menschen in einem ihnen entzogenen Grunde wurzeln, den sie Gott nennen. Im Christentum kommt es zu dieser Gewissheit durch die Begegnung von Menschen mit dem Dasein Jesu Christi. Diese Begegnung löst das Vertrauen dazu aus, dass Gott die Erde und die Menschheit gründet, trägt und bejaht. Ob dieses Vertrauen begründet ist, stellt eine Frage für sich dar. Darüber befindet sich die wissenschaftliche Theologie heute im Gespräch mit der Philosophie.
Die Erforschung der Naturgesetzlichkeit aber kann weder begründen noch widerlegen, ob jenes Vertrauen zu einem Schöpfergott gerechtfertigt ist. Sie hat keinen Zugriff auf den geschichtlich begegnenden Schöpfergeist, aus dem heraus dieses Vertrauen entsteht. Alle Etappen der Evolution des Universums und des Lebens sind für sie mit Recht naturgesetzliche Etappen und keine göttlichen Akte. Der christliche Glaube begrüßt das. Denn Alles, was uns die Wissenschaft erschließt, ist eine große Bereicherung nicht nur unserer Kenntnis, sondern auch unseres Wirklichkeitsempfindens auf dieser Erde.
Die Behauptung eines tiefen Grabens zwischen dem Glauben und der Wissenschaft sollte darum endlich ad acta gelegt werden. Diese Behauptung beruht in jeder Hinsicht auf Missverständnissen. Was den Glauben betrifft, so weiß sich insbesondere die evangelische Theologie dazu herausgefordert, daran mitzuwirken, dass in den christlichen Kirchen, aber auch in anderen Religionen kein archaischer Fundamentalismus wuchert. Er dient nicht den Fortschritten zu einem menschwürdigen Lebens auf unserer Erde, zu dem die Wissenschaften und die technischen Möglichkeiten, die sie eröffnet haben, schon so viel beizutragen vermochten.
Die Wissenschaften sollen auch fernerhin diesen Fortschritten zugute kommen. Das ist allerdings ein brennendes Interesse des christlichen Glaubens. Denn er versteht – wie gesagt – menschliche Freiheit so, dass sie zugunsten der Menschen gebraucht werden soll. Wissenschaft aber kann auch unter die Herrschaft menschenfeindlicher Interessen geraten. Das haben wir in unserem Zeitalter hinreichend erlebt und erleben es bis heute. Sie kann zum Element von Ideologien werden, die genau das Gegenteil von Freiheit bewirken. Wenn die evangelische Kirche in dieser Hinsicht besonders aufmerksam ist, dann hat das nichts mit irgendeiner Wissenschaftsfeindlichkeit zu tun. Es geht vielmehr darum, dass Wissenschaft einen Horizont von Werten braucht, die sie menschendienliche Wissenschaft bleiben lässt. Der christliche Glaube ist bei seiner Bejahung der Wissenschaften ein zuverlässiger Anwalt solcher Werte.