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Gottesleugnung - atheistische Argumente und die Gewöhnung an ein Leben ohne Gottesglauben
Vortrag auf einer Studientagung der Arbeitsstellen für den Religionsunterricht in Neuruppin und Eberswalde in Brandenburg/Havel am 07.03.2013
1. Atheismus ohne Argumente
Mit atheistischen Argumenten haben es die Kirchen und Gemeinden, die im Osten Deutschlands eine religiöse Minderheit sind, eigentlich weniger zu tun. Argumente sind wohl abgewogene Gesichtspunkte, die in der Auseinandersetzung mit irgendeiner Position ins Feld geführt werden, um solche Position entweder zu unterstützen oder ihr zu widersprechen. Von Argumenten darf man erwarten, dass sie nach einer sorgfältigen Prüfung dessen, worüber sie urteilen, eine Position begründen. Atheistische Argumente müssten sich dementsprechend durch eine genaue Kenntnis des Gottesglaubens und durch eine Auseinandersetzung mit Argumenten, die ihn bejahen, auszeichnen. Es gibt solchen argumentierenden Atheismus sowohl in der Geschichte wie in der Gegenwart.
Der Atheismus aber, mit dem es die Kirchen, Gemeinden und einzelnen Christinnen und Christen in unseren östlichen Gegenden vor allem zu tun haben, ist nicht von dieser Art. Hier haben wir es vielmehr mit einem zur Gewohnheit gewordenen Massenatheismus zu tun, der sich gar nicht mehr die Mühe macht, in die Auseinandersetzung mit den Argumenten einzutreten, die für den Gottesglauben sprechen. „Religion“ ist für die massenweise atheistische Konfessionslosigkeit, die mit über drei Vierteln der Bevölkerung regelrecht ein gesellschaftliches Milieu bildet, unter die Schwelle der Konfliktfähigkeit geraten. In diesem Milieu grassieren Vorurteile und Ressentiments gegenüber der Religion und den Gottesglauben, die mit dem Selbstverständnis der Glaubenden meistens wenig oder nichts zu tun haben. Dass Religion „unwissenschaftlich“ sei und sich Illusionen über Realität mache, sind z.B. solche Vorurteile, die genügen, um den Gottesglauben und die Kirche, die ihn vertritt, abseitig zu finden.
Nun ist diese Art Gewohnheitsatheismus sicherlich nicht nur im Osten Deutschland anzutreffen. Er partizipiert an einer großen Strömung der europäischen Gesellschaften, welche die Säkularisierung von religiösen Überzeugungen und damit das Ende des Gottesglaubens für eine Folge der wissenschaftlichen Prägung und Modernisierung der Gesellschaft halten. In der Öffentlichkeit zeigt sich das an der Eskalation des Wörtchens „noch“, wenn von Religion und Kirche die Rede ist. Ist die Kirche „noch“ zeitgemäß? Kann der Gottesglaube „noch“ etwas für die Zukunft der Gesellschaft beitragen? Wie lange kann die Kirche besonders im Osten Deutschlands „noch“ eine über das ganze Land verbreitete Institution sein? Wie Hans Joas (Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, 2012) und andere Soziologen auf empirischer Basis überzeugend dargelegt haben, ist die sogenannte Säkularisierungsthese jedoch ein unzutreffendes Dogma, das sich in den Köpfen von Europäern festgesetzt hat. Für die USA hat es noch nie gegolten. Das ist ein hoch technisiertes und modernisiertes und zugleich tief religiöses Land. Weltweit steht jenes Dogma vom Absterben der Religion, dem in seiner Weise auch der Marxismus-Leninismus huldigte, im offenkundigen Widerspruch zum dynamischen Wachstum des Christentums in Afrika, Lateinamerika und Südostasien. Südkorea steht an der Spitze einer wachsenden Industrienation und an der Spitze eines rasanten Wachstums des Christentums. Aber auch in Europa redet man neuerdings von der „Wiederkehr der Religion“, die allerdings nicht unbedingt mit einer Zuwendung der Menschen zu den Kirchen und zum Gottesglauben zu tun hat. Charakteristisch für diese „Wiederkehr“ ist vielmehr eine „Bastelreligiosität“, die sich aus Versatzstücken verschiedener Religionen individuelle religiöse Anschauungen zusammensetzt.
Für das ostdeutsche Milieu der Religionsferne und des Lebens ohne Gottesbeziehung ist diese „Wiederkehr der Religion“ aber sicherlich nicht charakteristisch. Dieses Milieu distanziert sich vielmehr von allem, was mit Religion zu tun hat und wirft dabei in der Regel alle explizite Religiosität und alle Religionen als überholten Unsinn in einen Topf. Der Osten Deutschlands ist ein religiös dürres Land geworden. Während sich die sogenannten „Errungenschaften des Sozialismus“ im Eiltempo verflüchtigt haben, ist der zur Gewohnheit gewordene Atheismus des überwiegenden Teils der Bevölkerung die gewissermaßen erfolgreichste Hinterlassenschaft des „real existierenden Sozialismus“, die in den Familien und auch in der Schule weiter tradiert und gepflegt wird.
Diese Gewöhnung an ein Leben, in dem der Gottesglaube nicht vorkommt, hat im geistigen Haushalt wie in der Lebensführung der Menschen zu einem tief greifenden Traditionsabbruch der christlichen Überlieferungen und Lebensorientierungen und zur Entfremdung von den kulturellen Prägungen der Gesellschaft durch das Christentum geführt. Christlicher Glaube oder christliche Frömmigkeit kommen in den Familien nicht mehr vor. Schon die Großeltern, vielleicht sogar die Urgroßeltern, waren nicht in der Kirche; die Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen sind es auch nicht. So ist eben jenes gesellschaftliche Milieu o der Klima entstanden, das Alles, was ausdrücklich mit „Religion“ zu tun hat, von sich abweist.
Es wäre jedoch verkehrt, angesichts der glaubensfernen Dickwandigkeit dieses Milieus, an dem sich das kirchliche und christliche Eintreten für den Glauben an Gott wund läuft, den hier beheimateten Gewohnheitsatheismus mit einer kämpferischen Wendung gegen den Glauben gleichzusetzen. Vom Freiheits- und Emanzipationspathos des europäischen Atheismus ist der Gewohnheitsatheismus ziemlich weit entfernt. Die so wirkmächtige Religionskritik Ludwig Feuerbachs atmet dieses Pathos ebenso wie ihre Rezeption bei Karl Marx. Religion projiziert nach Feuerbach die unendlichen Eigenschaften der menschlichen Gattung in einen Gott hinein, damit er z.B. den Wunsch nach einem leidenslosen, aber auch nach einem ewigen, unsterblichen Leben realisiert. In Wahrheit entfremden sich die Menschen dabei von ihrem wirklichen menschlichen Wesen. Sie schwächen die Kräfte von Menschen zur Gestaltung des diesseitigen Lebens. Sie vergeuden sie an den sogenannten Himmel. Die Aufgabe der Religionskritik ist es darum, dem Menschen seine Eigenschaften wiederzugeben. Die Theologie muss in Anthropologie überführt werden. Nicht Gott, sondern der Mensch selbst ist „das höchste Wesen des Menschen“. Darum heißt es bei Feuerbach überschwänglich „Homo homini deus est (der Mensch ist dem Menschen ein Gott) – dies ist der oberste praktische Grundsatz, dies der Wendepunkt der Weltgeschichte“.
Karl Marx hat diesen obersten praktischen Grund bekanntlich so weiter entwickelt, dass die Kritik der Religion in eine Kritik der Erde umzuwandeln ist. Religionskritik mündet einer politischen, revolutionären Theorie der Befreiung des verelendeten Proletariats vom sozialen Elend. Feuerbachs Lehre vom Menschen als höchstem Wesen für den Menschen muss nach Marx in den „kategorischen Imperativ“ überführt werden, „alle Verhältnisseumzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Mit dieser Religionskritik schicken Menschen sich an, die Befreiung von Ungerechtigkeit und Leiden besser, d.h. realer ins Werk zu setzen als mit dem "Eiapopeia vom Himmel" (H. Heine) bzw. mit dem „Opium“ der Religion.
Die „gelernten“ DDR-Bürgerinnen und Bürger sind in dieser mit andauerndem Pathos vorgetragenen Theorie ausdauernd indoktriniert worden. Nach dem Scheitern des „real existierenden Sozialismus“ ist davon aber nur geblieben, dass „Religion“ aus den Lebensvollzügen der Menschen ausgeschieden wurde. Die Weltanschauung des dialektischen und historischen Materialismus, in welche der Marxismus-Leninismus die kämpferische Religionskritik eingebettet hat, spielt heute keine Rolle mehr. Das komplizierte Konstrukt einer Weltanschauung, nach der „die Materie“ sich in „dialektischen Sprüngen“ bis auf das Niveau des menschlichen Bewusstseins entwickelt hat und zugleich den gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte in „Klassenkämpfen“ vorzeichnet, lebt heute nur noch in der Köpfen von ein paar alten Parteikadern. Aus den Diskursen unserer Zeit über die Grundbedingungen unseres Daseins auf der Erde ist dieses Konstrukt gänzlich verschwunden.
Es ist deshalb kein Wunder, das im Milieu des Gewohnheitsatheismus an den theoretischen Grundlagen und den einen „wahren Humanismus“ versprechenden Konsequenzen des religionskritischen Atheismus gar kein Interesse besteht. Die Splittergruppe des „Humanistischen Verbandes“, die dennoch den Anspruch erhebt, für alle Atheisten zu reden, ist des Zeuge. So wenig wie an eine mit Gründen argumentierende Gottesbejahung verschwenden die konfessionslosen Atheisten noch irgendwelchen Schweiß an die Begründung des Atheismus und die wahrlich nicht leichten Probleme, die dabei zu bedenken sind. Es ist darum die Frage, ob die Bezeichnung „Atheismus“ für diese Art von Konfessionslosigkeit überhaupt richtig ist. Ich rede lieber von Gottesvergessenheit, die so tief ist, dass die Menschen sogar schon vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben. Sie kennen gar nicht mehr, was sie faktisch-praktisch verneinen und sie bejahen etwas, ohne sich die Tragweite dessen bewusst zu machen. Charakteristisch ist die Äußerung von Jugendlichen bei einer Befragung auf dem Leipziger Hauptbahnhof. Auf die Frage, ob sie sich „eher christlich oder eher atheistisch“ verstehen, haben sie geantwortet: „Weder noch, normal halt“. Nur, was ist „normal“?
Am Besten scheint mir dieses „Normale“ mit dem zusammen zu passen, was eine repräsentative Studie der „Identity Foundation“ über die spezifische „Spiritualität in Deutschland“ heraus gefunden hat. Nach dieser Studie, die weitgehend mit den Erhebungen des „Religionsmonitors“ der Bertelsmann-Stiftung zusammenstimmt, sind 40 % der deutschen Bevölkerung als „unbekümmerte Alltags-Pragmatiker“ zu bezeichnen. Nicht nur im Osten Deutschlands, aber hier besonders können wir bei solchen „Alltags-Pragmatikern“ so etwas wie eine Erschlaffung im Hinblick auf Fragen antreffen, welche die großen Herausforderungen des Menschseins im Globalen, aber auch in individueller Tiefe betreffen.
Was hat in dieser Situation die Beschäftigung mit atheistischen Argumenten für einen Sinn? Das atheistisch-konfessionslose Milieu hält den Austausch von Argumenten für oder gegen den Gottesglauben für überflüssig. Ein ernstlich so zu nennender atheistisch-christlicher Dialog, wie ihn seinerzeit Neo-Marxisten wie Ernst Bloch, Viteslav Gardavski oder Milan Machovec initiiert haben, findet derzeit nicht statt. Dennoch gibt es zwei wesentliche Gründe für Kirchen, Gemeinden sowie für Christinnen und Christen, die in der Begegnung mit Menschen aus dem gottesvergessen-atheistischen Milieu leben, die atheistischen Argumente, wie sie durch die Medien aller Art in unserer Gesellschaft im Schwange sind, erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken.
Erstens: Das Eintreten für den Gottesglauben muss in der geschilderten Situation vor Augen haben, welcher Widerspruch ihm von atheistischer Seite entgegen steht. Auch wenn dieser Widerspruch sich nicht argumentativ artikuliert, sollte das Reden von Gott und vom Glauben so erfolgen, dass es den atheistischen Argumenten zuvor kommt und nicht – wie es z.B. bei aller fundamentalistisch grundierten Gottesrede geschieht – diese Argumente noch verhärtet.
Zweitens: Es ist mehr als wünschenswert, dass jede Christin und jeder Christ in der Lage sein sollten, auf atheistische Fragen, wenn sie ihnen denn gestellt werden, mit Argumenten und nicht bloß mit Beteuerungen subjektiven Glaubens zu antworten. Hier bestehen große Defizite in unseren Gemeinden. Dem Religionsunterricht aber fällt eine große Verantwortung für die Befähigung der heranwachsenden Christinnen und Christen zu solcher Gesprächsfähigkeit zu. Christinnen und Christen sollten in der Lage sein, darzulegen, warum sie keine Atheistinnen und Atheisten sind.
2. Alter Atheismus „neu“ zugespitzt
Während der Gewohnheitsatheismus östlicher Provenienz mehr oder wenig mit sich selbst zufrieden ist und vor sich hin wabert, wurden uns atheistische Argumente in den letzten Jahren aus Weltgegenden präsentiert, aus den man sie am wenigsten erwartet, nämlich aus den USA. Das große Medientheater um die sogenannten „Neuen Atheisten“ wie Richard Dawkins, Sam Harris, Christopher Hitchens oder in Deutschland Michael Schmidt-Salomon ist zwar schon wieder vorbei. Die Bezeichnung „neu“ verdient dieser Atheismus auch nicht so recht. Denn summa summarum sind seine Argumente die alten, obwohl die meisten Autoren, die hier in die Arena treten, von dem unter sozialistischen Verhältnissen entstandenen Atheismus keine Ahnung haben. Sie fertigen den Marxismus-Leninismus kurzerhand damit ab, dass es sich hier auch um eine Religion gehandelt habe und rechnen z.B. Hitler, Stalin und Pol Pot zu Vertretern von Religion. Auch die theologische und philosophische Literatur, die in Deutschland und Europa zum Thema „Atheismus“ erschienen ist, spielt bei ihnen kaum eine Rolle. Der dominierende Kontext, auf den sich dieser Atheismus bezieht, ist vielmehr die religiöse Situation in den USA und dort vor allem der weit verbreitete christliche Fundamentalismus, der auch auf die Politik einen starken Einfluss nimmt.
Dieser Fundamentalismus versteht alle biblischen Zeugnisse von Gott, der Welt und den Menschen in gleicher Weise als zeitlos gültige Offenbarungen Gottes. Er verteidigt darum die biblischen Vorstellungen von der Entstehung der Welt und des menschlichen Lebens gegen die Astrophysik und gegen die Theorie von der Evolution des Lebens aus dem Tierreich.Er zeichnet sich durch eine Ethik aus, die z.B. Homosexualität für gottwidrig hält und auch sonst die ethischen Vorstellungen der Bibel von Staat und Gesellschaft, Ehe und Familie, direkt in unsere Zeit überträgt.
Dieses Christentum zu bekämpfen, hat der „Neue Atheismus“ sich vorgenommen. Er macht das so, dass er alles Christentum auf der Welt und alle Religionen mit diesem Fundamentalismus in einen Topf wirft. Christen müssen so sein, dass sie glauben, die Welt sei vor sechstausend Jahren erschaffen und Adam mit seiner Eva seien historische Figuren. Sie müssen alle Anweisungen aus der Bibel befolgen wie z. B. den im Alten Testament geschilderten Heiligen Krieg gegen Menschen anderer Religionen. Ja mehr noch: Alle Religionen der Welt werden so beurteilt, dass sie längst veraltete, menschenfeindliche und vernunftwidrige, durch die Wissenschaft widerlegte, absurde Vorstellungen von der Welt und vom Menschen hegen.
Man kann also schon auf den ersten Blick merken, dass hier ein Christentum aufs Korn genommen wird, das es in dieser Weise höchstens an den Rändern unserer Kirche gibt. Allerdings ist ein Merkmal seiner Argumentation für allen Atheismus charakteristisch, wenn er zum offenen Angriff auf das Christentum und die Religion übergeht. Er braucht ein düsteres, von Unwissenheit, Unvernunft und Menschenfeindschaft geprägtes Bild von der Religion und vom Christentum. Er verweigert sich darum der Wahrnahme eines Christentums, welches schon längst selber kritisiert, was ihm von atheistischer Seite vorgehalten wird. Die deutschen „Neuen Atheisten“, die sich in der Giordano-Bruno-Stiftung sammeln, verfahren da nicht anders.
Michael Schmidt-Salomon, der sog. „Chefatheist“ von Deutschland, hat z.B. zwei illustrierte Kinderbücher verfasst. In dem einen werden ein Rabbi, ein Bischof und ein Mullah als dumme, hasserfüllte Schreckensgestalten vorgeführt („Wo bitte geht’s zu Gott, fragte das kleine Ferkel“?). Das andere Kinderbuch („Susi neunmalklug erklärt die Evolution“), diskreditiert – offenkundig gegen besseres Wissen – den Religionsunterricht, indem es einen blöden Religionslehrer lächerlich macht, der die Kinder kreationistisch unterrichtet. Der „Humanistische Verband“, der zunächst mit der Giordano Bruno Stiftung verbandelt war, hat sich darum schleunigst von dieser Stiftung und ihrem „Humanistischen Pressedienst“ getrennt, um sich seine Reputation an den Berliner Schulen nicht zu verderben.
Wir aber haben aus der Verzerrung, in der das hier bei uns real existierende Christentum angegriffen wird, zu lernen, dass wir uns im atheistischen Umfeld nachhaltig als eine aufgeklärte Religion darzustellen haben. D.h. dass wir zwischen den zeitbedingten Vorstelllungen der Bibel und ihrem immer noch aktuellen Sinn zu unterscheiden vermögen. Sind Christinnen und Christen dazu nicht fähig, dann bestärken sie geradezu das atheistische Ressentiment gegenüber der Kirche und dem Gottesglauben. Mich wundert darum sehr, dass die Befähigung der Gemeinden und ihrer Glieder zu solchem Unterscheiden in dem sog. „Reformprozess“ unserer Kirche unter dem Titel „Kirche der Freiheit“ zu gut wie keine Rolle spielt.
Rennt die Kritik am Fundamentalismus bei einem zeitgemäßen Kirche- und Christsein hierzulande offene Türen ein, so gilt das noch mehr in Hinblick auf die andere wesentliche Stoßrichtung des „Neuen Atheismus“, nämlich der Kritik des Zusammenhangs von Religion und Gewalt, die in Deutschland ein großes Echo gefunden hat und findet. Der islamistische Anschlag auf der World-Trade-Center in New York im Jahre 2001 hat dieses Thema geradezu als Zentralthema weltweit vorne gebracht. Es war schon vorher im Schwange, weil z.B. Religionswissenschaftler wie Jan Assmann die These vertreten haben, vor allem die monotheistischen Religionen etablierten die Gewalt gegen anders Glaubende in der Welt. Indem sie nur einen Gott verkündigen, sind sie von Intoleranz und Hass auf andere Religionen erfüllt, die mehrere Götter oder einen anders verstandenen Eingott wie im Judentum, Christentum und Islamverehren.
Die „Neuen Atheisten“ verschärfen diese Behauptung noch. Der eigentliche Grund für die religiöse Aggressivität – meinen sie –sei vielmehr die Unwissenheit. Religiöser Glaube erfindet, weil Menschen es nicht besser wissen, absurde Vorstellungen über die Welt, die Menschen und die Vorgänge in Natur, Geschichte und individuellem Leben. Weil er seine unbeweisbaren Erfindungen für die allein richtigen hält, ist er unfähig, sie zu korrigieren. „Dummheit, gekoppelt mit [...] Überheblichkeit“ ist nach Christopher Hitchens das Wesen der Religion. Darum verbindet sich nach seiner Ansicht religiöser Glaube immer mit Hass und Vernichtungswut gegen andere Menschen, die ebenso unbeweisbare religiöse oder weltanschauliche Vorstellungen hegen. Wo keine Argumente sind, sprechen eben die Fäuste. Nur der Atheismus garantiere eine wesenhaft friedliche Welt, behauptet Sam Harris allen Ernstes.
Die Christinnen und Christen, die 1989 gemeinsamen mit ihren atheistischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Losung „keine Gewalt“ auf die Straßen getragen haben, können wie unsere ganze von der Friedensbotschaft Jesu Christi bewegte Kirche derartig pauschale Behauptungen einfach nur abseitig finden. Denn die Gewaltgeschichte des Christentums und aller anderen Religionen wird von ihnen nicht geleugnet, sondern vielmehr intensiv kritisch reflektiert. Schon längst vor den „Neuen Atheisten“ ist in Kirche und Theologie der Verbindung von christlicher Botschaft und Gewaltausübung eine eindeutige Absage erteilt worden. Nur sine vi, sed verbo (CA 28) kann diese Botschaft zu den Menschen getragen werden. Das ist heute unstrittig. Selbst ein halbwegs ehrlicher Atheist kann hier und heute nicht aus Erfahrung bestätigen, dass das Christentum gewalttätig ist. Ein aktueller Anlass, Atheist zu werden, ist diese Behauptung jedenfalls nicht. Viel eher dürfte die Verständigung darüber, dass weltanschauliche und religiöse Überzeugungen niemals mit Gewalt vertreten werden dürfen, die einfachste Ebene der Verständigung zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden darstellen. Ja, das ist sie im alltäglichen Leben faktisch schon längst.
Der „neue“ und „alte“ Atheismus stellt sich nach dem Gesagten also als eine Angelegenheit dar, die selber darüber aufzuklären ist, dass sich das Christentum weder auf den Fundamentalismus noch auf eine wesenhafte Tendenz zur Gewalt festlegen lässt. Daraus ist aber nicht zu folgern, er bringe keine ernsthaften Anfragen an den christlichen Glauben, wie er heute verantwortet werden muss, zustande. Diese Anfragen ergeben sich fast alle aus der Berufung atheistischer Positionen auf die Naturwissenschaften. Auch die „Neuen Atheisten“ betrachten als ihr stärkstes Argument die Tatsache, dass die methodisch-atheistische wissenschaftliche Forschung mit ihren Mitteln Gott nicht „beweisen“ kann. Darum haben sie auch an den durch Deutschland tourenden „Atheismus-Bus“ den komplizierten Satz geschrieben: „Gott existiert mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht“. Das ist ein fast wörtliches Zitat von Richard Dawkins. Es bedient ein Wirklichkeits- und Wahrheitsverständnis, das Wirklichkeit und Wahrheit nur der objektivierbaren Realität zuspricht bzw. sie auf sie zurück führt. Er füttert das Vorurteil, Religion sei „unwissenschaftlich“, in dem sich besonders die ostdeutsche Gottesvergessenheit eingerichtet hat. Darum müssen wir diesem atheistischen Haupt- und Staatsargument etwas intensiver auf den Zahn fühlen.
3. Der Streitfall: Naturwissenschaft und Gottesglaube
Ich orientiere mich im Folgenden vor allem an dem „erfolgreichsten“ Buch der „Neuen Atheisten“. Das ist das Buch „Der Gotteswahn“ von Richard Dawkins. Ich lasse dabei unberücksichtigt, dass dieses Buch zu nicht geringen Teilen aus wüsten Polemiken gegen das Christentum besteht, die an die finstersten Zeiten des Stalinismus erinnern. Man kann es nur der Unkenntnis darüber zugute schreiben, dass in der Sowjetunion unzählige Christinnen und Christen, Priester, Popen und Mönche in psychiatrischen Kliniken gequält wurden, um die in diesem Buch vertretene Ansicht auszuhalten, religiöse Menschen seien „wahnsinnig“. Michael Schmidt-Salomon hat diese Ansicht in seinem jüngsten Buch „Jenseits von Gut und Böse“ sogar als noch viel zu „harmlos“ bezeichnet, aber nicht näher präzisiert, welchen Aufenthaltsort nach der Irrenanstalt er für Christinnen und Christen empfehlenswert hält.
Ich lasse das auf sich beruhen, wobei ich allerdings froh bin, dass dergleichen atheistische Hasspredigt nicht das Leben in unserer demokratischen Gesellschaft zu prägen vermag. Berechtigt zu solchen Ausfällen wissen sich die Neoatheisten jedenfalls dadurch, dass die Naturwissenschaften – insbesondere die Kosmologie, die Astrophysik und die Biologie – keinen Beweis für die Existenz Gottes, für einen übernatürlichen „Gestalter“ der Welt, liefern können. Sie vermögen im Gegenteil das Werden des Universums und des Lebens ohne eine „Gotteshypothese“ zu erklären. Darum gilt mit über 50% Wahrscheinlichkeit, dass Gott nicht existiert, wie es der Atheismus-Bus denn auch verkündet.
Gott sei Dank, können wir da im Glauben an Gott nur sagen, ist Gott keine Wirklichkeit, die man in Naturgesetzen verorten oder errechnen und auf diese Weise Gottes Herrlichkeit vielleicht auch noch technisch verwerten kann wie die Atomkraft. „Einen Gott“, – so können wir im Anschluss an Dietrich Bonhoeffer sagen – „den es gibt (wie es die Menschen, die Dinge, die Sterne und Galaxien gibt) gibt es nicht“. Zu Gottes unsichtbarer, geistiger, jenseitiger Wirklichkeit gibt es nämlich nur einen Zugang und das ist der Glaube. Glaube im christlichen Sinne aber ist nicht ein Für-wahr-halten von irgendwelchen Vorstellungen über das Werden der Natur, obwohl sich solche Vorstellungen in aller Relativität mit ihm verbinden können. Glaube ist das Vertrauen zu Gott als dem tragenden Geheimnis unseres Daseins, das in geschichtlichen, existenziellen Zusammenhängen, in Lebenszusammenhängen entsteht. Glaube ist diejenige menschliche Fähigkeit, mit der wir uns dessen vergewissern, worüber wir nicht verfügen können. So glauben wir z.B. an die Treue eines Menschen oder an seine Wahrhaftigkeit. Wir vertrauen der Freundschaft einer Freundin oder einer Freundes, obwohl wir gar nicht wissen können, dass diese Freundschaft auch in Zukunft Bestand hat.
In entsprechender Weise glauben wir auch an Gott. Natürlich ist da auch ein Unterschied zu dem Vertrauen, das wir einem Menschen gegenüber hegen. Dass dieser Mensch in Raum und Zeit existiert, ist selbstverständlich. Gottes Existenz aber spricht die Fähigkeit unseres Bewusstsein an, über alle raum-zeitlichen Grenzen hinaus Wirklichkeit wahrzunehmen. Sie erschließt sich uns durch bestimmte, alles Irdische transzendierende Erfahrungen, die wir in unserem Leben und in der Geschichte machen. Im Falle des christlichen Glaubens sind das die Erfahrungen, die Menschen mit Jesus Christus machen. Sie wecken in uns das Vertrauen zu Gott als unverfügbaren Grund und Sinn unseres Lebens, ja der Welt. „Gott und Glaube gehören zuhaufe“, gehören zusammen, hat Martin Luther in seinem „Großen Katechismus“ diese Einsicht kurz und bündig auf den Punkt gebracht.
Dawkins und seine Kollegen operieren nun an diesem Gottesglauben herum und entwurzeln ihn aus dem Zusammenhang geschichtlicher, existenzieller Erfahrung. Sie verlagern ihn auf eine andere Ebene. Er wird als eine quasi-wissenschaftliche Aussage über die Entstehung der Welt und des Lebens, als „wissenschaftliche Hypothese“ oder einfach als Phantasievorstellung verstanden, die auf einer Linie mit dem Glauben an den Weihnachtsmann, an Feen und an Rumpelstilzchen liegt. Was das Verständnis des Glaubens als „wissenschaftliche Hypothese“ betrifft, so wird man jedoch gerechterweise zugeben müssen, dass die christliche Tradition, aber auch die Religionsphilosophie nicht nur im englischsprachigen Raum heute zu diesem Missverständnis auch einigen Anlass gegeben hat und gibt. Wie der unterdessen emeritierte Papst in seiner berühmten Regensburger Rede erinnert hat, war das Christentum immer bemüht, den Glauben an Gott zugleich als das vernünftigste Erklärungsprinzip der Welt zu interpretieren. Es hat sich darum um vernünftige „Gottesbeweise“ bemüht, die Gott als ersten Urheber der Welt einsehbar machen sollten. In den Spuren dieser Tradition wandelt heute z.B. auch der englische Religionsphilosoph Richard Swinburne, der mit dem Computer auszurechnen versucht, dass doch mehr als 50% Wahrscheinlichkeit für die Existenz eines göttlichen Urhebers der Welt sprechen.
Doch dieser Versuch ist ebenso abseitig wie der umgekehrte in atheistischer Absicht. Die Naturwissenschaften können mit ihrem Streben nach objektivierbaren Sachverhalten existenzielle Glaubensüberzeugungen weder begründen noch widerlegen. Sie sind methodisch-atheistisch. Was sie als Gott zu errechnen oder nachzuweisen vermöchten, wäre mit Sicherheit nicht Gott, sondern nur ein Teil oder eine Dimension der Welt, also theologisch gesprochen: ein Götze, ein Produkt des Aberglaubens. Die Naturwissenschaften müssen sich darum mit dem Wissen begnügen und sollen vom Glauben wie vom Unglauben die Finger lassen.
Das tun die argumentierenden Atheisten von heute denn auch in gewisser Weise, weil sie merken, dass die leicht über 50 % liegenden Wahrscheinlichkeitsrechnungen nicht gerade ein starkes Argument für die Nichtexistenz Gottes sind. Theoretisch bliebe in diesem ganzen abstrusen Gotteskalkül immer noch die Möglichkeit, dass Gott in von uns nicht erkannten Dimensionen des Universum existiert bzw. hypothetisch als sein „Gestalter“ angenommen werden kann. Dawkins zieht sich deshalb ganz trickreich aus der von ihm selbst gelegten Schlinge, indem er sagt: Dass etwas nicht existiert, braucht auch gar nicht bewiesen zu werden. Wenn z.B. jemand behauptet, im Weltraum fliege eine Teekanne oder ein Spaghettimonster herum, dann ist es an dem, der das behauptet, dafür den Beweis anzutreten und nicht an dem, der das bestreitet.
Er begibt sich mit diesem Argument offenkundig auf das Niveau des ersten Weltraumfahrers Juri Gagarin, der auch verkündet hatte, dass er Gott bei seinem Schnupper-Weltraumflug nicht angetroffen hat. „Der Sputnik und der liebe Gott“ war ein massenweise in der DDR verbreitetes atheistisches Propaganda-Pamphlet. Es suggerierte, dass die Christinnen und Christen glauben würden, Gott sei ein im Weltraum herumschwebendes Ding – eben wie eine Teekanne oder Ähnliches.
Wer dergleichen für Gott hält, gibt damit zu verstehen, dass er von Gott überhaupt nichts versteht bzw. keine existenzielle Glaubenserfahrung gemacht hat, die verstehen lehrt, wer Gott ist. Dawkins redet also schlicht ein Nicht-Glaubender, der die Nicht-Existenz Gottes immer schon voraus setzt und nun versucht, das Vorurteil seines Nicht-Glaubens mit naturwissenschaftlichen Methoden zu begründen. Dabei macht er aus der Naturwissenschaft, die sich in Glaubensfragen nur der Stimme enthalten kann, eine antireligiöse Ideologie.
Der christliche Glaube wird sich hüten, dem mit einer religiösen Ideologie von der Welt- und Lebensentstehung Paroli bieten zu wollen. Sicherlich beurteilt und deutet er das, was wir wissenschaftlich auf methodisch-atheistische Weise wissen können, im Lichte seiner Gotteserfahrung. In seiner Perspektive verdankt sich die Welt und wir selbst dem Geheimnis Gottes und nichts spricht aus dem Raum der Naturwissenschaft gegenwärtig dagegen, dass er das tut. Aber das ist dennoch ein Glaubensbekenntnis und kein unserem Wissen vom Werden des Universums und des Lebens mühsam abgezwirbelter Satz.
Was jenes Wissen betrifft, aber so kann und soll uns die naturwissenschaftliche Forschung davon so viel wie möglich besorgen. Je mehr wir wissen können, desto mehr wird uns das wunderbare, atemberaubend großartige, aber noch in so vielen Rätseln verschlüsselte Werk des Schöpfers gegenwärtig. Darum ist der Glaube ein Freund der Naturwissenschaften. Er wird sich aber dessen enthalten, der Wissenschaft Vorschriften zu machen, wie das etwa der atheistische Marxismus getan hat, als er in den 50er Jahren die falsche Lamarckistische Theorie Mitschurins von der Vererbung erworbener Eigenschaften zur Staatsdoktrin erhob und Menschen, die diese Doktrin mit Gründen bestritten, verfolgte. (Die sog. „Jarowisation“, nämlich die Vorkeimung des Getreides unter ungünstigen Wetterbedingungen, um das Getreide widerstandsfähig zu machen, hat der Sowjetunion riesige Missernten beschert).
Ihre Unschuld als Anwältin freier Wissenschaft hat die atheistische Gesinnung in den sozialistischen Zeiten ohnehin gründlich verloren, wie etwa aus Anlass des 200jährigen Jubiläum der Humboldt-Universität in erschreckendem Ausmaß dokumentiert wurde. Dass die „Neuen Atheisten“ dabei sind, jene Unschuld zu bewahren, aber kann man angesichts ihres Bemühens, die Naturwissenschaft mit dem Vorurteil der Gottlosigkeit in einem Leben von Menschen ohne Transzendenz zu funktionalisieren, beim besten Willen nicht behaupten.
4. Atheismus als Religionskritik
Keinem Atheisten kann es verborgen bleiben, dass die Bemühungen um den abseitigen „Beweis“ oder „Nichtbeweis“ Gottes mit Argumenten, die den Naturwissenschaften entlehnt sind, ausgehen, wie das Hornberger Schießen. Darum schwenken sie nicht zufällig auf die gute, alte atheistische Schiene um, statt Gott die Glaubenden oder „die Religion“ ins Visier zu nehmen. Sie können ja – wie wir uns eingangs klar gemacht haben – nicht ignorieren, dass der bei weitem überwiegende Teil der Menschheit – inclusive der Wissenschaftler – religiös ist. Nur in unserer Ecke der Welt, die sich mit ihrem Atheismus der Massen der Bevölkerung auf der religiös-weltanschaulichen Landkarte wie eine Absonderlichkeit ausnimmt, ist Religionslosigkeit zur Gewohnheit geworden. Wie kommt das, müssen sich deshalb auch die argumetierenden Atheisten von heute fragen, dass die Religion weltweit beileibe nicht „abstirbt“, sondern aufblüht, obwohl die wissenschaftlich-technische Welt ihr doch den „Sinn und Geschmack“ fürs Religiöse abzugewöhnen scheint?
Soziologen wie Ulrich Beck, der Vf. der viel beachteten Studien über die „Risikogesellschaft“, antworten auf diese Frage: Das kommt daher, weil die Risiken des Lebens, welche die wissenschaftlich-technische Entwicklung in der globalisierten Welt verschärft, Menschen nach einem Halt in ihrem Leben suchen lässt, der ihrem grundmenschlichen Transzendierungsvermögen aller weltlichen Vorgänge entspricht und gerecht wird. Der Fortschritt von Wissenschaft und Technik führt gerade nicht zu einer völligen Verweltlichung des Lebens von Menschen, in der Religion überflüssig und funktionslos wird. Der ambivalente Fortschritt provoziert vielmehr das Aufleben von Religiosität. Die sog. „Säkularisierung“, sagt Beck, legt in Wahrheit „den Grund für die Revitalisierung der Religiosität und Spiritualität im 21. Jahrhundert“.
Davon wollen die neuen Atheisten aber nun überhaupt nichts wissen. Sie begeben sich deshalb auf das Spielfeld, auf dem sich schon die alten Atheisten in der Geschichte der atheistischen Tradition in Europa getummelt haben. D.h. sie konstruieren eine Theorie vom Entstehen der Religion, die begründen soll, warum Religion eine verkehrte Art ist, in der Menschen von ihrem, alles Gegebene überschreitenden Bewusstsein auf überflüssige und verderbliche Weise Gebrauch machen. Wie Ludwig Feuerbach und Karl Marx das verstanden, haben wir uns schon klar gemacht. Sie sind von anderen Theoretikern des Enstehens von Religion ergänzt worden. Bei Friedrich Nietzsche handelte es sich bei der Erfindung von Religion um das Werk einer mächtigen Priesterkaste, welche die starken Kräfte der menschlicher Lebensentfaltung durch den Gottesglauben zu schwächen trachtete. Sigmund Freud verstand Religion als eine aus dem Vaterkonflikt entstandene Neurose. Mir ist nicht bekannt, dass sich die atheistische Literatur je auf eine dieser Theorien geeinigt hat. Jedenfalls fügen die „Neuen Atheisten“ dem Markt der Möglichkeiten in dieser Hinsicht noch ein weiteres Angebot hinzu. Richard Dawkins behauptet: Dass Menschen beginnen, an Gott zu glauben, sei auf eine „Fehlfunktion“ der Evolution des menschlichen Lebens zurück zu führen.
Unter „Fehlfunktion“ wird dabei ein verkehrter Gebrauch einer eigentlichen nützlichen genetischen Anlage unserer Gattung verstanden. Das Beispiel von Dawkins dafür ist die Motte. Sie ist genetisch darauf programmiert, sich am Mondlicht zu orientieren. Diese Programmierung verführt sie, sich mit tödlicher Konsequenz ins Kerzenlicht zu stürzen. Dementsprechend gilt: Wir sind genetisch darauf programmiert, unseren Eltern zu vertrauen und also zu glauben. Das verführt uns dazu, das Ziel unseres Vertrauens zu verselbständigen. Wir stilisieren dieses Ziel zu einer für sich existierenden „Überwelt“ Gottes. Durch sog. von Dawkins erfundene „Meme“ (Gedächtniseinheiten, die sich angeblich so vererben wie das Leben) soll sich dieser Glaube dann wie ein Virus fortpflanzen.
Die Widersprüchlichkeit dieser Art von Religionskritik ist mit Händen zu greifen. Erst wird uns erklärt, die wissenschaftliche Erkenntnis und damit auch die Einsicht in die Evolution des Lebens treibe uns den Gottesglauben aus. Dann aber wird behauptet, gerade diese Evolution veranlasse uns zu religiösen „Fehlfunktionen“. Doch wer entscheidet hier, was richtige Funktion von uns menschlichen Wesen und was „Fehlfunktion“ ist? Wenn wir einmal evolutionsbiologisch reden wollen, dann hat uns der naturgesetzliche Vorgang der Evolution des Lebens doch in die Freiheit gesetzt, das aufgrund unserer Erfahrungen mit unserem Leben und der Berührung unseres Geistes von der Transzendenz, die wir Gott nennen, selbst zu entscheiden. Zu den Möglichkeiten dieser Freiheit gehört, Unverfügbares in Existenz und Geschichte in einer alles Objektivierbare überschreitenden Weise als Wirklichkeit wahrzunehmen. Unsere Wirklichkeitserfahrung, ja unser Leben, unterläge auch abgesehen von der Gotteserfahrung einer unsäglichen Verarmung, wenn sie auf die Wahrnehmung von Objektivierbarem und Messbarem reduziert würde.
Was aber unsere Fähigkeit betrifft, einem uns entzogenen Grunde und guten Geheimnis unseres Daseins zu vertrauen, so ist das geradezu die Grundbedingung unseres Lebens. Ohne das Grundvertrauen dazu, dass unser Dasein bejaht und getragen ist, in einen sinnvollen Zusammenhang gehört und einen Horizont von weither hat, versinkt unser Leben nach aller Erfahrung in Verunsicherung und Sinnlosigkeit. Menschen sind darum unausweichlich religiös, auch die, welche sich der Gotteserfahrung verweigern. In die Stelle Gottes rückt dann, wenn sie sich in solcher Verweigerung einrichtene, irgendetwas Weltliches ein. Es entsteht allerlei Ersatz- und Pseudoreligiosität, in der Menschen rein Irdischem vertrauen wie einem Gott. Der Marxismus war in seinem Glauben an die Materie und das allmächtige Gesetz der Geschichte penetrant religiös und hat das in seinen Weihefeiern auch zum Ausdruck gebracht. Auch der Wissenschaftsglaube, den wir bei Dawkins finden, ist nicht zu Unrecht eine Religion genannt worden. Sam Harris und auch Schmidt-Salomon verkünden im Unterschied dazu eine Art Buddhismus light, der auf dem Prinzip des Eigennutzes beruht und für meine atheistisch-konfessionslosen Nachbarn in Berlin-Pankow ist schließlich der Schrebergarten oder der Fußball ihr „Gottchen“, wie die Berliner sagen.
Doch auf die Ratschläge, welche wir heute von atheistischer Seite für unsere Lebensführung erhalten, will ich jetzt nicht mehr eingehen. Uns kam es zunächst darauf an, zu fragen, was aus der Auseinandersetzung mit dem Atheismus, wie er sich heute lautstark präsentiert, für Selbstdarstellung der Christenheit im gottesvergessenen Milieu zu lernen ist. Angesichts der Geschichte des Christentums werden wir uns auf alle Fälle als eine selbstkritische Religion darstellen. Das gilt in Hinblick auf alle Beförderung und Inanspruchnahme von Gewalt durch die Kirche und das damit verbundene Streben nach weltlicher Macht. Das gilt auch für die Fehlentwicklungen, die es im Verhältnis von Kirche und Naturwissenschaft gegeben hat. Wir werden uns auf die Bibel nicht in fundamentalistischer Weise berufen. Denn das löst den Atheismus geradezu aus oder bestärkt ihn. Wir werden uns weiter als eine in den Entwicklungen der Naturwissenschaften kundige Religion darstellen, die in der Lage ist, den Segen und die Grenzen dieser Wissenschaften zu reflektieren.
Damit nun aber niemand denkt, es ginge im gottvergessen-atheistischen Umfeld der Kirche vorgängig um einen intellektuellen Disput, ist hinzuzufügen: Alles, was die atheistische Religionskritik gegen den christlichen Glauben vorzubringen hat, ist durch das Leben der Christen und Gemeinden und ihrer einzelnen Glieder praktisch zu entkräften. Nicht sich selbst entfremdete oder gar neurotisierte Menschen, sondern in ihrer Menschlichkeit beeindruckende Menschen, die frei sind, ohne Illusionen die Wirklichkeit wahrzunehmen, wie sie ist, können mehr für den christlichen Glauben sprechen als alle Dispute. Nicht am Eigennutz orientierte, sondern für die Nöte und Probleme der Anderen offene Menschen sind nötig, um Vorurteile und Ressentiments gegen ein Leben aus Glauben abzubauen. Denn nicht als Vertreterinnen und Vertreter einer religiösen Ideologie, sondern als Menschen mit einem weiten Horizont, die sich mit ihrem Glauben an Gott auf den Sinn und die Tiefe des Lebens verstehen, sollten Christinnen und Christen ihren gottesvergessenen Mitmenschen begegnen