Category: Vorträge
Karl Barth und die Kirchlichen Hochschulen in der DDR
Vortrag in der Wallonerkirche Magdeburg am 27. Juni 2019
1. Ein Schweizer Theologe und die Evangelische Kirche in Deutschland
Bevor ich darauf zu sprechen komme, was die Kirchlichen Hochschulen in der DDR mit Karl Barth zu tun hatten, ist es sicher geraten, ein kurzen Blick darauf zu werfen, was dieser Theologe für die Evangelische Kirche in Deutschland bedeutet hat. Denn kein deutscher Theologe hat den Weg der Deutschen Evangelischen Kirche im vorigen Jahrhundert über die Jahrzehnte hinweg so ausdauernd bewegt und geprägt wie der Schweizer Theologe Karl Barth. Das Karl-Barth-Jahr erinnert daran, wie das vor hundert Jahren 1919 losging. Da veröffentlichte der Pfarrer der Schweizer Industriegemeinde Safenwil eine Auslegung des Römerbriefes des Apostels Paulus. In ihr vollzog er eine scharfe Abrechnung mit dem sogenannten „Kulturprotestantismus“ in Deutschland. So nannte man einen die damalige Gesellschaft bestimmenden religiösen mainstream, der die Kultur des deutschen Kaiserreiches mit der Botschaft Jesu vom Gottesreich zusammen reimte.
Barth hatte bei den Größen dieses Kulturprotestantismus wie Adolf von Harnack in Berlin und Wilhelm Herrmann in Marburg studiert. Nun aber musste er mit Erschrecken erleben. wie seine theologischen Lehrer den menschenmörderischen 1. Weltkrieg im Namen der christlichen „Religion“ und „Kultur“ begrüßten und verherrlichten. Da wurde er, der als Pfarrer biblische Texte zu predigen hatte, „von der Wahrheit überfallen […] wie von einem gewappneten Mann“, nämlich dass diese „Religion“ mit Gott, wie er in Jesus Christus begegnet, nichts zu tun hat. Er schrieb darum 1919 eine Auslegung des Römerbriefes, die als Buch in der Schweiz freilich zunächst ein Ladenhüter war. Erst in der 2. zugespitzten Auflage machte dieses Buch 1922 in Deutschland Furore. In ihm wird Gott als der „ganz Andere“ gegenüber allem, wozu Menschen ihn in Anspruch nehmen, zur Geltung gebracht. „Religion“, die Gott für allzu weltliche, ja menschenfeindliche Interessen in Betrieb nimmt, unterlag von daher einer schneidenden Kritik. Nur wenn alles, was Menschen im Namen Gottes von sich her unternehmen, scharf verneint wird, darf von der Kirche Gottes Ja zu seinen Geschöpfen verkündigt werden.
Man hat diese theologische Denkfigur „dialektische Theologie“ genannt. Barth hat sich das auch gefallen lassen, als er zunächst in Göttingen, dann in Münster und schließlich in Bonn auf eine Professur in Deutschland berufen wurde. Aber bei der „dialektischen Theologie“, die zwischen dem Nein und dem ja Gottes zu uns Menschen, hin und her pendelt, ist es nicht geblieben. Seine Arbeit als Professor, der die Wahrheit dessen zu verantworten hatte, was die christliche Kirche den Menschen zu sagen hat, führte ihn vielmehr zu der Einsicht, dass eine christliche Kirche ganz und gar vom Ja Gottes zu uns Menschen bestimmt sein muss, das er in Jesus zur Menschenwelt gesprochen hat. Die Theologie, welche die Kirche braucht, muss „in allen ihren Aussagen direkt oder indirekt Lehre von Jesus Christus als von dem uns gesagten Wort Gottes sein […], um ihren Namen zu verdienen und um die christliche Kirche in der Welt zu erbauen, wie sie als christliche Kirche erbaut sein will“. Das war die entscheidende Erkenntnis , die Barth in Deutschland gewann. Von 1932 an hat er sie in der „Kirchlichen Dogmatik“, an welcher er in 13 dicken Bänden bis an sein Lebensende gearbeitet hat, expliziert.
Es war damals eine Erkenntnis von höchster Aktualität. Denn eine breite Strömung in der evangelischen Kirche und Theologie von damals – allen voran die „Deutschen Christen“ –priesen die Machtergreifung Hitlers als eine „Gottesstunde“, in der Gott den Deutschen mit der „heiligen Bindung von Blut und Boden, von Rasse und Vererbung, von Ehre und Gemeinschaft […] Opfer und Pflicht“ nahe kommt (E. Hirsch). Die Bindung an „Rasse, Blut und Boden“ wurde so zu einem besonderen Gesetz Gottes für das deutsche Volk stilisiert, ohne welches das Evangelium nicht gepredigt und gehört werden kann. In Barths Optik handelte es sich hier um die „schlimmste Ausgeburt des neuprotestantischen Wesens“, gegen das er sich schon mit seinen Römerbriefauslegungen von 1919 und 1921 gewendet hatte. Er wurde zum entscheidenden Kopf der sich gegen die „Deutschen Christen“ formierenden „Bekennenden Kirche“, die sich 1934 auf der Bekenntnissynode von Barmen konstituierte. Aus seiner Feder stammt im Wesentlichen der Text der Barmer Theologischen Erklärung, der heute zu den Bekenntnisgrundlagen der reformierten und unierten Landeskirchen in Deutschland gehört.
Die erste These dieser Erklärung bekennt, dass Jesus Christus das „eine Wort Gottes“ ist, dem Christinnen und Christen zu vertrauen und zu gehorchen“ haben. Sie schließt aus, dass „neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten“ (wie Rasse Blut und Boden) „als Quelle der Verkündigung der Kirche“ anzuerkennen seien. Das Eintreten für diese Wahrheit hat Barth seine Professur in Bonn gekostet, weil er sich weigerte, den Beamteneid auf Hitler ohne Vorbehalte abzulegen. Er wurde darum Professor in Basel, von wo aus er die Kirchen in Europa und außerhalb Europas unermüdlich zum Widerstand gegen das Naziregime aufgerufen hat.
Nach dem Ende des 2. Weltkrieges hat Barth sich entschieden für die Versöhnung der Völker Europas mit den Deutschen eingesetzt. Sein Name steht in den Auseinandersetzungen der 50ger Jahre um die Atombewaffnung Westdeutschlands aber auch für eine entschlossene Ablehnung dieser Rüstung gut. Im politischen Felde hat er nicht weniger für viel Aufregung gesorgt, als er sich weigerte, im beginnenden „Kalten Krieg“ in die antikommunistische Propaganda des „Westens“ gegen den „Osten“ einzustimmen – eine Weigerung, die ihn in seinem Heimatlande bei Vielen in den Ruf eines „Kommunisten“ (was immer das sein sollte) gebracht hat. Barth ging es darum, dass sich die Kirche ihre Freiheit gegenüber dem westlichen wie der östlichen Lager bewahren sollte.
In diesem Sinne hat er 1958 auch seinen berühmten großen „Brief an einen Pfarrer in der Deutsche Demokratischen Republik“ geschrieben. Jener Pfarrer hatte viele Macht- und Unrechtstaten des DDR-Staates geschildert und Barth gefragt, ob man einem solchen Staat gegenüber eine Loyalitätserklärung abgeben dürfe. Barth hat das bejaht, allerdings mit dem „Vorbehalt der Gedankenfreiheit gegenüber der Ideologie“, ja dem Vorbehalt des Widerspruchs, eventuell des Widerstandes gegen bestimmte Explikationen und Applikationen“ seiner Machtausübung (Brief an einen Pfarrer in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Offene Briefe 1945-1968, Karl Barth Gesamtausgabe 15, Zürich 1984, 428f.).
Im Entscheidenden aber ging es ihm um das Positive, Menschen zum Christsein in der DDR zu ermutigen und – was damals massenweise geschah – nicht wegzulaufen. Anders gesagt: Es ging ihm um die Freiheit, die auch der Kirche in der DDR durch ihre Beziehung auf Jesus Christus geschenkt ist und die sie befähigt, gerade dieser Gesellschaft die Menschenfreundlichkeit Gottes in Wort und Tat zu bezeugen. Wie stark dieses Anliegen in die Kirchen der DDR hinein gewirkt hat, kann man daran sehen, dass sich der 1969 gegründete Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR mit einem fast wörtlichen Zitat aus der „Kirchlichen Dogmatik“ IV/3, 426 eine „Zeugnis- und Dienstgemeinschaft“ nannte. Die Kirchlichen Hochschulen in der DDR, die sich in den 50er Jahren nach und nach konstituierten, aber waren nach meiner Erfahrung Stätten, in denen die Freiheit zu solcher „Zeugnis- und Dienstgemeinschaft“ für Generationen von Pfarrerinnen und Pfarrern nachhaltig eingeübt wurde.
2. Die Herausforderung durch den real-sozialistischen Staat
Das Profil und das Wirken einer christlichen Kirche hängt entscheidend daran, in welchem Geiste die Pfarrerinnen und Pfarrer beheimatet sind, die in ihnen wirken. Wie sie ausgebildet werden, ist darum für das Profil und das Wirken einer Kirche von wesentlicher Bedeutung. Theologische Ausbildung ist traditionellerweise Aufgabe der Universitäten. Sie lag auch in der DDR in den Händen der Theologischen Fakultäten, die seit 1970 Sektionen der gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten der sozialistischen Universitäten waren.
Da es nun aber in der DDR keine Staatskirchenverträge gab, hatte die Kirche faktisch keinen geregelten Einfluss auf die Theologischen Fakultäten und die Art der Ausbildung. Wie sie sich vollzog, war einerseits abhängig von den theologischen Positionen der Professoren und andererseits von den Vorgaben des Ministeriums für das Hoch- und Fachschulwesen. Das hieß: Die Fakultäten bzw. Sektionen boten bei aller theologischen Wahrhaftigkeit einzelner Lehrerinnen und Lehrer nicht die Gewähr, Generationen von Theologinnen und Theologen heran zu bilden, die der Wahrheit des Evangeliums verpflichtet waren und von daher für Zeugnis und Dienst frei waren. Sie verweigerten zudem politisch missliebigen jungen Menschen die Immatrikulation, so dass die Kirche genötigt war, für solche Menschen eigene Wege der Theologischen Ausbildung schaffen.
Das geschah an drei Orten in der DDR: In Naumburg/Saale wurde das Katechetische Oberseminar zur Kirchlichen Hochschule, in Berlin das Sprachenkonvikt und in Leipzig das Theologische Seminar. Alle drei Institutionen durften sich nicht Hochschule nennen und hatten keine Hochschulreche. Aber jeder und jedem, die es wissen wollten, war klar, dass hier in Freiheit ohne staatlichen Zwang Theologie studiert werden konnte. „Inseln im roten Meer“ haben unsere launigen sächsischen Kollegen diese Hochschulen genannt. Von „Oasen in einer ideologischen Wüste“ hat Eberhard Jüngel geredet.
Dieser in Magdeburg geborene Theologe war seit dem Mauerbau im Jahre 1961 Dozent zunächst für Neues Testament und dann für Systematische Theologie am Sprachenkonvikt in Berlin. An dieser Hochschule hatte Barths Theologie fast selbstverständlich orientierende Bedeutung. Denn sie war vor 1961 ein Ableger der Kirchlichen Hochschule in Berlin-Zehlendorf, die sich der Tradition der Bekennenden Kirche und damit dem Einfluss Karl Barths verdankte. Hier lehrte Heinrich Vogel, ein enger – allerdings lutherisch geprägter – Vertrauter Barths aus dem Kirchenkampf, der auch nach dem Mauerbau in Zehlendorf, am Sprachenkonvikt und an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität die systematische Theologie vertrat.
Noch nachhaltiger als dieser spezifische Barthianer hat freilich Eberhard Jüngel dafür gesorgt, dass Barths Theologie am Sprachenkonvikt und über das Sprachenkonvikt hinaus kritisch verlebendigt und aktualisiert wurde. Sein Büchlein „Gottes Sein ist im Werden“ weist das aus, noch mehr aber sein großes Buch „Gott als Geheimnis der Welt“, das in Zürich entstand, wohin er 1966 berufen wurde. 2010 ist es in 8. Auflage erschienen und steht bis heute für eine Vertiefung und Weiterentwicklung der christologischen Konzentration der Theologie Barths gut, die in der DDR besonderen Herausforderungen ausgesetzt war.
Diese Herausforderungen hatten – grob gesagt – zwei Schwerpunkte. Das war einmal die Notwendigkeit für die Kirche, diesen Staat theologisch zu bewerten und sich in der von ihm gestalteten Gesellschaft zu positionieren. Zum anderen galt es, sich darüber klar zu werden, wie der massenhaften Entfremdung der Bevölkerung vom christlichen Glauben und der Kirche aus den Möglichkeiten des christlichen Glaubens und der Gemeinden heraus standzuhalten sei. Letzteres ist eine Herausforderung, die ohne Zweifel bis heute fortbesteht. Denn jene Entfremdung zählt zu den erfolgreichsten Hinterlassenschaften des „real existierenden Sozialismus“, die sich heute in Verbindung mit dem westlichen Säkularismus weiter und weiter ausbreitet. Sie ist immer noch „aktuell“, während die theologische Bemühung um die Bewertung des sozialistischen Staatswesens und – wie es hieß – die „Wegfindung“ der Kirche in ihr mit dem Ende dieses Staatswesens ihre Zeit gehabt hat.
Dennoch sollten wir nicht vergessen, dass aus dem Raum der Kirchlichen Hochschulen in der DDR heraus wesentliche Impulse für diesen Weg ausgegangen sind, die mit Karl Barths theologisch-politischer Positionierung im damaligen Ost-West-Konflikt zusammen hängen. Sie gingen in ihrer kirchlichen Wirksamkeit in den 50er Jahren vor allem vom Katechetischen Oberseminar in Naumburg/Saale aus. Dort war Johannes Hamel – einer meiner Vorgänger im Studentenpfarramt in Halle/Saale – seit 1954 Dozent für Praktische Theologie. Er war ein besonderer Vertrauter Karl Barths, der sich für ihn auch beim Minister für Staatssicherheit Zaiser eingesetzt hat, als er 1953 inhaftiert wurde. Durch ihn hat er sich auch immer wieder über die Situation der Kirche in der DDR informieren lassen, so dass für ihn kein Zweifel bestand, dass die Kirche in der DDR eine „Kirche unter Druck“ war, wie er sie etwa in der „Kirchliche Dogmatik“ IV/2, 750, beschrieben hat.
Ich zitiere dieser Passage einmal, um deutlich zu machen, wie sehr sich Barth in die Situation der Kirche in der DDR hinein versetzt hat. Es handele sich hier um eine Kirche, schrieb er, der durch eine „allmächtige Staatspartei“ der Mund verschlossen werden soll; eine Kirche, die man von der Gesellschaft und insbesondere von der Jugend abschneiden will; eine Kirche, die man auf den „Kult“ zu reduzieren und „in den Winkel“ zu drängen trachtet, „um sie dort umso leichter lächerlich, verächtlich, auch wohl verhasst zu machen“; eine Kirche leider auch, deren „wichtigste Wortführer“ man von ihr zu isolieren versucht und die dann „vermöge seiner öffentlichen und geheimen Organe“ sehr energisch vom Staat selbst geführt werden sollen .
Illusionen über die Kirche in der DDR hat sich Barth also sicherlich nicht gemacht. Dennoch hat er der Kirche in der DDR nicht zu einer Fundamentalopposition geraten, wie das etwa der Berliner Bischof Otto Dibelius getan hat, der 1959 die Meinung vertrat, Christen seien einem Staat, in dem die Macht über dem Recht stehe, in ihrem Gewissen nicht zum Gehorsam verpflichtet. Er übersetzte Römer 13 darum so: „Rechtmäßige (!) Gewalt soll bei jedermann Gehorsam finden“ (vgl. Obrigkeit. 1959, 23). Nun kann man in Barths Begründung des christlichen Verständnisses des Staates durchaus die gleiche Meinung finden, nämlich dass der Staat Rechtsstaat sein soll und die Macht sich nicht vom Recht lösen dürfe (vgl. das Christliche Leben, 374-377).
Im damaligen Ost-West-Konflikt wollte Barth aber nicht, dass sich die Kirche auf eine westliche „antikommunistische“ oder östliche „anti-kapitalistische“ und „anti-imperialistische“ Position politisch festlegt. Darum optierte er für einen „dritten Weg“, in welcher – wie schon oben angedeutet – die Kirche in Freiheit von diesen Positionen ihr christliches Zeugnis zur Geltung bringt und praktisch für die aus ihm folgenden politischen Vorstellungen vom rechten staatlichen Handeln eintritt.
Hamel hat diese Position in seinen Schriftchen „Christ in der DDR“, Berlin 1957; und „Christenheit unter marxistischer Herrschaft“, Berlin 1959 vertreten. Noch mehr schlug aber zu Buche, dass er diese Position in kirchenleitenden Zusammenhängen nachdrücklich zur Geltung brachte. Die „Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche“ aus dem Jahre 1963 tragen seine Handschrift. Nicht weniger gilt das für das Votum der Evangelischen Kirche der Union aus dem Jahre 1973 „Zum „Politischen Auftrag der christlichen Gemeinde“, das die 2. These der Barmer Theologischen Erklärung aktualisierte, in der es heißt, dass Jesus Christus auch „Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben“ ist, durch den uns „frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbaren Dienst an Gottes Geschöpfen“ widerfährt.
Dieses Votum, in dem fast alles aufgezählt wird, was der SED-Staat an Unrecht tat, löste die helle Empörung der DDR-Gewaltigen aus. Sie kündigten schlimmste Konsequenzen an, wenn das veröffentlicht würde. Die EKU ist darauf hin eingeknickt. Der auf die DDR bezogene Teil des Votum wurde nicht ihn nicht in die Veröffentlichung des Gütersloher Verlages aufgenommen. Erst in der 2. Auflage ist er dazu gefügt worden. Es ist noch heute ein bewegender Text, der die ganze Schwierigkeit der Kirche in der DDR plastisch vor Augen führt.
Da ist auf der einen Seite die Beteuerung, dem besten, vor allem sozialen Wollen dieses Staates zu assistieren, ja sogar zu „dienen“. Auf der anderen Seite aber werden so viele Verletzungen von Recht und Gerechtigkeit in diesem autoritären Staatswesen thematisiert, dass es ihn im Grunde in seiner Substanz in Frage stellt. Das war nach meinem Urteil auch der blinde Fleck in Karl Barths Option für einen „dritten Weg“. Er hat sich nicht klar gemacht, dass seine Option für die Freiheit der Kirche auf das Geltendmachen demokratischer Freiheitsrechte einer westlichen Gesellschaft hinaus lief. Die DDR-Gewaltigen aber haben das wohl gewittert und deshalb solche Texte zu unterdrücken versucht.
In den Vorlesungen und Seminaren der drei Kirchlichen Hochschulen aber waren sie – so will ich jedenfalls aus meiner eigenen Lehrtätigkeit heraus vermuten – präsent. So nimmt es nicht wunder, dass die Kirchlichen Hochschulen in der Umbruchszeit von 1989 je auf ihre Weise Konzentrationsorte der „friedlichen Revolution“ wurden und ihre Absolventen landauf landab sich an den „Runden Tischen“ dafür eingesetzt haben, dass eine demokratische Gesellschaft, zu der das Evangelium nach Barth eine „Affinität“ hat, entschlossen eintraten. Es ist zu hoffen und zu erwarten, dass der Einsatz für eine demokratische Gesellschaft von damals auch heute noch in den Konflikten unserer gegenwärtigen Gesellschaft Langzeitwirkungen zeitigt, welche unsere deutsche Evangelische Kirche zum eindeutigen Anwalt der Würde jedes Menschen macht, auf der die Demokratie beruht und die in der Würdigung jedes Menschen durch Gott begründet ist.
3. Die Herausforderung durch Atheismus und Gottesvergessenheit
Im Jahre 1967 – ein Jahr vor Barths Tod – erschien der letzte Band der „Kirchlichen Dogmatik“, nämlich Barths Tauflehre als Teil der Fragment gebliebenen Ethik der Versöhnungslehre. Im Vorwort hat Barth gesagt, er sei sich durchaus darüber im Klaren, dass er im Begriff sei, sich nach beinahe 50 Jahren theologisch-kirchlichen Wirkens mit dieser Tauflehre „einen schlechten Abgang zu verschaffen“ (KD IV/4, XII). Denn sie stellte zwei Selbstverständlichkeiten in den Landeskirchen der Schweiz und Deutschlands in Frage. Sie profilierte die Taufe als Antwort von Menschen auf Gottes Zuwendung zu ihnen und als „Dienstantritt“ eines Menschen als Zeuge Jesu Christi. Sie bestritt damit den sakramentalen Charakter der Taufe als „Heilsmittel“. Sie kritisierte die Säuglings- bzw. Unmündigentaufe als „tief unordentliche Taufpraxis“ (KD IV/4, 213).
Barth löste damit zu Beginn der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts eine Taufdiskussion aus, die auch dadurch nötig wurde, dass Pfarrer die Taufe ihrer Kinder aufschoben. So war es auch in der DDR. Ich war in dieser Zeit damals noch als Studentenpfarrer in Halle als einer der Nachfolger Hamels Mitglied eines Taufausschusses der Kirchenprovinz Sachsen, in dem Martin Seils vom Katechetischen Oberseminar in Naumburg ein streng lutherisch-sakramentale Position einnahm. In Opposition zu ihm trat der später prominente Leiter des Predigerseminars in Gnadau, Heino Falcke, für die von ihm sogenannte „Katechumenatstaufe“ ein (vgl. die Säuglingstaufe als Problem evangelischer Tauflehre und Taufpraxis, in: Joachim Rogge/Gottfried Schille [Hg.],Theologische Versuche II, Berlin 1969, bes. 188-190). Obwohl Schüler Karl Barths – er hatte die KD III/2 Korrektur gelesen! – teilte er jedoch nicht dessen nicht-sakramentales Verständnis der Taufe. Ihm ging es darum, dass zum Empfang der Taufe ein hörender und verstehender Glaube gehört, der Menschen bereit und fähig macht, für diesen Glauben in Wort und Tat einzutreten.
Unterstützung für die Intentionen von Barths Taufverständnis aber kam unerwartet von anderer Seite, nämlich aus dem Theologischen Seminar in Leipzig. Ulrich Kühn zeigte auf, dass in der vorreformatorischen Tradition die Taufe sehr wohl als „Dienstverpflichtung“ und „Gelöbnis“, ein christliches Leben zu führen, verstanden wurde, so dass „der Gesichtspunkt, unter dem Barth die Taufe zu begreifen versuchte, in der Tradition des kirchlichen Taufverständnisses durchaus lebendig , ja sogar im Neuen Testament aufweisbar ist“ (vgl. Die Taufe – Sakrament des Glaubens, in: Joachim Rogge/Gottfried Schille [Hg.], Theologische Versuche III, Berlin 1971, 181- 184).
Außerdem erinnerte Kühn an das altkirchliche und mittelalterliche Verständnis der Taufe als „sacramentum fidei ecclesiae“, mit welcher die Kirche als Gemeinschaft ihren Glauben an Christus öffentlich bekennt und den Getauften zu – wie es ganz „barthianisch“ heißt – „Zeugnis und Dienst“ verpflichtet. Darum gilt: „Taufe ist […] Ordination zu Zeugnis und Dienst“ (a.a.O., 187). Das habe Barth „völlig richtig gesehen“ (a.a.O., 189).
Obwohl Kühn die Kindertaufe mit dem Argument gerechtfertigt hat, dass auch das Kind mit den Eltern als Gliedern der Kirche zusammen in eine Situation der Bewährung des Glaubens gestellt ist, hat er sich dafür ausgesprochen, „daß die Übung der Erwachsenentaufe […] wieder häufiger und regelmäßiger praktiziert werden“ möge, um diesen Charakter der Taufe im Bewusstsein der Gemeinden zu verankern (a.a.O., 189). Denn obwohl er wie Falcke am sakramentalen, heilsvermittelnden Charakter der Taufe festgehalten hat, stand ihm wie allen, die sich für das Profil der Taufe als „Dienstantritt“ stark gemacht haben, die bis heute bedrückende Situation vor Augen, dass Tausende und Abertausende Getaufte in der DDR wie auch heute bei nur geringem Druck von Seiten des Staates oder des Finanzamtes ohne große Bedenken ihre Gliedschaft in der Kirche fahren ließen und lassen..
Die verlotterte Taufpraxis der Kirche, in der das Taufversprechen von Eltern und Paten weithin gar nicht ernst genommen wurde und darum in den Familien die Beziehungen auf den Glauben und die Kirche einschliefen und abbrachen, ist sicher nicht der einzige Grund, warum sich in der DDR ein hartwandiges Milieu der Gottesferne und Gottvergessenheit bilden konnte. Die atheistische Propaganda, dass der Glaube an Gott „unwissenschaftlich“ sei und Religion nur aus lauter Illusionen bestehe, die zudem dem Wirken des „Klassenfeindes“ zuzuordnen sind, hat ein Übriges getan.
Die Freigabe des Taufaufschubs in der Lebensordnung der Kirche, für den sich jener Taufausschuss der Kirchenprovinz Sachsen bei gleichzeitiger Anerkennung der Kindertaufe ausgesprochen hat, war demgegenüber nur ein Tropfen auf den heißen Stein, der zudem nach und nach verdampfte. Faktisch machten immer weniger Eltern von dieser Möglichkeit Gebrauch und heute sind es so gut wie gar keine. Der Brauch der Säuglings- und Unmündigentaufe hat sich als ein Passageritus für religiös gestimmte Eltern als mächtiger erwiesen – schon in der DDR-Zeit, aber erst recht heute.
Die Evangelische Kirche in Deutschland hatte im Kontext von Dekaden auf das Reformationsjubiläum von 2017 zu das Jahr 2011 zum „Jahr der Taufe“ ausgerufen und dazu ein „Magazin“ herausgegeben. Die darin als selbstverständlich angesehene Säuglings- bzw. Kindertaufe wird als ein rein durch ihren Vollzug (ex opero operato) wirkendes Sakrament empfohlen, das göttliche „Lebenskraft“ verleihe. Das bedeutet, sie wird entgegen ihrem Sinn schöpfungstheologisch umgedeutet. Sie wird als eine Segenshandlung mit Wasser empfohlen, während von „Zeugnis und Dienst“ gar nicht die Rede ist. In der Praxis wirkt sich das so aus, dass sogar die Frage an die Eltern und Paten weithin nur noch schüchtern gestellt wird: „Wollen Sie versuchen (!), ihr Kind im christlichen Glauben zu erziehen“? – wird nicht selten gefragt.
Dergleichen destruiert ohne Zweifel die reformatorische Grundüberzeugung vom „Priestertum aller Glaubenden“. Dieser Überzeugung ist als Ausdruck der Verantwortlichkeit aller Glaubenden für die Bezeugung des Evangeliums zu verstehen. In deren Einprägung hat Barths Kirchenverständnis geradezu seine Pointe. Unter dem Stichwort „mündiges Christsein“ findet man das denn auch in allen Anschauungen von der Kirche, die an den Kirchlichen Hochschulen vertreten wurden. Um von meinen eigenen Beiträgen zum Kirchenverständnis Barths zu schweigen, verweise ich hier auf Ingo Klärs Festvortrag zum 70. Geburtstag von Martin Seils. „Glaube“ – sagt Klär dort, dem wir auch sonst eine Reihe vortrefflicher, kritischer Analysen der Theologie Barths verdanken – heißt für jeden: „Beteiligung an der Wirklichkeit Gottes“ und damit „Mitwirken mit dem Wirken Gottes“ („Dein Glaube hat Dir geholfen“, Zur soteriologischen Bedeutung des Glaubens“, in: Mensch sein. Mensch werden. Mensch bleiben. Aufsätze und Vorträge. Aus dem Nachlass hg. von H.W.Pietz, Görlitz 2017, 143). Je weniger Getaufte dazu in ihrer DDR-Lebenswelt in der Lage waren, umso mehr – das konnte man „empirisch“ feststellen – vermochte sich die Gottesvergessenheit in den Familien auszubreiten. Menschen ließen ihre Kirchenzugehörigkeit massenhaft mit und ohne Druck fahren, ohne auch nur „offiziell“ aus der Kirche auszutreten (was dann nach der Deutschen und kirchlichen Vereinigung für viel Verwirrung und Missmut gesorgt hat).
Dass Barths Theologie so sehr darauf gedrungen hat, dass Christinnen und Christen in einer repressiv atheistischen gesellschaftlichen Umgebung sich ihrer Verantwortung als Getaufte und Glaubende bewusst werden, wird man ihm also kaum zum Vorwurf machen können. Die Frage, die an den Kirchlichen Hochschulen der DDR mit unterschiedlicher Intensität präsent gewesen ist, war nur, ob er das auf eine Weise getan hat, die in der Lage war, Menschen in der Situation der Überflutung von atheistischer Propaganda und einer antireligiösen Stimmung bei der gesellschaftlichen Mehrheit auch wirklich abzuholen. Seine starke, einer ganz anderen Situation verdankte Negation von Religion „als Unglaube“ und geradezu als „die Angelegenheit des gottlosen Menschen“ (vgl. KD I/2, 327) schien zu bedeuten, dass er alles, was sich an Zeichen bei glaubenslosen Menschen dafür zeigt, dass ihre Offenheit für Gott nicht ganz erstorben ist, zerschmettern wollte.
Die Rezeption der Theologie Karl Barths unter den Bedingungen der DDR konnte darum – wenn ich jetzt einmal etwas pro domo reden darf – nicht bedeuten, ihre negativen Urteile über die Religion einfach nachzuplappern, wie es da und dort sicherlich geschehen ist. Es galt vielmehr, diejenigen Impulse seiner Theologie der Menschenfreundlichkeit Gottes aufzunehmen, die jeden Menschen so verstand, dass er „ein von Haus aus […] in einer Beziehung zu Gott stehendes Wesen“ ist, „geöffnet und bezogen zu Gott hin ist“ (KD III/2, 83f.). Es galt zu verstehen, warum auch von Menschen, die Gott vergessen haben, „wahre Worte außerhalb der Kirche“ (KD IV/3 144ff.) zu vernehmen sind und warum es kein „absolutes Unbekanntsein“ Gottes in der Welt gibt, sondern sich überall „Eindrücke“ von der Wirklichkeit Gottes „ernstlich aufdrängen“ (ChL 199ff).
Weil im Glauben an Gottes Eintreten für seine Geschöpfe jeder Mensch „wertbeständig […] und […] immer neu interessant“ ist (KD IV/3, 913), existiert die Gemeinde, die sich dessen bewusst ist, in Solidarität mit den Menschen, in deren Leben Gott keine Rolle spielt. Das heißt, sie existiert in Offenheit für ihre Fragen und Nöte, im Ernstnehmen ihrer Urteile und Vorurteile über die Religion, im Angebot des Dialogs über das Verhältnis von Wissenschaft und Glaube, den Barth selbst freilich sträflich vernachlässigt hat. Dass bei solchem Zugehen auf Menschen, die sich selbst als „religionslos“ verstehen, auch Phänomene von Pseudoreligiosität kritisch anzusprechen sind, in der sie sich immer wieder Irdischem wie Göttlichem hingeben, versteht sich. Aber das kann in der Begegnung von Christinnen und Christen mit ihren nichtglaubenden Mitmenschen nur „in höchstem Respekt vor der Freiheit der göttlichen Gnade und darum auch in höchstem Respekt vor dem Anderen geschehen, der von mir gar nichts, sondern alles von Gott zu erwarten hat“ (KD I/2, 488).
Ich habe die Kirchlichen Hochschulen in der DDR so erlebt, dass sie den Studierenden, die das Pfarramt anstrebten, diesen Geist, der in der Menschenfreundlichkeit Gottes gründet, vermittelt haben. Darin bleibt ihre kritische Auseinandersetzung mit der Theologie Karl Barths wie das Aufnehmen ihrer besten, zukunftsträchtigen Impulse „aktuell“.