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05.05.2015 10:27 Age: 9 yrs
Category: Artikel

Christentum ohne Religion?

Dietrich Bonhoeffer: Auf der Suche nach einem "mündigen" Glauben (Ev. Zeitung 69/17 am 26.04.2015, 24)


Im Jahre 1951 wurden Dietrich Bonhoeffers Briefe auf dem Gefängnis unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“ veröffentlicht. Da war die Überraschung bei denen, die ihn kannten, groß. Für sie war er der kompromisslose Streiter für das Bekenntnis der Kirche. Hier aber begegnete er ihnen ganz anders. Die vielen Menschen, die mit der Kirche und dem Glauben überhaupt nichts mehr zu tun haben, beunruhigten ihn in der Haftzeit zutiefst. Sie „können einfach nicht mehr religiös sein“, stellte er fest. Sie brauchen Gott weder zur Erklärung der Natur noch zur Bewältigung der Probleme ihres Lebens. Da diese „Religionslosigkeit“ schon vor über 70 Jahren massenhaft verbreitet war, lautete Bonhoeffers Prognose für die Zukunft: „Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen“.

Aber er wollte nicht zugeben, dass Gott, wie er in Jesus Christus begegnet, diese Menschen abgeschrieben hat. „Wie kann Christus der Herr auch der Religionslosen werden“? war darum seine Frage. Leider sind seine Antworten darauf Bruchstücke geblieben. Die Interpretationen dessen, worum es ihm eigentlich ging, füllen darum seit 1951 ganze Bibliotheken. Aber fünf Schwerpunkte seiner Suche nach einer Antwort sind doch verhältnismäßig klar erkennbar.

Bonhoeffer hat „Religion“ erstens als eine „geschichtlich bedingte und vergängliche Ausdrucksform“ des christlichen Glaubens an Gott verstanden. Er hat darum danach gefragt, ob christlicher Glaube nicht auch ohne diese „Ausdrucksform“ möglich ist.

Unter „Religion“ hat er dabei zweitens die Orientierung von Menschen an Gottes Macht verstanden. Von Gott wird erwartet, dass er „übernatürlich“ in das menschliche Leben eingreift.

Der christliche Glaube teilt demgegenüber drittens ein Merkmal der „Religionslosigkeit“. Er versteht die Welt und das Leben als Felder, die Gott uns zu eigener, „mündiger“ Gestaltung frei gegeben hat.

Begründet hat Bonhoeffer das viertens mit dem Leiden Gottes am Kreuz Jesu Christi. Gott lässt sich hier in weltlicher Ohnmacht aus der Welt „herausdrängen“. Er gibt Menschen damit die Welt zur eigenen Erkenntnis und eigener Verantwortung frei. Aber er zieht sich damit nicht von der Welt zurück. Er leidet ihre Leiden mit. Indem er in diesem Leiden gegenwärtig ist, verleiht er Menschen, die an ihn glauben, seine Kraft, ohne Macht und Gewalt für eine Welt einzutreten, in der ein Mensch für den anderen da ist.

Bonhoeffers Überlegungen zu einem „religionslosen Christentum“ steuern darum fünftens zielgenau auf eine „Kirche für andere“ zu. Eine solche Kirche will nichts für sich selbst sein. Sie ist von Gottes mitleidender Solidarität mit der mündigen, „religionslosen“ Welt geprägt. „Sie muß“, heißt es im „Entwurf einer Arbeit“, die Bonhoeffer schreiben wollte, „alles Eigentum den Notleidenden schenken. Die Pfarrer müssen ausschließlich von den freiwilligen Gaben der Gemeinde leben, eventuell einen weltlichen Beruf ausüben. Sie muß an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend“.

Der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR nannte sich unter Berufung auf Bonhoeffer „Kirche für andere“. Die Evangelische Kirche in Deutschland tut das heute auch. Mit Bonhoeffers Verständnis einer solchen Kirche hatte und hat das nur annäherungsweise etwas zu tun. Bonhoeffers Vision einer „Kirche für andere“ wird hier auf das Normalmaß gesellschaftlichen Engagements der Institutionen Kirche und der Glieder der Kirche zurück geschraubt.

Auch Bonhoeffers Prognose, „dass wir einer völlig religionslosen Zeit entgegen gehen“, findet wenig Zustimmung. Heute ist regelrecht von einer „Wiederkehr der Religion“ die Rede. Angesichts der Verunsicherungen durch die wissenschaftlich-technische Welt fragen Menschen wieder nach Halt und Sinn im irgendwie Jenseitigen. Die Zukunftspapiere der Evangelischen Kirchen in Deutschland setzen darauf einige Hoffnung. Folglich machen sie sich auch nicht Bonhoeffers Vorstellung von einem „religionslosen Christentum“ zu Eigen.

Diese Vorstellung ist auch schwierig. Denn Bonhoeffer hat das Verständnis von „Religion“ sehr eng gefasst. Er wandte sich gegen diejenige „Religion“, die Gott zum „Lückenbüßer“ macht. „Religion“ ist aber noch viel mehr. Dass Menschen sich überhaupt auf Gott beziehen, kann man auch „Religion“ nennen. Dass sie beten und ihr Handeln nach Gottes Gebot ausrichten, ebenfalls. In diesem Sinne war Bonhoeffer selbst ein zutiefst „religiöser“ Mensch. Sein weit verbreitetes und vertontes Gedicht „Von guten Mächten treu und still umgeben“, ist der beste Beweis dafür.

Eine Herausforderung für die Kirche heute bleiben Bonhoeffers Überlegungen zu einem „religionslosen Christentum“ dennoch. Sie nötigen sie dazu, sich auf den massenhaften praktischen Atheismus einzustellen, der in unserer Gesellschaft – besonders im Osten – ein regelrechtes gesellschaftliches Milieu bildet. Sie üben Kritik einer christlichen Religion ein, die Gott verweltlicht, indem sie ihn zu einer Funktion menschlicher Bedürfnisse macht. Sie fordern heraus, Gottes Ohnmacht als Geisteskraft für ein menschliches Leben im Eintreten für andere zu verstehen. Sie schicken unsere Kirche auf den Weg, immer mehr „Kirche für andere“ zu werden. 


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