Category: Predigten
"Lasst uns nun geh'n nach Bethlehem..."
Predigt zu Micha 5, 1-4 am 2. Weihnachtsfeiertag 2016 in der Nordendgemeinde Berlin
Der Predigttext steht im Buch des Propheten Micha. Wir wollen ihn in eine Passage aus der Weihnachtsgeschichte von Lukas 2 einbetten. Dort sprachen die Hirten, nachdem ihnen die Geburt Jesu verkündigt wurde, untereinander:
„Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kund getan hat.“
Auf diesem Gang nach Bethlehem aber werden im Neuen Testament die Worte des Propheten Micha lebendig, die er cirka 800 Jahre vor Jesu Geburt gesprochen hat. Sie lauten in meiner Übersetzung:
"Und Du, Betlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herrscher werden soll. Seine Ursprünge liegen in der Vorzeit, in längst vergangenen Tagen. Währenddessen gibt er (Gott) sie (sein Volk) preis bis zu der Zeit, da sie, die gebären soll, geboren hat. Dann wird der Rest seiner Brüder zurückkehren zu den Israeliten. Er aber wird auftreten und mit der Kraft des Herrn wird er sie weiden; mit der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes. Dann werden sie sicher wohnen. Denn nun wird er groß sein bis an die Enden der Erde. Und mit ihm wird der Friede kommen.
Liebe Gemeinde,
vermutlich gibt es kaum eine Stadt oder ein Dorf auf unserer Erde, deren Namen nur einen guten Klang haben. Natürlich kenne ich nicht alle Orte und will darum nicht vorschnell urteilen. Vielleicht gibt es ja in irgendeinem Winkel unseres Landes und anderer Länder Siedlungen, deren Namen so rein klingen wie Glocken, weil sie niemals von den Misstönen der Untaten ihrer Bewohner besudelt wurden. Doch sehr wahrscheinlich ist das nach aller Erfahrung nicht. Wo Menschen wohnen, kleben an den Namen ihrer Wohnorte immer auch dunklen Schatten.
Das sind nicht nur die Schatten großer Verbrechen, die manche Orte auf unserer Erde für immer fürchterlich stigmatisiert haben: Auschwitz, Meidanek, Treblinka, Hiroshima, Nagasaki. Das sind auch nicht bloß die Schatten, welche mörderisches Töten im Kriege in die Namen von Städten und Dörfern eingebrannt hat: Frankenhausen, Waterloo, Stalingrad, Djen Bien Fu, Bagdad, Aleppo. Heute reicht es zudem schon, New York, Paris, Brüssel, Nizza und nun auch Berlin zu nennen, um die Blutspur des Terrorismus zu kennzeichnen, die sich durch Europa zieht. Hinzu kommen dann noch die ganz alltäglichen Schatten menschlicher Bosheit und Aggressivität, von denen die Zeitungen täglich voll sind und die Städte- und Ortsnamen dunkel grundieren.
Jedes Dorf, jede Stadt gibt sich darum hierzulande und anderswo große Mühe, ihren Namen von solchen Schatten reinzuputzen. Die Tourismusindustrie assistiert bei diesem Bemühen tatkräftig, indem sie uns auf ihren Hochglanzprospekten den Ort, an den wir reisen sollen, in den schönsten Farben vorführt. Orte in schlechthin bezaubernder Landschaft mit lauter liebenswerten, schönen Menschen sollen uns locken, da hinzukommen. Fast jede größere Stadt hat sich unterdessen einen Beinamen zugelegt, der uns reizen soll, sie zu besuchen.
Da wird also mit dem Pfund der schönen Bauwerke gewuchert. Die Stadt der Kathedralen, die Stadt der Burgen, die Stadt der Brücken, die Stadt der Schlösser, die Stadt der verschwiegenen Gassen usw. sollen wir uns auf keinen Fall entgehen lassen. Da werden große Namen aus der Geschichte regelrecht in den Ortsnamen hinein gepresst, obwohl die meisten Bewohner mit dem „großen Sohn der Stadt“, wie man sagt, gar nichts am Hut haben. In der „Lutherstadt Wittenberg“ gehört nur ein Bruchteil der Bevölkerung der evangelischen Kirche an. Und wie viele Einwohner in der Goethestadt Weimar oder in der Schillerstadt Marbach Goethes und Schillers Werke wirklich kennen oder gar verinnerlicht haben, brauchen wir gar nicht erst zu fragen.
Wir haben also – kurz gesagt – allen Anlass, ziemlich misstrauisch zu sein, wenn irgendein Ort in unserem Lande und anderswo auf der Welt mit solchen Namen als Hort und Oase großer und reiner Ideale ausgegeben wird, die uns mit Heinrich Heine und Robert Schumann den sehnsuchtsvollen Seufzer entlocken: „Ach möchte’ ich dorthin kommen und dort mein Herz erfreu’ n, und aller Qual entnommen, und frei und selig sein!“ Solche Orte, liebe Gemeinde, gibt’s aufs unserer Erde leider nicht. Im Licht der Morgensonne, die unser wirkliches Leben grell beleuchtet, zerfließen solche Sehnsüchte nach Orten reinen Glücks oder reinen Heils wie „eitel Schaum“.
Ist’s also auch „eitel Schaum“, wenn die Bibel uns nun Bethlehem – ein kleines Nest in der Nähe von Jerusalem zu biblischen Zeiten – als einen Ort rühmt, von dem Frieden ausgeht bis an die Enden der Erde oder so weit die Welt ist? Wenn wir auf das Bethlehem von heute blicken, können wir sicherlich nicht dieser Meinung sein.
Bethlehem ist heute eine Stadt von ungefähr 30.000 Einwohnern in den sogenannten palästinensischen Autonomiegebieten, die von der Hamas mit ihrem strikt antiisraelischen politischen und militärischen Kurs beherrscht wird. Ein acht Meter hoher Zaun – erinnernd an die Berliner Mauer – grenzt diese Stadt von Israel ab. Manche von Ihnen, liebe Gemeinde, waren ja vielleicht schon einmal dort, um die Geburtskirche zu besuchen, die über der Geburtsstätte Jesu von Kaiser Konstantin errichtet wurde.
Der religiöse Tourismus, der nach der Machtübernahme der Hamas zum Leidwesen der Hotels und Restaurants in Stocken geraten war, ist unterdessen wieder einigermaßen in Schwung gekommen.Viele Menschen jährlich schließen sich dem Entschluss der Hirten auf dem Felde an, nach Bethlehem zu gehen oder vielmehr zu fliegen. Aber nicht wahr, sie kommen da nicht an einen Ort, an dem sie inmitten des schier ausweglosen Konfliktes zwischen Israel und den Palästinensern den Frieden auf Erden antreffen, den die Engel in der Weihnachtsgeschichte verheißen haben. Sie kommen da einen Ort, um den rings umher ein irrsinniger Kampf aller mit allen tobt. Aleppo ist nur 500 Kilometer von Bethlehem entfernt.
Wenn der Name der Stadt Bethlehem darum heute nicht unter die von Gewalt und Hass heimgesuchten Orte und Städte unserer Erde eingereiht werden soll, dann ist etwas anderes von Nöten als religiöser Tourismus. Dann muss etwas her, was die Schatten vertreibt, die heute mehr denn je über dem Geburtsort Jesu liegen. Dann muss, liebe Gemeinde, Prophetie her, Zukunftskunde und nicht Vergangenheitspflege.
Mit Prophetie, mit Zukunftsgewissheit und Hoffnung von weither ist Bethlehem in der Bibel denn in der Tat auch verbunden. Diese Prophetie vertreibt die Schatten, die heute über dieser Stadt liegen und sie umzingeln. Die Juden wissen von ihr, die Muslime auch und die Christenheit erst recht. Denn sie alle kennen ja den Propheten Micha. Er hat sie gelehrt zu verstehen, warum der Gang der Hirten zum Stall von Bethlehem die Schubkraft einer großen Friedensgeschichte Gottes mit uns Menschen im Rücken hat.
Wie Micha darauf gekommen ist, eine der kleinsten unter den Städten in Juda solche Schubkraft weltumspannender Friedensaktivität Gottes für die Zukunft zuzutrauen, wissen wir nicht. Bethlehem spielt im Alten Testament nämlich durchaus nicht die Rolle eines Hauptschauplatzes von Gottes Geschichte mit uns Menschen. Dieses Städtchen hat in der Geschichte Israels eher die Bedeutung kleiner Ausrufezeichen auf dem Wege des Volkes Gottes.
Jakob, einer der Stammväter Israels, hat auf dem Wege nach Bethlehem seine geliebte Frau Rahel begraben müssen. Das Buch Ruth erzählt eine ziemlich spezifische Liebesgeschichte, laut derer sich in Bethlehem eine Moabiterin, also eine Ausländerin, mit Hilfe ihrer Schwiegermutter an Boas heran gemacht hat und ihm den Obed gebar, den Großvater Davids.
Als Geburtsort von David, dem ersten König Israels, hat Bethlehem dann im biblischen Zeugnis von Gottes Geschichte mit uns Menschen jenen bedeutungsvollen Klang gewonnen, in den auch die Weihnachtsgeschichte von Lukas 2 einstimmt. „Da machte sich auf auch Joseph aus Galiläa [...] zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war“. Das klingt ja an sich schon bedeutungsschwanger. Denn hier wird die Erinnerung an eine Hoch-Zeit Israels aufgerufen, in der sich dieses Volk stattlich präsentierte unter den Völkern der Erde. Das hat aber nicht lange gedauert. Die Weltmächte sind über dieses kleine Volk hinweg gefegt und haben es schließlich heimatlos gemacht im eigenen Lande.
Gott hat es „preis gegeben“ in den Machtkämpfen dieser Welt, sagt Micha. Wir dürfen das aber in diesem Falle nicht als Ausdruck der Resignation vor den Muskeln der Stärkeren hören. Michas Prophetie sagt vielmehr: Gott wird Israel, ja alle Menschen bis an die Enden der Erde heraus nehmen aus dem Kampf der Weltmeister im Totschlagen. Womit die Weltmacht der Assyrer überhaupt nicht rechnet, wird geschehen. Sie wird am kleinsten der Orte in dem von ihnen besetzten Lande ausgehöhlt werden. Ein Mensch des Friedens wird hier geboren werden, der gewaltlos herrscht. Und diese Herrschaft wird die Herzen inspirierend um sich greifen, so dass Menschen beginnen, endlich so zu leben, wie Gott uns gemeint hat, als er uns schuf.
So jedenfalls deute ich die einigermaßen rätselhafte Aussage im Vers 1 unseres prophetischen Textes. Niemand weiß genau, was Micha vorschwebte, als er vom Anfänger und Herrscher des Friedens auf unserer Erde gesagt hat: Seine Ursprünge liegen in der Vorzeit. Auch Luther hat das nicht richtig verstanden, als er übersetzte, der „Ausgang“ dieses Friedens-Herrschers sei „von Ewigkeit“ her gewesen. Näher liegend als diese Übersetzung, die auch wieder in die gerade revidierte Lutherbibel aufgenommen wurde, ist vielmehr eine andere. Nach der hat Micha die Zeit, aus der der Friedensherrscher stammt, als Zeit der Erschaffung von uns Menschen vor Augen. Sie liegt in der Vorstellungswelt der Bibel ja in einer mythischen Vorzeit. Es ist die Zeit vor dem Sturz der Menschheit in die Gottlosigkeit und in die Menschenfeindschaft, welcher ihre reale Geschichte bestimmt.
Doch jene Paradieseszeit ist in Michas Augen keineswegs passe. Sie bleibt die Zukunft aller Menschen, weil Gott seine Geschöpfe nicht aufgibt, weil er aus diesem Grunde einen neuen Anfang mit ihnen machen wird. Dieser Anfang aber kann nicht in den Wegen liegen, welche die Menschheit in den Spuren Adams und Evas gegangen ist, die sein wollten, wie Gott. Es kann nur ein Anfang sein, der wie unsere Erschaffung ein reines Geschenk ist. Er wird mit einer Geburt gemacht werden.
Hier liegt die Wurzel der so besonderen Hoffung Israels auf den Messias, auf den König des Friedens, der alle Gewaltherrschaft auf unserer Erde von innen aushöhlen wird. Nicht ein schönes Ideal, das wir uns ausdenken und dann in den sogenannten „Friedenskampf“ einsteigen, wird die Gewaltspiralen der menschlichen Geschichte durchbrechen. Ein realer Mensch wird es sein, in dem Gott mit uns Menschen einen neuen Anfang macht.
In der Atmosphäre dieser Hoffnung, liebe Gemeinde, konnte die Christenheit die Geburt des Jesuskindes in Bethlehem als die Erfüllung der Prophetie Michas verstehen. Sie hat dabei die konkreten Erwartungen, die dieser Prophet für die politische Geschichte Israels ca 800 Jahre vor der Geburt Jesu hegte, weit hinter sich gelassen. Die Gewissheit aber, dass Gottes Neuanfangen mit uns Menschen so real ist, dass es ein Ortsname es anzuzeigen vermag, ist geblieben.
„Lasst uns nun geh’n nach Bethlehem“ – dieser Entschluss der Hirten auf dem Felde ist seither die Überschrift, die über jedem Weihnachtsfest steht. Sie ruft uns auf, uns vom Anfang eines wahrhaft menschlichen Lebens mitnehmen zu lassen, der in Bethlehem gemacht wurde. Mit der Schubkraft der Verheißung des Alten Testaments und dem Stern, der uns den Weg nach Bethlehem leuchtet, können wir als Menschen des Friedens darum mutig ausschreiten, auch wenn sich Gewichte wie die Bluttat vom Breitscheidplatz an unsere Füße hängen.
Denn diese Gewichte, die uns ins Dunkel menschlicher Untaten zerren wollen, haben keine Zukunft. Des sind wir gewiss. Die dunklen Schatten, die sie über Bethlehem und nun auch über unsere Stadt werfen, müssen weichen, weil der Gott des Friedens den längeren Atem hat als seine verblendeten Geschöpfe. Sie weichen schon jetzt, wenn die Weihnachtsbotschaft in unseren Herzen und dann auch in unserem Handeln und Verhalten lebendig ist. Amen.